Mittwoch, 11. Mai 2011
Bagatelle 104 - Vorhersage
Es mag wohl stimmen, daß es die besten Freunde sind, die einem ungeschoren die Wahrheit sagen. Angebliche Freunde verstecken die nackten Tatsachen unter einer Decke von Vermutungen und beschönigenden Äußerungen im Sinne ’daß jedermann wüßte, daß es in Wirklichkeit niemals so schlimm sein kann’. Richtige Freunde (Fründe sagt man wohl in Köln) sagen mir geradeaus und mitten ins Gesicht wie es um mich steht. Es gibt kein Pardon, sondern Ehrlichkeit.

Aber manchmal tut’s weh. Wenn zum Beispiel ein richtiger Freund aus familiären Kreisen mir ein Bild schickt mit, wie er meint, einer deutlich vorhersagende Bedeutung und Wirkung. Er glaubt in dem Bild die zukünftige Familie Terra zu sehen. Er möchte es keine Vorhersage nennen, sondern schon eine Weissage. So wird es einmal sein; so wird’s geschehen.



Was sehen wir auf dem Bild? Ein alterndes Ehepaar das an einem schönen Sommersonntagabend wie üblich beim Klang des Harmoniums ein Duett zu singen versucht. Glänzend dargestellt, das schon. Von einem unzweifelhaft hohen ästhetischen Wert. Aber wenn dieser abgebildete Zustand unser Vorland sein soll, sei es in dutzenden von Jahren, so wird man schon nachdenklich. Werden Sie alle es erleben, daß einst Frau und Herr Terra ihren Lebensabend an Sommersonntagen in dieser Weise füllen? Der Lieferant der Weissage wird diese Frage bejahen. Aber wir selber werden durch diese Vorhersage von Besserwissern zu Zweiflern.

Aufmunternd an der Geschichte ist nur der Text an der Wand. Er ist auf Friesisch – Ostfriesisch oder westlicher, das sei dahingestellt – und bedeutet sinngemäß: Tue deine Pflicht und laß die Leute nur reden. Wir wissen’s besser, sagt der Vorhersager. Wir aber lassen ihn reden.


Nachlese: Der Text an der Wand lautet originell: Doch dyn plicht en lit de ljue rabje.

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Mittwoch, 4. Mai 2011
Bagatelle 103 - Steinbrot
Unlängst hat es bei uns wieder mal fix gebrannt. Lichterloh, könnte man, wenig übertreibend, sagen. Das Beiwort ’fix’ läßt vermuten, daß die Brennerei verbunden war mit Furcht und Elend. Das Gegenteil aber war der Fall: wir nutzen Feuer und Hitze um unser Brot zu backen. Und das Feuer wurde höchst persönlich von mir selber gelegt. In unserem steinernen Backofen.



1945, als der Krieg vorbei war, hatte mein Schwiegervater die nicht so schlechte Idee sich einen Backofen bauen zu lassen. Aus feuerfesten Steinen, unter Dach und Fach, in einer kleinen Scheune hinter dem Hof. Dadurch, meinte er hoffnungsvoll, werden wir im Zukunft unabhängig von den Launen der Geschichte, indem Politiker es den Bäckern unmöglich machen ihr Handwerk nachzugehen.



Wann backen wir unser eigenes Brot? Sehr unregelmäßig, ab und zu, wenn es uns zu Mute ist. Wenn schon, denn so um den längsten Tag, halb Juni etwa. Dabei ist die Nachbarschaft, und sind die Bekannten und Familienmitglieder weit und breit herzlich eingeladen.

Wir machen entweder unseren Teig selber – das Brotteiggeheimnis der Madame Terra werde ich ihnen aber nicht verraten – oder wir lassen uns den Teig von einem befreundeten Bäckermeister hier aus der Gegend besorgen. Zuerst wird der Teig noch einmal gründlich geknetet, wonach er noch eine halbe Stunde Gelegenheit bekommt aufzugehen. Und dann geht’s in den Ofen.



Das Heizen des Ofens ist meine Spezialität. Es geschieht mit Dünnholz das schon Jahre irgendwo draußen vor sich hin trocknet. Es dauert eine Stunde und muß sorgfältig vonstatten gehen. Ist der Ofen zu heiß, verbrennen euch die Brote. Ist er zu kalt, werden die Brote nicht gar. Eine Sache von Erfahrung, Gespür und Gefühl, das ist es.



Aber dann! Nach diesmal 24 Minuten Backzeit kamen die ersten Brote heraus. Wie das duftet! Wie das schmeckt! Am leckersten sind die frischheißen selbstgebackene Butterbrote wenn man sie mit ein wenig Butter und Marmelade bestreicht. Und noch ein Tipp von mir. Nach zwei Tagen wird das Brot trocknen und verliert an Geschmack. Legen Sie es in die Tiefkühltruhe. Nach Wochen rausholen, ziemlich dünn schneiden und ab in den Toaster. Es scheint als käme der Geschmack und die Wärme zurück.



Noch mindestens zweimal dieses Jahr heizen wir den Steinofen. Zuerst an dem Tag wo der Frauenchor der örtlichen Landfrauen, dem Frau Terra angehört, zu Besuch kommt. Und dann später in der Zeit, wo die Tage schon wieder anfangen kürzer zu treten. Die Nachbarn, die Familie, der Bekanntenkreis, wir selber: alle freuen sich schon jetzt.

