Sonntag, 27. August 2017
Bagatelle 303 - Beugen und biegen
Jedenfalls für einen Ausländer ist die Biegung oder Konjugation deutscher Zeitwörter manchmal schwierig um nicht zu sagen außerordentlich komplex. (Wie dieser erste Satz.)
Nehmen wir zum Beispiel das Verb kaufen das, wenn ich denn Recht habe, wie folgt gebogen wird: kaufen, kaufte, gekauft. Kein Problem bis soweit. Schwieriger wird es schon bei den starken und sehr starken Verben: laufen, lief, gelaufen; und: treten, trat, getreten.

Fast unmöglich ist die Beugung (Biegung?) trennbare Zeitwörter. Ich komme darauf weil ich in letzter Zeit in den Genuss gekommen bin von einer auf neu-deutsch genannten E-Bike. Ein Fahrrad das mich bei Gegenwind und Schnee ins Gesicht unterstützt und mir das Radeln leicht macht. Jahrelang habe ich mich fahren lassen von einer hybriden Fahrradgattung: eine Mischung aus Touren- und Stadtrad. Leicht, umgänglich, mit 3 Mal 8 Schaltmöglichkeiten. Neulich aber kam ich nach einer Fahrradtour bei schlechtem Wetter gebrochen nach Hause und da lag die Entscheidung für ein mehr oder weniger elektrisch angetriebenes Rad vor der Hand.

Bei einer meiner ersten E-Bike Fahrten befiel mir die Frage nach der Konjugation. Die Biegung radfahren, radfuhren,radgefahren schien mir nicht ganz richtig. Sagt man: ich habe wohl eine Stunde radgefahren? Geradfahrt vielleicht? Oder heißt es: es wird dringend empfohlen täglich mindestens eine Stunde Rad zu fahren? Oder hilft man sich wenn man sagt: mindestens 20 KM hab’ ich heute geradelt?

In meiner Hochdeutschen Sprachlehre (Spruyt, 1961, 18. Auflage) fand ich noch einige interessante Beispiele wie man offenbar starke deutsche Zeitwörter zu beugen hat:

Infinitiv Imperfekt Konjunktiv Part. Perfekt

backen buk büke gebacken
bersten barst börste geborsten
dringen drang dränge gedrungen
leiden litt litte gelitten
fließen floß flösse geflossen
usw usw usw usw

Man möge sich vorstellen wie viel Zeit es mir gekostet hat um dies alles und noch vieles mehr früher mal auswendig lernen zu müssen. Zeit genug um viele Radtouren zu machen.

Manchmal sieht man während einer Radtour interessante Mitbürger wie sie sich gerne fotografieren lassen, sowie hier in Rees am Rhein.


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Sonntag, 23. Juli 2017
Bagatelle 302 - Handtuchhalter
Um 1550 war Arnt von Tricht (seine Ahnen stammten höchstwahrscheinlich aus Utrecht) einer von vielen Holzschnitzlern die sich am Niederrhein, so zwischen Nimwegen und Köln, über Kleve und Xanten, niedergelassen hatten. Unser Arnt hatte seine Ateliers in Kleve und Kalkar, wo er sich mit seinen Lehrlingen bemühte Kirchen mit ihren Holzschnittarbeiten zu verschönern. Was ihm wundervoll glückte, was wir heute noch staunend bejahen, wenn wir eines seiner Hochaltäre oder ein Heiligenbild aus feinem Eichenholz sehen.

Nun kann der Bogen nicht immer gespannt bleiben. So dachte der Arnt eines Tages. "Heute," sprach er zu sich selber, "heute wird etwas Profanes statt Sakrales hergestellt." Und machte sich an die Arbeit.

Eben heute dann sehen wir das Endprodukt vor unseren Augen. Es ist ein Handtuchhalter. Ein Stock sozusagen, den uns ein freundliches Dienstmädchen gerade vorhält. Just an diesem Moment kommt ihr Freier in die Küche geschlichen um sie gründlich zu verwöhnen. Zögernd wehrt das Mädchen ihn ab, aber wir sehen sofort, dass sie das nicht wirklich meint. Wie herrlich hat unser Holzschnittmeister diesen Augenblick eingefangen!

Wenn Sie mich fragen: ein Meisterwerk. Wir können es in einem Klever Museum bewundern. Es ist von hinten flach, so dass man es an der Wand aufhängen kann. Von vorne aber, wie es sich gehört, wohlgeformt und rundig. Nach so viel hundert Jahren immer noch viel zu schade um ein nasses Handtuch darauf zum trocknen aufzuhängen. Finde ich.



Nachgedanke: Achten Sie bitte auch auf die kleinen Musikanten welche den überwältigenden Eindruck mit ihrer Musik noch verstärken!




