Samstag, 7. Januar 2017
290 - Auswendig
Vielleicht haben Sie, wie ich, sich das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker oder die Neujahrsmusik der Wiener Philharmoniker angehört. Beide Orchester wurden wie immer von Topdirigenten durch die Musik begleitet: in Berlin war es Sir Simon Rattle und in Wien Gustavo Dudamel der speziell aus Kolumbien eingeflogen worden war. Beide Dirigenten dirigierten auswendig.

Zufälligerweise las ich in dieser Übergangszeit zwischen den Jahren das Buch: "Over dirigeren" (Utrecht: Bohn, Scheltema & Holkema, 1983) von Kirill Kondrashin (1914-1981), selbst seit Lebens ein weltweit sehr geachteter Dirigent.
In diesem Buch, das jeder angehender Dirigent auf seinem Nachttisch liegen haben muss, bespricht Kondrashin in einem kleinen Kapitel das Phänomen des auswendig Dirigierens.

Viele Dirigenten lieben das auswendig dirigieren. Zuerst, so behaupten sie, fördert es den Kontakt mit den Musikern sehr, weil man der Partitur keine Aufmerksamkeit widmen braucht. Und, sagen sie, wenn die mitwirkenden Solisten (zB: Trifonov der ohne Partitur Rachmaninoff spielt) meistens eine Partitur auswendig können und ohne die auskommen, warum denn Dirigenten nicht?

Kondrashin ist der Meinung dass eine Partitur immer aufs Dirigentenpult gehört. Und zwar aus psychologischen Gründen. Schon die Anwesenheit einer Partitur gäbe dem Dirigenten als auch dem Orchester mehr kreative Freiheit. Selbstverständlich soll der Dirigent das zu spielende Repertoire faktisch auswendig können. Die Partitur also: nicht die mit den Augen zwingende, auf Note und Maß genauestens zu folgende Anweisung, sondern der ständige, treue Begleiter der anwesend ist wenn sich Probleme (Gedächtnisstörungen usw.) auftun.

Kondrashin sagt es nicht, aber deutet es an. Das auswendig Dirigieren einer schwierigen und komplizierten Komposition wird oft als Zeichen von Können gesehen. Seht nur, der dirigiert die Achte von Bruckner – Dauer anderthalb Stunden - auswendig!
Zu Unrecht, denn es gibt auch Dirigenten die einen Strauß-Walzer, den das Orchester unter ihrer Führung tausend Mal gespielt hat, niemals spielen lassen ohne dass die Partitur (oft nur geschlossen) dabei ist.

Nachrede 1: Dirigenten haben, was die Partitur angeht, zwei Sorten von Gedächtnis: das visuelle (sie sehen quasi die Partitur vor ihren Augen) und das phonologische (sie hören innerlich die Noten wenn sie ohne Orchester die Partitur studieren).
Solisten (der Klaviervirtuose oder die famose Hoboistin) haben noch ein drittes Gedächtnis: das taktile. Ihre Finger kennen und erinnern sich (in Berührung mit Klaviertasten oder Hoboen Klappen) die musikalischen Abläufe.

Nachrede 2: Frage: Welche Philharmoniker sind besser: die Berliner oder die Wiener? Antwort: das Concertgebouworchester.


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