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Freitag, 29. April 2011
Bagatelle 102 - Links herum, rechts herum
Jedes Jahr, am 30. April, können Sie mich in unserem Gemüsegarten arbeiten sehen. An diesem Tage – das Feld ist vorher gründlich vorbereitet – werde ich meine Bohnen der Erde anvertrauen. Dazu setze ich etwa 60 Zentimeter von einander entfernt Paaren van Bohnenstangen, zwei gegenüber einander. Die sind, zumindest für dieses Jahr, zu einander verdammt. Ich biege sie einigermaßen nach einander und mit einer anderen Bohnenstange quer über die restlichen Paare wird ein festes Gebilde errichtet. Nichts besonderes also. Das heißt bis sóweit.



Das écht Besondere geschieht nach einigen Wochen. Sobald die Bohnen in der Erde, sich aufwärts bewegend, die Sonne über der Erde entdeckt haben, fangen sie an in einem kolossalen Tempo zu wachsen. Sie bilden lange Ausläufer und suchen dabei Unterstützung und Festigkeit an den von mir gesetzten Bohnenstangen. Das Ende jedes Ausläufers wickelt sich um die Bohnenstange. Und meine Bohnen machen das rechtsdrehend. Immer rechtsdrehend! Nur rechtsdrehend.

Menschen haben eine Vorliebe für links, pardon für links-herum. Das gilt ebenso dem Formel-I-Fahrer der die Strecke auf dem Nürburgring immer links herum fährt, als sein sportlicher Geselle der im Stadion die 10.000-Meter läuft. Achten Sie mal darauf. Immer links herum. Beim Eisschnellauf, oder beim 6-Tage-Rennen: immer links herum!
Leute, wie ich, die von sich selbst fälschlich behaupten etwas von der Materie zu wissen, machen die Tatsache, daß das Gehirn aus zwei Hälften besteht, dafür verantwortlich. Ob jemand linkshändig oder rechtshändig ist, ist eine Frage derselben Art. Sei es darum.

Vor Jahren, als ich die Gewohnheiten meiner Bohnen noch nicht so gut kannte, habe ich mal versucht sie entlang der Bohnenstange zu führen. Ich wies ihnen sozusagen den Weg, schrieb ihnen quasi vor welchen Weg sie zu gehen hatten, und band sie vorsichtig an den Stangen. Dabei ging ich meinen gewohnten Weg links-herum. Nach einigen Tagen sah ich, daß die von mir so angebundenen Bohnen zu sterben drohten. Die Ursache war die unnatürliche Linksdrehung.

Was lehrt uns diese Geschichte? Daß jedes Leben, auch die einfachste Stangenbohne, eine immanente Intelligenz besitzt an der wir nicht und niemals rütteln sollen. Wenn eine Bohne rechts-herum gehen will, müssen wir dies in allen Fällen akzeptieren und respektieren. Dafür gibt es eine, für Menschen nicht zu verstehende, Bohnenbegründung. Zweitens sollte uns diese Bohnenweisheit zu noch mehr Bescheidenheit aufrufen. Und Achtung und Ehrfurcht vor alles lebende.

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Samstag, 23. April 2011
Bagatelle 101 - Sachverstand
So ab und zu überfällt es einem: in einer alten Truhe findet man eine ebenso alte Schachtel mit einigen nicht jüngeren, fremd anmutenden Gegenständen. Aus der Eiszeit vermutlich, aber vielleicht ist das übertrieben. Was ich gefunden habe möchte ich Ihnen gerne bildlich vorstellen. Wir wollen es folgendermaßen handhaben: ich zeige Ihnen die Bilder und Sie sagen mir welche Bedeutung und Funktion der Gegenstand hat. Abgemacht?



Nein, so geht’s nicht. Aber das hier ist der gesamte Inhalt der Schachtel in der oben genannten Schublade. Durch kräftiges Blasen habe ich den meisten Staub entfernen können. Aber so gesehen und so auf einen Haufen geworfen ist es unmöglich Form, Funktion und Name einzelner Gegenstände zu nennen. Man bekommt Anfechtungen Vermutungen anzustellen: ist das da nicht ein napoleonischer Bücksenöffner, und das andere dort nicht solch ein komischer Korkenzieher aus dem Mittelalter?

Besser ist’s, wenn ich Ihnen hier unten die Gegenstände solo präsentiere. Dann können wir alle uns völlig und ausschließlich auf das eine Objekt konzentrieren. Und indem wir argumentieren, kombinieren, deduzieren, folgern und reduzieren (nicht unbedingt in dieser Reihenfolge) gelangen wir schließlich zum Ziel: die Bedeutung des Gegenstandes.







Ich gebe es zu: von zwei von dreien wußte ich weder Namen noch Funktion. Aber mit Hilfe von Frau Terra wurde das Geheimnis gelöst. Und wie stolz auf mich selber war ich, daß meine – selbst erfundene - dritte Lösung die Richtige war!