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Mittwoch, 14. Juni 2017
Bagatelle 301 - Mantelpott
Früher konnte man bei jedem Bauernhof in unserer Gegend einem Mantelpott begegnen. Das war ein großer, rundförmiger, gusseiserner Topf, etwa 50 Zentimeter tief und durchmesserlich um die 70 Zentimeter. Mit oben zwei Rundungen zum Anfassen. Zu dem Topf gehörte ein passender kleiner Holzofen mit einem Loch an der Oberseite worin der Topf haargenau passte. Diese Oberseite fungierte gleichsam als wärmende Umhüllung, als Mantel. Daher der Name: Mantelpott. Im Topf (‘Pott’ sagen wir mundartlich) wurde Wasser gekocht. Heißes Wasser zum Waschen schmutziger Arbeitskleidung; heißes Wasser zum Kochen von Schweinefutter (Kartoffelbrei); heißes Wasser das beim Schlachtfest in November benutzt wurde um die herrliche, selbstgemachte Blut- und Leberwurst zu kochen.

Nachdem die Mantelpottsfunktionen durch modernere Varianten ersetzt wurden, stand der Mantelpott (Ofen plus Topf) ungebraucht dar. Meistens verfielen sie allmählich den Göttern des rostigen Verfalls. Manchmal wurden sie für einen Apfel und ein Ei als Alteisen verkauft. Bei mir auf dem Hof bekam der Mantelpott einen Platz neben der kleinen Handpumpe im Baumgarten. Übrigens sollte man beim Transport zuerst das Wasser ablassen, denn auch im leeren Zustand ist der Pott unheimlich schwer.

Neulich, während einer Fahrradtour, entdeckte ich eine schöne und schönbedachte Neuverwendung eines Manteltopfes. Ich traf ihn in einer evangelischen Dorfkirche an einem Ort einige Kilometer über die Grenze, irgendwo in Westfalen also. Dort hatte man einen Mantelpott in ein richtiges Taufbecken umgetauft. Von einer örtlichen Künstlerin schön farbig verziert und bereichert mit einem neuen Untergestell.

Ich zeige Ihnen hier unten beide Mantelpötte. Den bei mir zu Hause und den in der Kirche. Das bei dem in der Kirche sich sogar der Martin Luther über diese Verwandlung wundert, ist deutlich zu sehen. (In diesem Lutherjahr haben die Jugendlichen in der Gemeinde sein Bildnis gemalt.) Aber sicherlich hätte er sich gefreut.








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Samstag, 27. Mai 2017
Bagatelle 300 - Gitterfenster
Das Haus das ich bis vor kurzem bewohnte, einen Bauernhof aus 1896, kennt einige ungewöhnlich merkwürdige Zimmer. Zum Beispiel die Alkovenkammer, ein wie ein Herz mitten im Haus gelegenes Schlafzimmer wo kein Außenlicht ans Tageslicht kommt, ein Raum worin der Großvater meiner Frau noch übernachtet hat.

Was Sie hier unten sehen, ist auch etwas Besonderes. Dies hier ist ein Kämmerlein mit einem kleinen von Gittern versehenen Fenster. Sonst ist es leer. Schön sauber zwar, vorzüglich angestrichen. Die Kammer hat eine Länge von zwei Meter dreißig und ist eins-vierzig breit. (Extra für Sie nachgemessen.) Ein Stück Bodenbedeckung, das irgendwo anders überflüssig wurde, ist das einzige Zeichen von Komfort.



Wie gesagt, das Zimmer ist leer. Was Sie dort beim Fenster an der Wand hängen sehen, ist der Gasmesser. Dies hätte natürlich eine Art Klosterzelle sein können, ein Ort wo der Herr Terra seine Meditationsstunden verbringt. Da liegen Sie aber falsch, denn der Terra, obwohl er dann und wann nachdenkt, hat überhaupt keine Zeit, Lust und Muße um zu meditieren.
Auch sehe ich nirgendswo eine Heizungsplatte oder einen Ofen. Wie soll das gehen, im Winter, wenn der schneidende Ostwind durch die Gegend (und bei uns auch durchs Haus) fegt? Am meisten verwirrend ist die Anwesenheit der Gitterstäbe vor dem Fenster. Hatten Sie in ihrem Haus je eine leere Kammer mit einem von einem Gitterzaun versehenen Fenster? Ist es dann doch eine Zelle, aber dann ein Ort wo man unartige und ungezogene Kinder oder böse Ein- und Verbrecher einsperrt?
Wissen Sie übrigens wie so eine Zelle in unserer Dialektsprache genannt wird: wir nennen es eine Kaste. Das ist nicht ein Schrank zum Aufbewahren nutzloser Gegenstände. Es sind auch nicht die untouchables in Indien, es ist in unserer Umgangssprache ein Ort wo verhaftete Übeltäter über ihre Sünden nachdenken.

Es wird Zeit das Geheimnis zu offenbaren. Die Kammer ist kein Raum für Kontemplation, weder für Verbrecherreue. Es ist eine Speisekammer. Nahrungsmittel und Sachen zur Nahrungsbereitung werden hier liebevoll gelagert und aufbewahrt. Nicht für ungefähr liegt die Kammer an der nordöstlichen Seite des Hauses, dort wo es Sommer und Winter am kältesten ist. So dass die Milch nicht sauer wird. Als das Haut gebaut wurde hatte man keine Ahnung von Tiefkühltruhen und Gefrierfächer. Obendrein fehlte das Geld dazu.

