Dienstag, 26. Mai 2015
Bagatelle 261 - Frauengeschichte



Sehen wir uns bitte dieses wunderschöne Familienbild an. Beobachten wir die Kleidung, sowohl der Damen als der Herren. Schauen wir auf die Symmetrie des Bildes. Der Fotograf sagt: das Ehepaar und die drei Töchter bitte auf der vordersten Reihe (die jüngste Tochter mit Namen Johanna bitte in der Mitte zwischen Vater und Mutter), die vier Söhne hinten, die zwei Ältesten links, die Jüngeren rechts. Geben wir bitte auch acht auf den wunderbaren Bart (ein Dreispitz!) des Familienvaters. Sehen wir schließlich auch noch die Festentschlossenheit womit alle in die Kamera schauen; frank und frei, so sieht‘s aus. Und dann die wichtigsten Merkmale: die Hände und vor allem die Gesichter und die Augen. Die eine strahlt Zuversicht aus; der andere zeigt seine Sorgenseite. Vater, Mutter und sieben Kinder, wobei auch zu bedenken ist dass ein Sohn, kaum fünf Jahre alt, schon gestorben ist. (Er fiel bei der Heuernte vom hochgeladenen Wagen und war sofort tot.) Was ist mit diesem Bild und warum will ich Ihnen mit dieser Familie bekannt machen?

Es ist ziemlich weit hergeholt, aber das hier sind meine Verwandten. Der Herr mit dem Dreibart ist ein Großonkel meiner vor einigen Jahren verstorbenen Schwiegermutter. Die liebe Dame ist also ihre Großtante. Wir sehen hier die Familie Beernink und diese Bagatelle möchte ich der lieben Frau Hermina Berendina Beernink, geborene Heideman, widmen. Sie wurde am 19. Dezember 1842 in Süderwick (Umgebung Bocholt/Westfalen) geboren und starb im Alter von 90 Jahren in Sioux Center im Staate Iowa in den Vereinigten Staaten. Der Namensreihe Hermina Berendina hatte sie auch noch Wilhelmina hinzugefügt. Jedenfalls wurde sie zuletzt so genannt. Von nun an wollen wir sie auch so nennen: Wilhelmine.
Das Bild stammt etwa aus dem Jahr 1918; Frau Wilhelmines Fotoalter ist also 75.

Einiges weiß man, vieles weiß man nicht. Und von dieser Familie schon gar nicht. Die einzige Zeitzeugen welche wir haben sind die von Verwandten und Nachkommen aufgeschriebenen Erzählungen und Berichte. So wissen wir, daß die Wilhelmine, als sie noch Harmina Berendina hieß, mit der ganzen Familie Heideman ins nahegelegene Ausland auswanderte. Das war nur ein Katzensprung, denn die preußische Ortschaft Süderwick, wo die Heidemans wohnten, war gleichsam mit dem niederländischen Dorf Dinxperlo - wohin sie zogen - verklebt. Dort in Holland lernte sie Hendrik Beernink kennen. 1868 heirateten die zwei und drei Tage nach der Hochzeit fuhren die beiden samt einigem Hausrat nach Rotterdam um von da aus in die Vereinigten Staaten zu segeln. Die Reise dauerte damals sechs Wochen. (Mit einem Dampfer ging es manchmal schon in vierzehn Tagen.) Von New York ging dann die Reise zuerst westlich nach Wisconsin in eine Gegend wo schon viele holländische Einwanderer wohnten. Hendrik, Schneidermeister von Beruf, ging dort seinen Fähigkeiten nach und verdiente manchmal 30 Dollarcents a day. In dieser Zeit wurden die zwei ältesten Söhne geboren.

Da kam nach vier Jahren der Tag wo der Herr Beernink erfuhr, dass im Staate Iowa landwirtschaftlicher Boden ausgegeben wurde. Man zog gen Süden ins wilde Westen wo der Hendrik mit eigenem und geliehenem Geld einige hundert acres Land pachtete wo er seinen ersten Wohnsitz baute: eine Plaggenhütte aus Schollen, Zweigen, Gras und Erde. Kaum vorzustellen dass alles fast ohne Werkzeuge und wörtlich mit bloßen Händen gebaut wurde. Auch kaum vorstellbar wie man in den dortigen ersten Jahren die glühend heißen Prairiesommer und die steinkalten Winter überlebte. Die spärlichen Überlieferungen lehren uns dass man anfangs ꞌmit der Sonneꞌ lebte. Das Geld für eine richtige Uhr fehlte. Überhaupt waren die ersten Jahre sehr schwierig. Um 1870 zum Beispiel war da obendrein die Heuschreckenplage welche die totale Ernte zu sich nahm. Wilhelmine, Mann und Kinder lebten zwei Jahre fast nur von Kartoffeln welche man im Boden aufbewahren konnte. Erst nach einigen Jahren konnte man eine richtige Ernte einfahren und ein richtiges Holzhaus bauen. Überlebt hat man, so erzählt die Geschichte, vor allem weil man zusammenhielt. Die Familie Beernink war Mitglied einer (holländischen) Kolonie wo der eine dem anderen half.

Nein, nur einiges weiß man und vieles nicht. Aber 1918, wenn die Kinder aufgewachsen sind und Wilhelmine und Hendrik einen bescheidenen Wohlstand erreicht haben, trauen sie sich zu ein schönes Familienfoto machen zu lassen. Das sieht man.

Von einer besonderen Geschichte kann ich berichten. Dazu muss man wissen dass die Gegend in Iowa wo Wilhelmine und Familie sich niederließen (Sioux County) ursprünglich Territorium der Indianer war. (Die Indianer wurden, wissen wir inzwischen, nicht gerade zimperlich von ihrem Land und Boden vertrieben.) Die Wilhelmine hatte gerade ihre jüngste Tochter Johanna geboren als sie eines Tages bemerkte wie ein Indianer ins Haus getreten war und sich das Baby ansah. Worauf die Wilhelmine das Baby aus der Wiege nahm und damit in Furcht und Schrecken zur Nachbarsfrau flüchtete. Zwei Menschen die sich nicht kannten sahen etwas Noch-Nie-Gesehenes. Die Wilhelmine stand zum ersten Male einem richtigen Indianer vis-a-vis gegenüber. Und der Indianer staunte sehr weil er noch nie ein weißes Menschenkind mit blonden Haaren gesehen hatte.

1932, kurz vor ihrem 90. Geburtstag, ist die Wilhelmine gestorben. (Sieben Jahre nach ihrem Gatten Hendrik.) Sie war, sagten die Nachkommen in Sioux Center, eine von den richtigen Pioniersfrauen die das Land aufgebaut haben. Zu ihrer Beerdigung wurde zweisprachlich gepredigt: in English und in Niederländisch. Und man sang ihr Lieblingslied, den 73. Psalm. Auf Niederländisch in einer uralten Version aus 1773. So wie ihn die Wilhelmine, als noch Hermina Berendina hieß, in der Schule gelernt und zu Hause und in der Kirche gesungen hat.

Eine Besucherin des Gottesdienstes erzählt uns dass das Wetter an diesem Tag nicht sehr schön gewesen sei: nasskalt. Trotzdem waren sehr viele gekommen um meiner schwiegermütterlichen Großtante Wilhelmine die letzte Ehre zu erweisen.

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Vielen Dank für diese Geschichte. Wie viel liegt in einem solchen einzelnen Foto. Und dieser Sprung ins Ungewisse, was für ein Wagnis für Wilhelmine und ihre Familie.

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