Jetzt sind Sie dran. Wenn Sie mögen, teilen Sie mir hier unten Ihre Lösung in einem Kommentar mit. Viel Spaß beim Raten! Sie haben einige Ostertage zeit. Nachher werde ich Ihnen die Lösung sagen.

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Sonntag, 17. April 2011
Bagatelle C - Kabinett der Nutzlosigkeit
Jeder, der etwas auf sich hält, sammelt. Manche suchen allerwegen nach Briefmarken aus subtropischen Ländern, manche andere bauen sich ein speziales Zimmer an der Wohnung, wo sie ihre Bierdeckelsammlung ausstellen. Ein beliebtes Sammelobjekt ist die hindenburgsche Streichholzschachtel oder, wenn man genug Geld und Muße hat, ein rembrandtesker Stich. Es gibt nichts auf der Welt was nicht gesammelt wird. Es seien denn die hochgiftigen Pilze aus den ostpolnischen Wäldern die man vorzugsweise aus dem Wege geht.

Ichselber sammle seit meiner Kindheit. Es fing damit an, daß ein Schüler der sechsten Klasse verbreiten ließ, daß es eine Belohnung gäbe für jeden der eine Liste von tausend Automobilnummernschildern aufweisen konnte. Darauf setzten wir uns an der Straßenecke und notierten fleißig die Nummer der vorbeirasenden Fahrzeuge. Später, als sich zeigte, daß die angekündigte Belohnung eine Ente war, fing ich an kleine Sachen zu sammeln. Zum Beispiel Briefmarken aus den Niederlanden und Niederländisch-Indien (das es damals nicht mehr gab, aber trotzdem eigene Briefmarken kleben ließ.) Oder Zigarrenkistenaufkleber und Bilder von Fußballspielern oder Filmstars. (Zehn Fußballer für eine Ava Gardner.)

Heute sammle ich nur noch nutzlose Sachen. Das heißt: ich sammle nicht strategisch und wissenschaftlich verantwortet, sondern beiläufig. Wenn ein nutzloser Gegenstand mir auf den Weg kommt, wird er mein. Koste es was es wolle, aber umsonst oder für höchstens zehn Euro.
Es gibt drei Bedingungen:
- erstens soll der betreffende Gegenstand zu etwas in der Lage sein, etwas können also, was andere Gegenstände viel besser können. Eine Uhr die schätzungsweise angibt daß es etwas nach sieben Uhr ist, statt zu sagen: es ist genau 7.12 Uhr und 24 Sekunden, ist ein Beispiel und Vorbild.
- zweitens soll der Gegenstand zu irgendeiner Leistung imstande sein. Das lautere Dasein in Schönheit genügt nicht. Er muß den Anschein wecken das Leben des Erwerbers bereichern zu können. Einen Hauch von Nutzen verbreiten.
- Der Gegenstand muß seine Funktionstüchtigkeit mindestens einmal unter Beweis stellen. (Beispiel: wenn ein Apparat behauptet er würde um Hilfe schreien können, muß er mindestens einmal laut und von allen hörbar HILFE gerufen haben.)

Jetzt sind wir soweit daß wir für all unsere nutzlosen Sachen eine passende Bleibe bereitet haben. Es ist eine Art Vitrine, das wir stolz auf den Namen: das Kabinett der Nutzlosigkeit getauft haben.
Einige bewahren in ihrer Vitrine kostbares Meißen auf. Wir dagegen freuen uns auf den Anblick nutzloser Gegenstände. Wie der kleine keramik Rundfunkempfänger der höchstens einen Regionalsender empfangen kann – zwar bewiesen hat daß er es kann! – und außerdem von einem Kompaß versehen ist, womit man ungefähr den Weg gen Osten finden kann. Ersteigert für einen Preis von sage und schreibe 4 euro 95. Er kann eigentlich nichts: keinen Radiosender finden, keinen guten Ton von sich geben, keine Richtung angeben, er ist sehr unschön und völlig nutz- und sinnlos. Außer natürlich für uns die ihn sammeln.

PS: Auf dem Bild eine nutzlose Auswahl unserer nutzlosen vitrinären Gegenstände.

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Samstag, 9. April 2011
Bagatelle LXLIX - De Heurne-upon-Sea
Wahrscheinlich kennen Sie Stratford-upon-Avon, die Geburtsstätte Shakespeares. Entweder Sie haben davon erfahren in der Schule, oder gehört von Freunden die voriges Ferienjahr dort herumreisten. Auch Évalon-sur-Seine mag ihnen nicht unbekannt in den Ohren klingen, obwohl es diese Stadt gar nicht gibt, denn sie entspringt aus meiner Fantasie. Wir bei uns kennen Noordwijk-aan-Zee, an der Nordsee, aber es besteht auch ein Noordwijk das nicht am Meer liegt.
Das berühmteste Beispiel ist natürlich Köln. Man sagt – meistens mit einer Mischung aus Wehmut, Verlangen und rheinischer Heiterkeit: Köln-am-Rhein. So ist es eben und dabei werden wir es bewenden lassen. Stadt am Fluß, Dorf-am-Meer: etwas informativeres und besser-klärendes können wir uns nicht vorstellen.