Bleibt die Frage nach den Gitterstäben. Eine kleine Kammer zum Aufbewahren von Nahrung: das verstehen wir. Aber wozu dient dieses Gitter? Oder fürchtet man vielleicht die Nachbarskatze die ab und zu nachschaut ob es etwas Leckeres zu holen gibt? Oder ein anderes Raubtier, wie der gefächerte ostniederländische Tiger. Der ist jetzt zwar ausgestorben, aber in 1896 beim Bau des Hauses gab es ihn noch in großer Zahl.





Epilog

Während ich dies schreibe, hat sich die kleine Vorratskammer wieder gefüllt. Nahrungsmittel, gefüllte Gläser, Töpfen und Pfannen lagern auf Gerüsten und Brettern. In nicht allzu langer Zeit ist unser Keller wieder voll. Proppenvoll.

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Donnerstag, 18. Mai 2017
Bagatelle 299 - Deutschprüfung
Bei uns in den Niederlanden bemühen sich dieser Tage, so von Mitte Mai bis Mitte Juni, tausende Schüler aus der Sekundarstufe die Abschlussprüfung so gut wie es nur kann zu bestehen. Wie Sie sagen: es sind spannende Zeiten.

Gestern war das Fach Deutsch an der Reihe. Ich kann Ihnen nicht das gesamte Examen zeigen, aber vielleicht hilft ein Beispiel, eine Kostprobe. Ein Deutschexamen für das höchste Niveau der Hauptschule (bei uns VMBO-T).
Die Schüler bekommen eine Anzahl Texte (in deutscher Sprache selbstverständlich) welche über verschiedene Themas handeln. Man kann davon ausgehen, dass die Texte allesamt interessant genug sind für die Zielgruppe; das ist vorher genügend recherchiert.
Über jeden Text werden Fragen gestellt, und zwar multiple-choice. Die Schüler lesen den Text und wählen die, nach ihrem Leseverständnis gemessen, beste Antwort. Die Schüler dürfen, wenn sie wollen, ihr Wörterbuch benutzen um z.B. einige ihnen unbekannte Begriffe zu klären.

Lesen Sie bitte das Beispiel hier unten. Der Text handelt über neue Formen des Unternehmens. Zu meinem und Ihrem Vergnügen lass ich beiseite was wohl die gute, richtige und zwar beste Antwortalternative ist. (Die gebe ich Ihnen in zwei Wochen.)

Einige Anmerkungen.
Nachher wurde wieder einmal deutlich, dass nicht der Inhalt der Texte und Fragen, sondern die Vielheit der Aufgaben das größte Problem war. Da waren sich die Dozenten und Schüler einig. Davon kann ich nur sagen: das vernünftig umgehen mit einer Zahl Texte innerhalb einer bestimmten Zeit kann man vorher üben. Woher dann jedes Jahr wieder der Ärger über die Anzahl und Länge der Texte?
Die Bemerkung, dass diese Art zu prüfen eher das Leseverständnispotential misst als die Deutschkenntnisse-an-sich, trifft zu. Aber das ist bei diesen schriftlichen Prüfungen, auch bei anderen Fächern, immer der Fall. Im Allgemeinen hat sich diese Prüfungsmethode (Texte + multiple-choice Fragen) als gut, ehrlich, praktisch und ziemlich valide bewiesen.
Wie (schwierig) fanden Dozenten und Schüler diesmal die Prüfung? Auf einer Skala von A (leicht), B (mwah), C (schwierig) und D (unmöglich) lag der Mittelwert etwa bei B (mwah = geht schon).
Man sollte auch noch bedenken, dass das Deutschexamen dieses Jahr an einem Tag fiel, als das Thermometer Mittags die 30 Grad erreichte. Ein tropischer Tag Mitte Mai!



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Samstag, 13. Mai 2017
Bagatelle 298 - Jugendliches Geleit
Dann und wann besuchen unser König Willem-Alexander und seine Gemahlin, die Königin Maxima, das niederländische Parlament, zum Beispiel bei der Eröffnung der neuen Session nach den Sommerferien. Das geschieht feierlich, immer am dritten Diensttag im September, dem sogenannten ꞌPrinjesdagꞌ, in einer Sitzung des Ersten und Zweiten Kammers. Ort der Versammlung ist der Rittersaal, ein uraltes Gebäude in Den Haag.

Nun kommt die königliche Gesellschaft nicht wie wir: auf dem Fahrrad, das wir rechts gegen die Mauer parken bevor wir den Befehlen der zuständigen Platzanweiser folgen. Nein, König samt Königin kommen in einer Goldenen Kutsche, von acht Pferden gezogen, mit vorne und hinten etliche Kutscher und Mitläufer. Wenn das königliche Paar sich aufmacht den Rittersaal zu betreten, kommt eine Geleitskommission, bestehend aus ausgewählten Parlamentarier, herangelaufen welche die teuren Gäste, wie es sich gehört, nach drinnen begleitet. Es ist nicht so dass König und Gemahlin alleine den Weg nicht wüssten. Es ist eine Sache von besonderer und passender Höflichkeit.

