Freitag, 21. Oktober 2011
Bagatelle 129 - Pluralitäten


Heute, sagte der freundliche Lehrer in einer meiner ersten Deutschstunden, heute lernen wir etwas über Einzahl und Mehrzahl. Heute lernen wir auch etwas über deutsche persönliche Fürwörter. Seht euch bitte die folgende Reihe an:

ich fliege
du fliegst
er fliegt
sie fliegt
es fliegt
---------
wir fliegen
ihr fliegt
sie fliegen

Was haben wir heute gelernt? fragte uns der noch immer freundliche Lehrer nach einer dreiviertel Stunde. Nun: es gibt Einzahl (über den Strich) und Mehrzahl (unter dem Strich) und sowohl über als unter dem Strich gibt es jeweils drei Personen: eine erste Person, eine zweite Person und eine dritte Person.
Und dann fingen wir an fröhlich und feste zu üben:
Verb: laufen - erste Person Einzahl: ich laufe
Verb: trinken - zweite Person Mehrzahl: ihr trinkt

Nachher hab' ich viel nachgedacht über die fremden ersten und letzten Sätze des Lehrers: heute lernen wir / heute haben wir gelernt. Wieso 'haben wir'? Der Lehrer hätte doch sagen sollen: heute lernt ihr, und: heute habt ihr etwas gelernt. Wieso denn 'wir'? Der Lehrer selber hat nichts gelernt. Er wußte alles ja schon.

Tatsache ist, daß es viele verschiedene Pluralformen gibt, viele Möglichkeiten um sprachlich zu betonen daß es nicht um Einzelfälle geht, sondern mehrere Personen betrifft, mindestens zwei. Obwohl ich kein Latein kann, kenne ich einige lateinischen Fachausdrücke. (Und wenn sie nicht existieren, erfinde ich sie eben.) Ob sie stimmen, ist eine andere Frage. Man möge mich korrigieren, falls nötig.

Der pluralis realis ist die meist einfache und verständliche Mehrzahlform. Wenn meine geehrte Nachbarin mit ihrer Tochter in die Aldi geht um Einkäufe zu machen, sagt sie: wir fahren heute morgen etwas früher als sonst. Wir verstehen vollkommen was sie meint. Es ist wahr obendrein. Sie geht und ihre Tochter geht auch. Grund genug für den wir-Gebrauch.

Nehmen wir an, daß meine Nachbarin, beruflich gesehen, eine geschätzte Arzthelferin ist. Oder eine Schwester im hiesigen Ortskrankenhaus. Manchmal sagt sie zu einem Patienten: Jetzt wollen wir uns mal auf die andere Seite legen. Und das, wo sie keinen Augenblick daran denkt sich an der Seite des Patienten auf das Krankenhausbett nieder zu lassen. Diese Form, in Krankenhauskreisen oft zu hören, nennen wir den pluralis charitatis. Wenn die Schwester von 'wir' redet, meint sie immer núr die anderen und schließt sich selber total aus.

Unsere Königin Beatrix verwendet in ihren Reden oft den pluralis majestatis. Heute, sagt sie, haben wir ein Gesetz unterzeichnet, daß es dem Landesfürsten verbietet mehr als zwei Mal im einem Gesetzestext das Wort 'wir' zu verwenden. Nur sie, und sie alleine, hat das gesetzliche Vorhaben unterzeichnet. Deshalb ist etwas unwahrhaftiges daran zu sagen daß 'wir' ein Gesetz von einer Signatur versehen haben. Sie hätte sagen können: ich habe soeben ein Gesetzt unterzeichnet. Und damit basta. Ehrlich, aufrichtig, deutlich und frei von etwaigen verschiedenen Interpretationsmöglichkeiten.

Eine Modifizierung des pluralis majestatis ist der pluralis papam. Ausschließlich dem Heiligen Vater vorbehalten. Er darf sagen ohne mißverstanden zu werden: wir haben von der Missetaten erfahren, von denen die Bewohner dieser Gebirgsgegend so tief getroffen sind. Zwar liegt vieles dann noch im Unklaren, aber der Satz ist nicht unbedingt falsch.

Weltverbesserer und andere Freiluftfanatiker verwenden möglichst oft den pluralis pastoralis. Das ist eine Redensart wobei man wie ein Priester, ein Pfarrer oder ein sonstiger Geistlicher mit Nachdruck sich selbst samt allen Zuhörern einschließt. "Wir sind alle Sünder" und "Indem wir zu viel konsumieren vernichten wir die Umwelt." Jawohl, es geht uns alle an und jeder von uns (ich selber nicht ausgenommen; vielleicht ich noch am meisten, sagt der Pastor) sollte sich deswegen schämen. Diese Pluralform hat beides: etwas tröstendes und etwas belehrendes-vorwerfendes.

Manche benutzen mit Vorliebe und Absicht den pluralis modesticus, den Bescheidenheitsplural. Viele, ihr ergebener Bagatellenschreiber sicher nicht ausgeschlossen, hassen es immer wieder das Wort 'ich' in den Mund zu nehmen. Es riecht nach Eigendünk und Egoismus, immer dieses 'ich'. Darum ersetzen wir das 'ich' durch das sanftere 'wir'. Der am Ende schließlich geschriebene Satz lautete: 'Seit langem hatten wir uns vorgenommen die liebe Tante Agatha in Wolfenbüttel zu besuchen.' (Während jeder weiß, daß es besser und richtiger gewesen wäre zu schreiben: Es wurde allmählich wirklich Zeit daß ich die Tante Agatha in W. wieder mal aufsuchte.) Zu Recht oder Unrecht ziehen wir das 'wir' dem 'ich' vor.
Sie haben recht: das 'wir' ist sanfter. Es verbreitet einen angenehmen Hauch von Zusammengehörigkeit.

Schließlich gibt es auch noch den pluralis terracidus. Das ist eine Pluralform welche ohne Erklärung oder Beweisführung auskommen muß. Die Form ist von einem gewissen Terra entwickelt worden. Der versucht hiermit seine groben Unkenntnisse der deutschen und lateinischen Sprache zu verniedlichen. Das müßte eigentlich strengstens verboten werden. Aber wir möchten hier Gnade vor Recht gelten lassen.

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