Das in der Tat idyllisch gelegene Haus auf dem Bild, ein Bauernhof, luftlinear etwa fünfhundert meter von unserem entfernt, liegt siebzehn (17) Meter über dem Meeresspiegel. Kein Grund vor Angst überflutet zu werden, würde man behaupten. Jedoch wird momentan das Haus jetzt bewohnt von Leuten die ernsthaft glauben, daß innerhalb einer gewissen Zeitspanne ein riesiger Tsunami ungekannter Kraft – kommend aus dem Raum Island und sich in südöstlicher Richtung bewegend - das ganze niedrig gelegene Land – wir wohnen in den Niederlanden – rund herum überfluten wird. Von diesen Niederlanden wird nur ein winziger Teil (Landstriche rundum Utrecht, die Veluwe, Teile des Nordostens und Ostens und die limburgschen Hügel) übrig bleiben. Wir, wohnhaft im Osten, nahe der deutschen Grenze, werden gespart. Unser Hof, siebzehn Meter über dem Meeresspiegel, bleibt wie und wo er ist. Die Küstenlinie, die heute noch von Groningen, die Watteninseln entlang, über Den Helder, Egmond-aan-Zee, Zandvoort, nach Cadzand führt, wird sich in östlicher Richtung zurückziehen. Bis knapp vor unserer Haustür. Fast das ganze Land, beinahe die ganze Nation, wird untergehen.

Dieses Horrorszenario stammt nicht aus meiner Feder. Das Haus, von dem hier die Rede ist, wird seit kurzem von einer tiefreligiös orientierten Wohngemeinschaft bewohnt. Eine Frau aus dieser Gruppe hat, wie sie verlauten läßt, die schrecklichen Meldungen aus erster, höchster Hand. Wie Bernadette in Lourdes, vermute ich. Wann das Unheil stattfinden werde, könne sie nicht sagen, sagt sie der Presse. Und wenn sie es wüßte, würde sie es auch nicht sagen, denn sie wolle um himmelswillen keine Panik verbreiten.



Das alles muß ich heute in meiner Zeitung lesen. Vom Bestehen und dem Wohnhaftigkeit dieser Gruppe in unserer Gegend war mir nichts bekannt, obwohl ich fast täglich an dem Hof vorbeikomme. Wohl war mir der Gemüsegarten-in-Anbau aufgefallen. Und jetzt wissen wir auch warum. Man rechnet darauf, wenn es denn so weit ist, daß die Kommune autarkisch selbstversorgend sein muß. An Gemüse und Obst wird es nicht fehlen.

Die Gemeinschaft hat sich hier bei uns zurückgezogen auf siebzehn Meter Höhe. Das Wasser wird demnächst bis hierher kommen. Uns selber aber unberührt lassen. Der Ort in dem wir leben wird sich innerhalb absehbarer Zeit an der neuen Küste wiederfinden. Jetzt wohnen wir noch im stillen De Heurne, einem winzig kleinen Fleck auf der Landkarte, inmitten der schönen, idyllischen, aber manchmal langweiligen Binnenlanden. Das langweilige wird sich aber ändern. Wenn die fast-Nachbarin recht hat, wohnen wir bald in De Heurne-upon-Sea.

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Donnerstag, 31. März 2011
Bagatelle LXLVIII - Gestelltes Gleichgewicht
Was immer Sie auch mögen behaupten, ich meine ziemlich sicher zu wissen, daß dieses Bild gestellt ist. Es stammt aus einem Kalendarium; ein Foto des Volkskrant-Fotografen Marcel van den Bergh.



Beide Parteien haben ihre Stellung bezogen. Der Bauer versucht mittels ziehen die Kuh davon zu überzeugen, daß es für alle besser ist wenn die Kuh in den Stall zurückkehrt. Die Kuh, mit Namen Jenny 24 oder so etwas, fest auf allen vieren an der Erde verankert, ist anderer Meinung. Sie hat keine Lust die Reise draußen in der freien Natur im Stall zu beenden.
Wie wird diese Meinungsverschiedenheit ausgehen? Wer gibt schließlich nach?

Das Seil steht schnurgerade von links nach rechts. Links ist es am Kuhkopfhalfter befestigt, rechts ziehen die plastifizierten Bauershände.
Das Spannende an dem Bild ist der Gleichstand. Wie eine Waage. Um nicht jétzt schon zu verlieren, muß der Bauer sich nach hinten lehnen.

Warum ist das Bild gestellt? Weil jeder Bauer weiß, daß das Ziehen am Kopfe der Kuh überhaupt keinen Sinn hat. Vor allem nicht wenn das Seil zu lang geraten ist. Die starken Kopf- und Halsmuskeln der Kuh werden immer gewinnen. Wenn die Jenny so gnädig ist sich in der gewünschten Richtung zu bewegen, tut sie das weil sie dem Bauer ein Gefallen tun will. Wenn sie écht wollte, käme sie nicht von der Stelle.

Natürlich weiß der Bauer das. Man soll eine Kuh führen mit Vorsicht, mit Güte, mit Nachsicht, mit Futter, mit guten Worten. Oder man macht es zu zweit: der erste führt die Kuh am Halfter, der zweite drückt etwas von hinten wobei er den Kuhschwanz etwas gegen den Uhrzeigersinn dreht. Die Kuh, verwirrt, gibt auf und bewegt sich in die gewünschte Richtung.