Vorige Woche war ich nach vielen Jahren der Abstinenz wieder einmal auf dem hiesigen Fußballfeld zu finden. Nicht um selber gegen den Ball zu treten, sondern um mich an das himmlische Spiel unserer Mannschaft zu erfreuen. Was mich am meisten freute war die Tatsache, dass beide Mannschaften bei ihrem Erscheinen aufs Feld (Kunstrasen!) wie WA und Maxima von einem richtigen Geleit begleitet wurde. Wie herrlich sah das aus: die erwachsenen Spieler mit an der Hand Spieler und Spielerinnen aus den Jugendmannschaften. Von denen einige noch rechtzeitig ihrer Mutter auf der Tribüne zuwinkten. Wie das Spiel nachher aus ausgehen werde: nach solch einem Aufzugsanfang kann nichts mehr schief gehen. Oder?





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Mittwoch, 12. April 2017
Bagatelle 297 - Ostern 2017
Mit diesen zwei Aufnahmen von einer Blaumeise die ein wunderschön bemaltes Osterei bestaunt,
und ein zwischen Palmsonntag und Ostersonntag passendes altes bocholt/westfälisches Lied, wobei Sie ꞌPaosenꞌ durch ꞌOsternꞌ ersetzen können, wünsche ich Ihnen allen frohe Ostern!


Palm-, Palmsunntag,
öwwer eenen Sunntag,
dann kriege wi-j ein Ei,
dann kriege wi-j ein Ei,
dann kriege wi-j ein lecker Paos-Ei.

Ein Ei, das ist kein Ei,
twee Ei ist ein halbes Ei,
dri-j Ei ist ein Paosei!






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Mittwoch, 5. April 2017
Bagatelle 296 - Frühstücksflocken


Wenn Sie ein herzhaftes, gesundes Frühstück lieben, kennen Sie vielleicht diesen lieben Herrn, dessen Bildnis sich auf der Verpackung befindet. Es ist ein amerikanischer Quaker (sprich: Kweker). Seine Vorfahren segelten vor dreihundert Jahren von England aus in die Neue Welt. Angekommen in die damals noch nicht Vereinigten Staaten, ließen sie sich in Pittsburgh (Pennsylvania) nieder, wo sie den Anbau von Getreide anfingen um daraus ihre berühmten Haferflocken zu bereiten. Dieselbe Flocken welche wir heutzutage benutzen damit wir unseren Gästen ein gesundes Haferflockenbreifrühstück offerieren können.

Nebenbei sei gesagt, dass die Quäker meine Sympathie tragen. Erstens weil sie eine anti-trump-artige, friedfertige, fromme, keusche und hilfsbereite Sekte bilden die vieles für ihre Mitbürger, denen es nicht so gut geht, tut. Und zweitens weil sie den Aufforderungen der weltlichen Obrigkeit mit Argwohn begegnen und notfalls ihren eigenen Gang gehen. Ein richtiger Quäker, so scheint mir, kann noch keine Fliege etwas antun, so sieht’s aus.

Anfangs bereiteten die Kwekers ihre Flocken ausschließlich aus Hafer. Neuerdings aber verwenden sie nicht weniger als vier Getreidesorten in ihren serials und zwar: Weizen, Mais, Reis und Hafer. Dazu kommen Zutaten wie Honig, Glucose, Salz, Vanille-Aroma und einige andere Sachen mit unaussprechbaren Namen. Auch Fetten kann man begegnen, sei es in sehr kleinen Mengen. Das Resultat ist, wie die Quaker es gerne zugeben, eine gesunde, köstliche, nahr- und schmackhafte Frühstücksmahlzeit.
(Frau Klothilde Nebenbuhler, laut Einsendebrief in der Raunener Rundschau, behauptet zwar, dass sie nach dem Essen einer Portion Quäker Viergetreideflockenbrei zahllose Kalorien hin und her laufend auf ihrem Tellerrand gesehen haben will. Das nun scheint mir schwer übertrieben.)




Jetzt etwas ganz anderes. Zweifellos wissen Sie, dass die westliche Menschheit zunehmend an Übergewicht leidet. Obesitas ist fast Volkskrankheit Nummer Eins. Wir essen zu viel und bewegen zu wenig. Und da kommt nun der Professor Franz Quadfliegs von der Uni aus Raunen an der Luhre und erklärt vehement als sei die Quaker-Company in Pittsburgh (PA) schuld an der zugenommenen Schwereleibigkeit. Wörtlich: ꞌWir verklagen die Quaker, weil sie ihren Viergetreideflockenbrei zu schmackhaft gemacht haben." In seinen Schriften beklagt er die Tatsache, dass das neue Frühstücksmahl so lecker ist, dass wir viel, viel zu viel, davon verzehren. Er geht soweit, dass er die Quakers gerichtlich aufgefordert hat die Produktion der Viergetreidesortenflocken zu drosseln und allmählich völlig zu unterbinden.

So beißt die Schlange im eigenen Schwanz. Wollten die Quaker uns einen Gefallen tun, indem sie unsere Flocken unweigerlich schmackhaft machen, kommt der Gesetzgeber und verbietet es ihnen. Die umgekehrte Welt, möchte ich meinen. Oder?