Natürlich weiß der Fotograf das auch. Er aber liebt die Spannung des Tauziehens. Er liebt die Ungewißheit. Er liebt das unberechenbare Gleichgewicht. Sei es gestellt.


* Quelle: De Volkskrant Fotokalender 2011

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Donnerstag, 24. März 2011
Bagatelle LXLVII - Schreibtisch samt Stuhl
Wer hat je behauptet, daß jede Bagatelle eine Welt voller Freude und Fröhlichkeit repräsentieren sollte? Oder daß der Inhalt jedes bagatellarischen Textes uns allen Zeuge einer humorvollen und spitsfindig-menschlichen Gesellschaft sein lassen will? Derjenige, der dies alles in voller Ernst verbreitet hat, möge sich für eine Weile in die Ecke stellen um sich seines unpassenden Benehmens bewußt zu werden. Denn die Wahrheit ist eine andere. Die meisten Bagatellen sind genau so langweilig als auch kurz. Obwohl wir - selbstverständlich aus zuverlässiger Quelle - wissen, daß ein gewisser Herr Justus Oberwasser aus Wolfenbüttel, der sich hier auf blogger.de verirrt hatte und der zufälligerweise bei den Bagatellen landete, sich beim Lesen ab und zu ein kleines Lächeln nicht verkneifen konnte.

Manche Bagatelle ist zwar qua Inhalt und Subjekt so alltäglich, daß einem die Lust zum Lesen beinahe vergeht. Und die unzutreffende Art und Weise mit der mit der deutschen Sprache umgegangen wird, ist derart verwerflich, daß nicht nur der Autor sondern auch der Leser sich schämen sollte. Hierbei geschehen.



Trotz alledem möchte ich Ihnen die alberne Geschichte meines Schreibtisches samt Schreibstuhl erzählen. Einen mehr alltäglichen Gegenstand gibt es nicht. Ich füge ein Lichtbild bei, so daß Sie sich ein Bild machen können. Der Schreibtisch plus Stuhl stammen von meinem schon vor Jahren verstorbenen Vater. Der war beruflich auf dem Rathaus in unserer Gemeinde tätig. Unter anderem als Empfänger der hiesigen Gemeindesteuer. Gemeindemitglieder konnten tagsüber bei ihm auf dem Rathaus ihre Schuld bezahlen. Und wenn sie tagsüber besseres zu tun hatten, konnten sie am Abend auch bei uns zu Hause ihre Gemeindesteuerschuld tilgen. In unserem Haus hatten wir dafür ein spezielles Zimmer, das wir „das Kontor“ nannten. Da befand sich dieser Schreibtisch. Mein Vater saß auf dem Schreibstuhl dahinter und der zahlende Mitbürger stand davor. In der einen Hand die Mütze und in der anderen entweder das zu bezahlende Geld oder eine Bittschrift um Erlaß der Schulden.

Nach meinem Vaters Tod zog mein ältester Bruder in das Haus. Er übernahm sowohl den Schreibtisch als auch den Stuhl. Und jetzt, nach wiederum séinem Tod, stehen Tisch und Stuhl bei mir in unserem alten Bauernhof. Sie passen dort überhaupt nicht, aber wer will solch einen alten abgenutzten Schreibtisch samt Stuhl? Nur einer wie ich der teuere Erinnerungen an das Stück hat. Und schon gar wenn es so eine Geschichte mit sich trägt.

Auf eines möchte ich hinweisen. Rechts am Stuhl, irgendwo unter der Armlehne, wird eine fremde Höhle sichtbar. Während der letzten Kriegstage ist unser Dorf um März 1945 schwer bombardiert worden. Von unserem Haus stand nach dem Bombardement nur noch die vorderste Hälfte. Überall fanden wir Spuren der Granatscherben. Eine traf den Schreibtischstuhl. Und, wenn wir die Familiengeschichte glauben können - mir ist sie auch nur erzählt worden – ist das bis auf den heutigen Tag sichtbar. Wenn Sie wollen: ich kann Ihnen die Wunde zeigen.

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Mittwoch, 16. März 2011
Bagatelle LXLVI - Reisverschluß


Früher, in der Sekundarstufe, versuchte uns der Herr Lehrer beizubringen daß die Romantikepoche etwa von 1780 bis, sagen wir, 1830 dauerte. Und schon damals, ich meine in meiner Jugendzeit, war ich der Meinung daß die Romantik nicht an Zeit gebunden ist. Geben wir es zu, wohnt nicht in jedem von uns ein Romantiker der nach dem unmöglichen tastet, wissend von der immanenten Unmöglichkeit und sogar sich deren erfreuend? Hat nicht jeder eine unerreichbare ferne Geliebte, sei es Mann oder Frau oder beides, die sich an einem Ort befindet wo du selber nicht bist, wie der Dichter so treffend romantisch sagt?

Noch früher, in meiner Grundschulzeit, hörte ich von einem Land wo einem die gebratene Gans in den Mund fliegt. Ein Land ohne Sorgen oder Mühe, ohne Schule, ohne Hausaufgaben. Ein Land hinter dem Horizont, nahe der Stelle wo der Regenbogen die Erdoberfläche trifft. Ihr nennt es Schlaraffenland, in meiner Muttersprache ist es das Luilekkerland. Übersetzt: das Faulenzerparadies. Hier wohnen die Leute, die vom Genießen der Freuden des Lebens ihr Beruf gemacht haben, weil sie es als eine Berufung sehen. Die Wörter Streß, Arbeit, Pflicht, sowie Blut, Schweiß und Träne, sind verpönt. Ein richtiger Faulenzer graut vor der Idee nachdenken zu müssen. Schon der Gedanke daran ist zu viel Mühe.

Das Problem des Schlaraffenlandes ist die Verschlossenheit. Das streßlose Paradies ist von einem Reisverschuß von der Außenwelt getrennt. Das ist kein Sprachfehler, denn ein unmeßbar großer Reisberg versperrt mir den Weg. Ich kann das gelobte Schlaraffenland nur dadurch erreichen indem ich mir einen Durchgang esse. Das aber ist eine romantische Unmöglichkeit. Auch wenn ich ab und zu eine Reisbreinachspeise zu mir nehme.

Reisbrei als Nachspeise. Ein völlig unromantischer Gedanke. Bei uns zuhause können Sie sich aber von der delikaten Qualität überzeugen. Am liebsten essen wir den Reisbrei mit einem Tüpfelchen braunem Zucker obendrauf. Überromantisch herrlich. Etwas für Faulenzer und andere Liebhaber.

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Freitag, 11. März 2011
Bagatelle LXLV - Türstopper
In manchen Fällen ist es die Kombination die mich interessiert und sogar intrigiert. Das - entweder bewußt offensichtlich oder lauter zufällig - Zusammenkommen einiges hohen Erhabenes und das platte Triviale. Sachen mit einem hochspirituellen Charakter versus niederträchtige Banalitäten. Etwas feines königliches neben grobem bürgerliches, das meine ich. Und wenn Sie noch nicht verstehen was ich sagen will – was mich nicht wundern sollte – geb’ ich Ihnen gerne ein Beispiel. In meinen frühesten Kinderjahren war mir nicht beizubringen, daß es sogar im königlichen Palast zu Soestdijk, wo unsere Königin Juliana residierte, Orte gab die man Aborte nannte. Die Idee daß die Majestät auch wohl mal auf die Toilette mußte, war abstrus und völlig undenkbar.

Etwas derartiges ist auch der Fall beim Betrachten des beigefügten Bildes. Die amerikanische Zeitschrift Life publiziert dieser Tage 31 Fotos aus der privat Sammlung von Eva Braun. (Die Sammlung ist – wie das Wort vermuten läßt – von einem Sammler zur Verfügung gestellt worden.) Wir sehen auf diesem Bild aus 1937 einen Teil des Braunschen Wohnzimmers.



Es ist nicht das Führerbild das meine größte Aufmerksamkeit auf sich lenkt. Auch nicht die säuberlich geputzte kupferne Türklinke oder die zierliche Kommode mit den fünf Schubladen. Nicht der fischgrätig verlegte Parkettboden. Es ist der Türstopper.

Ich weiß nicht ob das Wort überhaupt existiert: Türstopper. Ein kleiner runder Gegenstand aus Hartgummi oder Kautschuk, den man mit einem Nagel in den Boden schlägt. Keine gute Idee und kein Gesicht, aber er tut was es tun muß: er behütet die Tür rechts, wenn man sie nach innen öffnet, für einen Aufprall - mit schlimmsten Folgen - mit der Kommode.

Das verwundert und tröstet: sogar die feinsten Häuser kennen den unschönen, abscheulichen Türstopper. Kaiser und König, Diktator und Kardinal, Bürger und Bauer: alle kennen ihn. Also liefert der Türstopper einen Beitrag zu einer mehr egalitären Welt. Das hatten Sie nicht gedacht, oder?

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Donnerstag, 3. März 2011
Bagatelle LXLIV - Eineichiger Zwilling


Jedesmal, wenn mein Blick vom Frühstückstisch hinaus zum Fenster gen Osten schweift, trifft er sie. Singular und Plural in einem. Ich sehe unsere Zwei-Einheit: ein Duo junge Eichen, das vor einigen Jahren plötzlich und unerwartet aus dem nichts entsprang und jetzt frisch und fröhlich die Landschaft ziert.

Wer es war der die Samen, die Eichel also, dort hat liegen lassen, weiß ich nicht. Ich vermute ein Eichhörnchen. Wegen seines Namens natürlich und wegen seines angeborenen Triebes mehrere geheime Vorräte zu bauen, womit er behauptet den strengen Winter überstehen zu können.

Dort wo der Acker unseres Nachbars anfängt und dort wo unser Eigentum aufhört, gibt es einen zwei Meter breiten Streifen. Hier wächst was wachsen will. Allerhand Pflanzen, Kräuter, Unkraut, Gebüsch und anderes Grün findet dort seinen Platz. Wir lassen es wachsen und gedeihen. Nur wenn eine einzige botanische Familie droht die Oberhand zu bekommen – und zwangsweise ihre Nachbarn das Licht in den Augen mißgönnt – greifen wir ein. Denn Vielfalt ist ein kostbarer Besitz.