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Samstag, 18. März 2017
Bagatelle 295 - Tierwahl
Bei uns wurde diese Woche mal wieder gewählt. Die Wahl einer neuen Zweiten Kammer stand an. Nicht so wie bei Ihnen, wo sich zwei, höchstens vier oder fünf Parteien um die Gunst der Wähler streiten. Nein, bei uns waren es sage und schreibe achtundzwanzig (in Chiffren 28) Parteien mit runde tausend (sage 1000) Kandidaten. Das hat man davon wenn es keine 5%-Hürde gibt und jeder eine Partei gründen kann um einen oder mehrere Sitze aus dem 150 Sitzen zählenden Angebot einzunehmen.

Wie üblich begab ich mich am Morgen nach der Wahl zu meinem vorherigen Wohnsitz, zum alten Bauernhof, um mich mit den dort verbleibenden Tieren über den Wahlausgang zu unterhalten. Vor allem meine Pfauen, voran der alte Jeroen, beteiligten sich vehement an der Diskussion.

Einig waren wir uns über die Tatsache dass die Holländer gut gewählt hatten, indem sie dem Geert (Wilders meine ich) nicht so viele Stimmen gegeben hatten dass er sagen könnte: ich bin der größte. Nein, Populisten haben hier offenbar nichts zu suchen, das fand der Jeroen auch so.
Dass der rechts-liberale Mark Rutte (sprich: eine Mischung zwischen Rötte und Rütte) auch der nächste Prime-Minister sein wird, war unseres Erachtens unvermeidlich und fast selbstverständlich. Dass aber die niederländische Arbeiterpartei PvdA (sozusagen die holländische SPD) von 38 auf 9 Sitze zurückfiel hätte kein Wahrsager, sogar Jeroen nicht, ahnen können. "Das hat man davon," sagte Jeroen klug, "wenn man die Stammwähler vernachlässigt und liberalen Ideen nachläuft."

Eine der 28 Parteien nennt sich Partij voor de Dieren (Partei für die Tiere). Unglaublich, aber wahr. Es gibt sie tatsächlich: eine Partei für die Tiere. Jedenfalls bei uns. Bis diese Woche hatte die Partei zwei Sitze im Parlament. (Unter uns: die Abgeordneten der Partei für die Tiere, zwei talentierte Frauen, taten ihren Job ausgezeichnet.)
Ich frage Jeroen was er von dem guten Abschneiden der Partij voor de Dieren halte. (Die Partei kam von zwei auf fünf Sitzen.) Das hätte ich besser nicht fragen können. Jeroen verfiel fast in Rage als er antwortete: "Die Partei für die Tiere? Lächerlich so etwas. Weil sie uns, die wirklich Sachverständigen, nicht um Rat bitten. Wenn es zum Beispiel über das Tierwohlsein handelt: (jetzt mit fast überschlagender Stimme)

UNS WIRD NIEMALS ETWAS GEFRAGT!

Und das nennt sich eine Partei für die Tiere!"
Um seiner Überzeugung Kraft beizusetzen spreizte er seinen unglaublich schönen Schweif in die Höhe.

"Beruhige dich mal," sagte ich, "die nächste Wahl kommt bestimmt. Zum Beispiel die Gemeinderatswahl im kommenden Herbst. Du könntest es dann noch einmal versuchen."







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Montag, 20. Februar 2017
Bagatelle 294 - Wappentiere und anderes Getue
Dann und wann entbrennt hierzulande ein Streit über unsrige Nationalhymne, das niederländische Volkslied. Mit Namen: het Wilhelmus. Uralt, entstanden um 1580. Das hat man davon wenn ein Dichter namens Marnix van Sint Aldegonde sich aufmacht ein Loblied zu schreiben in 15 Versen auf Willem von Nassau, genauso viele Verse wie sein Name an Buchstaben zählt. Sie wissen: dieser Willem war derjenige Fürstenprinz von der Dillenburg der die Holländer vom spanischen Joch befreit hat, damals im 80-jährigen Krieg. (Entschuldigung für diese schlecht komponierten und unnötig komplizierten drei Anfangssätze, aber sie standen schon aufs Papier bevor ich es bemerkt hatte.)

Die Nationalhymnegegner beklagen vor allem die Referenz an die deutsche Abstammung des Prinzen von Oranien. Wenn im ersten Vers gesungen wird: " .. bin ich von deutschem Blut …" scheiden sich die Geister. Ein Viertel der Bevölkerung möchte aus historischen Gründen die Verweisung auf die deutsche Herkunft des Prinzen stehen lassen, ein Viertel ist vehement dagegen und wünscht sich eine andere, sprich modernere, Hymne und der Rest ist schweigend. (Entweder sie wissen nicht was sie singen oder es lässt ihnen kalt.) Ich gehöre zum größten Teil der ersten Gruppe an, aber mehr aus praktischen als aus ideologisch geprägten prinzipiellen Gründen. (Gerade für uns Senioren ist es nicht leicht sich eine neue Nationalhymne zu merken, zumal wir alle mindestens zwei Verse aus der alten Hymne auswendig mitsingen können.)