In dem genannten Streifen steht nun schon seit einigen Jahren unser Zwilling. Zwei Eichen die zusammen und verbindlich aufwachsen. Sie sind gleich groß und haben in etwa dieselbe Zahl Äste und Zweigen. In diesen Wintertagen, wo das Blätterdach fehlt, kann man gut erkennen wie sehr sich die beide Eichen gleichen. Im Sommer scheinen die beiden eine Einheit. Ein Zwilling. Ein eineichiger.

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Sonntag, 27. Februar 2011
Bagatelle LXLIII - Behördendeutsch
Gestern, Samstag, war ein Tag voller Gnade. Ich bekam etwas geschenkt worauf ich mich in Gedanken schon lange im voraus gefreut hatte. Der Postbote (der es gerade noch schaffte unseren Hof zu finden) brachte uns ein Schreiben eines der berühmtesten Vertreter der deutschen Justizbehörde: die Oberjustizkasse Hamm. Mit vor Erregung zitternden Händen öffnete ich den amtlichen Umschlag.



Vorweg muß ich noch erwähnen, daß ich in früheren Jahren wohl mal einen Brief von einer deutschen Behörde in Empfang nehmen konnte. Einen Brief mit Lichtbild meistens. Das waren noch Zeiten! In meiner Studentenzeit bekam ich, reisend im Raume Kleve (Niederrhein), fast jedes Jahr wohl eine Quittung wegen Überschreitung der erlaubten Höchstgeschwindigkeit. In meiner Ente habe ich 72¼ km/h bei 70 km/h erlaubt, also zu schnell gefahren, sagte mir die Behörde dann.

Daß es gestern wieder eine Art Quittung war, schmälerte meine Freude über den Empfang keineswegs. Es war ja nur eine Bitte an mich, um die Kosten welches das Amtsgericht zu Bocholt habe machen müssen um mir einen Erbschein und ein Testamentsvollstreckerzeugnis überreichen zu können, zurück zu erstatten. (Mein Bruder, damals wohnhaft in Deutschland, ist vor zwei Jahren gestorben. Er hatte mich in seinem Testament, niedergelegt bei einem niederländischen Notar und völlig rechtsgültig, gebeten die Erbschaftsregelung einigermaßen ordentlich vonstatten gehen zu lassen.) Der totale Rechnungsbetrag betrug (zufälligerweise) runde 300 Euro.



Drei Nebensächlichkeiten verdienen das Erwähnen. Erstens sehen Sie und ich im Text auf dem Umschlag, daß diese deutsche Behörde um Verständnis bittet falls ich am selbigen Tag nóch einen oder mehreren Briefe solcher Art zugeschickt bekommen sollte. Eine Behörde die sich entschuldigt! Im voraus! Das ist doch was, würde ich meinen.
Zweitens muß ich feststellen, daß das Behördendeutsch ganz und gar nicht schwieriger zu verstehen ist als die Behördensprache in meinem Lande. Die Sätze in deutscher Sprache sind zwar lang und unnötig kompliziert, aber das ist bei uns nicht weniger der Fall. Und wir können nicht, wie Sie, in Zweifelsfällen unseren Arzt oder Apotheker fragen.
Drittens möchte ich hinweisen auf die Schnelle womit diese deutsche Behörde arbeitet. Wir haben sicher sechs Monate mit der Amtsgerichtsbehörde gehadert ob und warum ein Erbschein und ein Testamentsvollstreckerzeugnis (für das zweite Wort übrigens meinen besten Dank ..) überhaupt nötig war. Als der Entschluß dann endlich gefaßt wurde, bekamen wir schon sieben Tage danach die Quittung. Das nenne ich zügige Facharbeit! Daran kann sich jede in- und ausländische Behörde ein Beispiel nehmen!

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Mittwoch, 23. Februar 2011
Bagatelle LXLII - Der Tod mit Sense und Rechen
Wenn Sie mögen, erzähle ich ihnen gerne eine zwar bizarre, aber wahrgeschehene Familiengeschichte. Dazu hohl’ ich mir zuerst den alten hölzernen Heurechen aus der Scheune und stelle ihn schräg gegen die Scheunetüre, Stiehl nach unten und Zähne nach oben, damit alle sich an ihr Bild erfreuen können.



Mein Großonkel Wilhelm (schlicht Onkel Willem genannt), Bruder meines Großvaters Heinrich (Hendrik) väterlicherseits, war in seinen jungen Jahren ziemlich schroff, brutal, laut und vorlaut. Viele Jahre später, nach zwei Weltkriegen, zwei Ehen (beide 25-jährig!) und zwei im Kriege gestorbenen Söhnen, als ihn das wirkliche Leben also eingeholt hatte, wurde er milder und stiller. Die folgende Geschichte spielt in seinen jungen Flegeljahren.

Die Heuerntezeit ist gekommen. Jeder auf dem Bauernhof – auch die Nachbarn sind gefragt - der eine Sense oder einen Rechen tragen kann, ist aufgefordert beim Heu machen zu helfen. In der Mittagspause, nachdem die Frauensleute das Essen gebracht haben und sich mit den wenigen Überbleibseln auf den Heimweg machen, legt sich mancher im Schatten der Bäume zum schlafen. Wißt ihr, sagt der junge Willem, daß man im stehen schlafen kann? Auch hier im freien Felde? Ich werde es euch zeigen.