Eigentlich wollte ich mit Ihnen nicht über de Nationalhymne sondern über ein anderes Nationalsymbol sprechen. Nein, nicht die Fahne (Rot, Weiß und Blau), ist gemeint und auch nicht die Nationalfarbe oranje. Wenn sich überhaupt einem Nationalsymbol kritischen Äußerungen gefallen lassen muss, ist es der niederländische Löwe. Wenn Sie mich fragen: ein ekelhaftes Tier. Dieser von der Gicht geplagte Vierfüßler mit hölzernem Säbelchen und nur sieben stumpfhaften Pfeilen. Seht wie er sich stellt in seiner unnachahmlicher Pose – en profil – mit der Zunge aus dem Maul und dem Schwanz für einen Moment nicht zwischen sondern oberhalb der gekrümmten Hinterbeine. Ein Tier das sich stützt auf eine französische Unterschrift. Und das will unser nationales Wappentier sein!

Aber es kann noch schlimmer kommen. Einige Länder nah und fern kennen statt Löwe den Adler als nationales Wappentier. Was ist zum Beispiel Polen ohne rotweiß-Adler? Habsburg und die Donaumonarchie hatten sogar einen Doppeladler. Zwei Köpfe: einer blickt links Richtung SPD und Linke, der andere schielt CDU/CSU-rechtsrheinisch. Dann doch lieber ein bescheidener Vogel. Warum nicht der Zaunkönig als Wappentier?

Am besten wäre es vielleicht alles, ich wiederhole: álles Nationalgetue in die Alte Pinakothek zu verbannen. Keine heraldische Wappentiere mehr, keine schwingende Fahnen, kein scheinheiliger Löwe. Nur éin Zeichen wollen wir uns gönnen: eine kleine Schleife in der Farbe oranje am Kragen, die getragen wird wenn der König Geburtstag feiert. (Neben allen nicht-karnevalesken Orden.) Und die alte Nationalhymne wollen wir auch beibehalten. Wir werden sie künftig sanft, leise und schön mitsummen.





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Mittwoch, 1. Februar 2017
Bagatelle 293 - Alptraum an der Grenze
Einmal nach Wesel fahren: das habe ich seit Lebens immer gewollt. Sie wissen: Wesel am Rhein, am Niederrhein. Das ist von uns aus gesehen nicht sehr weit. Mit dem Fahrrad, zuerst die Bundesgrenze überquerend, dann über Rees den Rhein entlang weiter stromaufwärts, es dauert höchstens eine Stunde.

Sie hätten mich fragen können was ich überhaupt in Wesel zu suchen hatte. Dann hätte ich geantwortet: "Mal schauen ob der König von Wesel wirklich ein Esel ist, was immer wieder behauptet wird. Das liebe Fräulein im Kindergarten sagte es schon. Und dasselbe tat der Echobrunnen in der Nähe von Apeldoorn, wo wir mit dem Schulausflug oftmals landeten. Doch, wenn man - sich beugend über das Wasser des Brunnens - laut rief: "Was ist der König von Wesel?", dann hörte man laut und deutlich die Antwort: "Esel …, Esel …"

Heute morgen war es dann so weit. Ich hatte meinen alten Rucksack vollgepackt mit allerhand Esswaren, worunter Brötchen mit Käse und welche mit Schinken.
Sieben Uhr dreißig war es als ich mich auf den Weg machte und zehn Minuten später erreichte ich schon die Grenze. Und da fing das Missgeschick richtig an.

Was war der Fall? Deutsche Grenzkontrolleure, Douaniers genannt, hatten den Schlagbaum – der immer als Andenken in der Wiese herum stand – mitten auf den Weg gestellt.
Auf meine berechtigte Frage: "Kann jemand mir sagen was das zu bedeuten hat?" sprach ein schwer gewappneter Douanier: "Seit Donald J. Trump in den Vereinigten Staaten das Sagen hat, ist es auch hier bei uns nicht sicher. Deshalb ist die Grenze von heute an geschlossen für alle Reisende."
"Aber ich habe einen Reisepass, seht nur!" erwiderte ich. (Mir wurde allmählich ziemlich unheimlich. Sie wissen wie das geht: von den kleinen Zehen aus nach oben kriecht die Wut empor bis in die Haarspitzen.)
"Nein, du darfst nicht rein. Davon kann überhaupt keine Rede sein. Außerdem ist das Gültigkeitsdatum deines Reisepasses schon längst überschritten."

Da wurde ich so wütend, dass ich meinen Verstand verlor. Obwohl man mich kennt als ein sanfter, liebenswerter Mensch der keine Fliege etwas antut, geriet ich in solcher Rase dass ich den Douanier einen Schlag verpasste der ihn rücklings in den dort fließenden Strom landen ließ. Mit der Folge dass sich nun alle anwesende Douaniers auf mich stürzten. Undank meines tapferen Widerstandes wurde ich an Händen und Füßen gefesselt und in das nächstgelegene Wirtshaus gebracht, wo ich hinter Schloss und Riegel kam.

Just an dém Augenblick wurde ich wach wegen der Glocke der Dorfkirche die aus aller Macht zu lauten anfing. (Ob es die morgendliche Achtuhrglocke war oder die abendliche Neunuhrglocke vermag ich nicht zu sagen.) Triefnass vom Angstschweiß bemerkte ich, dass ich alles nur geträumt hatte. Es war ein Alptraum gewesen. Den Krach konnte man bis in Wesel hören.


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Mittwoch, 25. Januar 2017
Bagatelle 292 - Spione und Schubser
Nachdem er uns mit dem geheimen Leben der Bäume bekannt gemacht hat, versucht der Autor Peter Wohlleben – übrigens ein schöner Name für jemand der sich als Oberförster täglich im deutschen Wald aufhalten darf – seine Leser jetzt auf Niederländisch davon zu überzeugen wie tiefgrabend und tiefgreifend das Seelenleben der Tiere ist. Sein neuestes Buch heißt bei uns: Het innerlijke leven van dieren. Und in der ARD-sendung Hart oder/und Fair versuchte er neulich gegen den Willen der anwesenden Forstwildschafter Werbung für den Naturwald zu machen. Aber das nur beiseite.




Endlich einer der sagt was ich schon seit Ewigkeit behaupte: Bäume die reden, Gewächse welche Gefühle zeigen, Tiere mit Emotionen, kluge Insekten die in ihrem Verhalten Formen von Intelligenz zeigen. Ein schönes Beispiel, das beschreibt wie intelligent einige Insektenarten sind, möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Sie bekommen die Geschichte aus erster Hand: selber erlebt und ungeschönt weiter erzählt.

Es war um die Jahrhundertwende. Mit einigen Kollegen war ich berufshalber wieder einmal in Süd-Afrika. An einem Wochenende machten wir einen Ausstecher in den Paul Krüger Wildpark. Weil einige vor uns behaupteten, dass die wilden Tiere, die famosen Großen Fünf, sich in der Dämmerung am besten beobachten ließen, machten wir auf einem offenen Lastwagen eine Abend/Nachttour durch die Gegend. Geführt von einem jungen Naturforscher der die Kunst des Schweigens verstand und uns lehrte seinem Vorbild zu folgen.

Es war als hätten die Tiere unter sich verabredet sich an diesem Abend nicht zu zeigen. Kein Zebra oder Springbok ließ sich sehen. (Was mich übrigens gar nicht störte: ich genoss vollends der abendlichen Stille und bewunderte den unglaublich schönen Sternenhimmel.)
Auf einmal hielt der Lastwagen an und der Führer bat uns lautlos auszusteigen. Da sahen wir im Scheinwerferlicht des Wagens auf dem Landweg etwas außerordentliches.

Ein Ameisenvolk machte sich auf den Weg zu überqueren. Seht ihr, sagte der Führer leise, was sie machen! Sie schicken einige größere Ameisen voraus welche die Strecke freimachen und die beurteilen ob die Überquerung ohne Schwierigkeiten vonstattengehen kann. Wie Spione!
Offenbar fanden die Spione die Lichter des Lastwagens kein Grund von ihrem Plan abzuweichen. Das Volk – hinter einander, ruhig und dennoch zügig – überquerte den Weg. Aber am Ende der Zuges gab es offenbar, wie bei Menschen, Trödler und Zauderer. Ameisen die still standen und sich immer wieder umsahen und sich wunderten wie schön die Welt doch ist. Auch hier haben die Ameisen eine Antwort, sagte der Führer, seht nur! Einige Ameisen fungieren als Anschieber. Schubser sozusagen. Indem sie stechen fordern sie zaudernde Ameisen dringend auf sich weiter zu bewegen. Sie sorgen dafür dass der Weg frei wird; sie erreichen als letzte die Überseite.

Wir die wir es mit eigenen Augen sahen, staunten nicht schlecht. Und das alles ohne Lärm oder Befehl! Davon kann die Menschheit noch vieles lernen, so dachten wir. Und der Herr Wohlleben wird das sicherlich bejahen.


Nachschrift: Die Ameisen hierunter stammen von Maurits Escher


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Mittwoch, 11. Januar 2017
Bagatelle 291 - Teuflischer Kleiderhänger
Da war noch die Geschichte mit dem antiken Kleiderhänger, die ich mir vorgenommen hatte Ihnen zu erzählen, was ich fast vergessen hatte.

Es begann alles mit meinem vor einigen Jahren verstorbenen Bruder der oftmals Antikauktionen besuchte um sich dort allerhand Kram und sonstiges zu kaufen. Eines Tages kam er nach Hause mit einem, wie er sagte, schwer antiken Kleiderhänger. Ein schlichtes Brett aus feinstem Eichenholz sei es, verziert linksoben respektive rechtsoben mit einem Männer- bzw. Frauenkopf. Mittendrin irgendwo vier Kleiderhaken: Kupferstreifen die sich aus teuflischen Köpfen niederwärts krümmten damit Kleidungsstücke fein säuberlich aufgehängt werden konnten. Kleine Teufelchen waren es welche man oft sieht bei Kathedralen und derartigen antiken Bauwerken. Dort fungieren sie als Wasserspeier, hier als Kleiderhänger. Schade nur dass man kaum eine Binde geschweige denn einen Mantel aufhängen konnte wegen zu kleiner Kupferhaken. Ums andere Mal fielen Kleiderstücke auf den Boden, was wahrscheinlich nicht Sinn der Sache sein kann.