Willem benutzt seinen Heurechen. Er drückt den Stiel fest in den Boden, sodaß die Zinken gen Himmel zeigen. Etwas schräg steht der Rechen als Willem seinen Kopf dorthin steckt, wo sich der Stiel in zweien verzweigt. Er bildet, zusammen mit dem Rechen und dem Boden worauf beide stehen, quasi ein Dreieck. Willem schließt die Augen und hält sich schlafend. Alle die ihm zusehen, lachen laut. Bis nach einer Weile die Nachbarsfrau sagt: Jetzt ist’s genug Willem. Hör damit auf. Aber Willem reagiert nicht.



Nein, Willem gibt keinen Ton mehr. Die Blutgefäße links und rechts in Hals und Nacken sind vom verzweigten Rechenstiel völlig abgeklemmt. Um ein Haar ist Willem bewußtlos. Glücklicherweise fällt er samt Rechen seitlich auf den Boden, (eine Windböe, eine kluge Nachbarsfrau die ihn umstößt?) wobei sein Kopf von der Umklemmung befreit wird. Das Lachen und Prahlen ist ihm ergangen.

’Man kann schmerzhaft und schmerzlos sterben,’ sagte Onkel Willem später. ’Das zweite ist mir fast passiert: damals in der Heuernte, mit dem Heurechen.’ Der Tod kommt manchmal still und leise. Der Totenmann kommt manchmal mit Sense únd Rechen.

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Samstag, 12. Februar 2011
Bagatelle LXLI - Uhrzeit


Ich trage, wo ich gehe, stets eine Uhr bei mir
Wieviel es geschlagen habe, genau seh ich an ihr.


So komponierte einst Carl Loewe und so sang einst der Bariton Hermann Prey, weltweit mit Abstand der beste deutsche klassische Sänger unter den Sängern die dauernd an einer Erkältung leiden. Jeder kennt das Lied, ins besondere die Mitglieder der deutschen Liedertafel und die der westeuropäischen Männergesangsvereine. Und bei dem zweiten Satz denken alle daran wie intelligent der Dichter das Sehen (genau seh ich ..) und das Hören (es geschlagen habe ..) vereint hat.

Wie hilflos ist der Mensch, wenn er nicht irgendwo die genaue Uhrzeit ablesen oder abhören kann! Darum findet sich in jedem Hauszimmer, an und in jedem Gebäude, an allen Haushaltsgeräten, kurzum: in jedem Lebensbereich eine Uhr. Analog oder digital, mit einem römischen Zifferblatt verziert oder schlicht Ziffern andeutend, der Sonne folgend oder hinunter fallend wie Sandkörner in einem Glas. Man läßt uns keine Ruh’. Die Zeit drängt sich unaufhaltsam auf. Wir kommen nicht drum herum.

Vor Jahren habe ich der Zeit einen Streich gespielt. In meinem Arbeitszimmer, wohlgemerkt Zimmer 2.28 zweiter Stock, wo immer frische Blumen die Atmosphäre aufhellten und frohe Gedanken freikommen ließen, befand sich eine kleine Wanduhr. Eines Tages habe ich, so zwischen den Arbeiten hindurch, gezählt wie oft ich auf die Uhr schaue. Nur aus Angewohnheit, denn es drängte mich niemand. Und als wäre das nicht schon genug, wie oft drehte sich mein Kopf in Richtung meiner linken Hand. Dort wo sich die Armbanduhr aufhielt! So genau hab’ ich nicht gezählt, aber es würde mich nicht wundern, daß es sechzig Mal in einer Stunde war.

Der Beschluß war schnell gefaßt. Ich verbannte die Wanduhr in eine stille unauffällige Ecke, wo sie von niemandem gesehen werden konnte. Und ich entfernte meine Armbanduhr. Für ewig und immer. Bis auf den heutigen Tag ist sie nicht wieder auf ihren Platz zurückgekehrt. Ich vermute daß es etwas mit dem Zeitgeist zu tun hat.

Nein, ohne Scherz, Sie werden mich niemals sehen mit einer Armbanduhr. Weder links noch rechts, weder digital oder analog. Weder an Sonn- und Feiertagen, noch an sonstigen Ruhetagen. Und das schönste von der Geschichte ist: ich vermisse sie nicht. Den Streich habe ich der Zeit gespielt.

Aber, werden Sie fragen, was macht er wenn er unbedingt die genaue Uhrzeit wissen muß? Nun, werde ich antworten, wenn ich mich außerhalb der menschlichen Gesellschaft befinde, mitten auf der Lüneburger Heide zum Beispiel, gibt es keinen Grund genau zu wissen wie spät es ist. Und wenn: schau auf die Sonne oder vermute wo sie sich hinter den Wolken verbirgt.
In dem anderen Fall, wenn ich in der Nähe menschlicher Kreaturen bin, frage ich den ersten besten nach der genauen Zeit. Und weil alle anderen stets eine Uhr bei sich tragen, kann jeder dem ich begegne mir sagen wie die Glocke geschlagen hat.

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