Nach dem Ableben meines Bruders sind einige Antiksachen worunter der Kleiderhänger in die Wohnung meiner Schwester gelandet. Der Kleiderhänger wurde in die Garage verbannt, weil für ihn kein Platz in der Herberge war. Bis meine Schwester mich mal frage: "Willst du ihn nicht mitnehmen? Bei dir im neuen Haus hat er Raum und Ansehen." Da ich nicht nein sagen kann, brachte ich den antiken Kleiderhänger in die neue Bude und bat ihn im Korridor hängen zu wollen.
Bei einer etwas genaueren Inspektion kam ich aber zu der Einsicht, dass der Hänger mit unübersehbaren Mängel behaftet war. So stellte sich heraus dass das Angesicht der Frau als auch des Mannes beschädigt war, was jedoch ihr schmerzliches Lächeln erklärte. Obendrein musste ich vorher das Problem der zu kurzen Kupferhaken lösen. Das tat ich, erfinderisch wie ich bin, indem ich von einem alten Kleiderhänger, den ich aus meinem Bauernhof mitumgesiedelt hatte, die großen, verchromten Haken entfernte um ihnen dann einen neuen Platz neben und zwischen den vier Teufelchen zu besorgen.

So gesagt, so getan. "Eine Schande!" sagte meine innerliche Stimme, "du hast ein köstliches Stück Antik völlig verwüstet und einem schönen Kleiderhänger von seiner antiken Ausstrahlung beraubt!"
"Unsinn," sagte meine realpolitische, utilitäre Einsicht, "was taugt ein Kleiderhänger, sei er antik wie er wolle, wenn er nicht imstande ist gleichzeitig drei Wintermäntel zu tragen?"



So kommt es dass ich, jedes Mal wenn ich jetzt den Korridor betrete und mein Antlitz im Spiegel begutachtet habe, freundlich meine vier Teufelchen grüße. Und die scheinen erleichtert zu sein festzustellen, dass sie keine schwere Last mehr zu tragen brauchen. Das sagt mir ihr Lächeln.

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Samstag, 7. Januar 2017
290 - Auswendig
Vielleicht haben Sie, wie ich, sich das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker oder die Neujahrsmusik der Wiener Philharmoniker angehört. Beide Orchester wurden wie immer von Topdirigenten durch die Musik begleitet: in Berlin war es Sir Simon Rattle und in Wien Gustavo Dudamel der speziell aus Kolumbien eingeflogen worden war. Beide Dirigenten dirigierten auswendig.

Zufälligerweise las ich in dieser Übergangszeit zwischen den Jahren das Buch: "Over dirigeren" (Utrecht: Bohn, Scheltema & Holkema, 1983) von Kirill Kondrashin (1914-1981), selbst seit Lebens ein weltweit sehr geachteter Dirigent.
In diesem Buch, das jeder angehender Dirigent auf seinem Nachttisch liegen haben muss, bespricht Kondrashin in einem kleinen Kapitel das Phänomen des auswendig Dirigierens.

Viele Dirigenten lieben das auswendig dirigieren. Zuerst, so behaupten sie, fördert es den Kontakt mit den Musikern sehr, weil man der Partitur keine Aufmerksamkeit widmen braucht. Und, sagen sie, wenn die mitwirkenden Solisten (zB: Trifonov der ohne Partitur Rachmaninoff spielt) meistens eine Partitur auswendig können und ohne die auskommen, warum denn Dirigenten nicht?

Kondrashin ist der Meinung dass eine Partitur immer aufs Dirigentenpult gehört. Und zwar aus psychologischen Gründen. Schon die Anwesenheit einer Partitur gäbe dem Dirigenten als auch dem Orchester mehr kreative Freiheit. Selbstverständlich soll der Dirigent das zu spielende Repertoire faktisch auswendig können. Die Partitur also: nicht die mit den Augen zwingende, auf Note und Maß genauestens zu folgende Anweisung, sondern der ständige, treue Begleiter der anwesend ist wenn sich Probleme (Gedächtnisstörungen usw.) auftun.

Kondrashin sagt es nicht, aber deutet es an. Das auswendig Dirigieren einer schwierigen und komplizierten Komposition wird oft als Zeichen von Können gesehen. Seht nur, der dirigiert die Achte von Bruckner – Dauer anderthalb Stunden - auswendig!
Zu Unrecht, denn es gibt auch Dirigenten die einen Strauß-Walzer, den das Orchester unter ihrer Führung tausend Mal gespielt hat, niemals spielen lassen ohne dass die Partitur (oft nur geschlossen) dabei ist.

Nachrede 1: Dirigenten haben, was die Partitur angeht, zwei Sorten von Gedächtnis: das visuelle (sie sehen quasi die Partitur vor ihren Augen) und das phonologische (sie hören innerlich die Noten wenn sie ohne Orchester die Partitur studieren).
Solisten (der Klaviervirtuose oder die famose Hoboistin) haben noch ein drittes Gedächtnis: das taktile. Ihre Finger kennen und erinnern sich (in Berührung mit Klaviertasten oder Hoboen Klappen) die musikalischen Abläufe.

Nachrede 2: Frage: Welche Philharmoniker sind besser: die Berliner oder die Wiener? Antwort: das Concertgebouworchester.


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