Dienstag, 27. Oktober 2009
Bagatelle XXIV - Für nichts und wieder nichts
Seit einigen Wochen verkehrt Harold bei uns. Plötzlich, an einem Mittwochmorgen um zehn, war er da, setzte sich auf die Küchenfensterbank, und seitdem ist er geblieben. Er besteht darauf dass sein Name auf Englisch wie auf Deutsch als Herrold ausgesprochen wird. Er sieht aus wie ein angelsächsischer Butler, in vornehm schwarz und weiß, daher seine Vorliebe für die feine englische Art. Er benimmt sich auch wie ein Diener aus Oxford-on Sea oder Cambridge-upon-Thames. Er ist leise und ruhig, hilfsbereit und präzise, diskret und eifrig. Harold ist einer von denen die gerne etwas für andere tun ohne im voraus über eine geldliche Belohnung zu verhandeln. Es steht irgendwo geschrieben dass es besser sei zu geben als zu empfangen. Harold schreibt es nicht nur, er tut es auch.



Wir alle wissen was es heißt und wie es fühlt, wenn sich nach einer üppigen Mahlzeit ein kleines, feines Stückchen Rindfleisch in unserer Mundhöhle zwischen den Zähnen verkrochen hat. Was wir in diesem Moment und an dieser Stelle brauchen ist ein Zahnstocher. Am liebsten einer aus feinem Edelholz. Mit einer Hand wird dann der halb geschlossenen Mund abgedeckt und mit der anderen Hand bedienen wir uns dieses Zahnstochers um den Fleischfetzen zu entfernen.



Dafür ist bei uns der Harold zuständig: er besorgt uns sowohl am richtigen Ort als auch am richtigen Zeitpunkt einen hölzernen Nahrungsentferner. Er tut dies nicht des Geldes wegen, er tut’s für nichts und wieder nichts, gratis und umsonst. Er tut’s auf Anruf, auf Anfrage. Das müssen Sie wörtlich nehmen: Sie müssen es Harold mündlich und zwar vorsichtig und höflichst bitten. Das genügt.



Wie bitten wir Harold uns einen Zahnstocher zu überreichen? Welche Worte, welche Tonart, in welcher Sprache? Harold kennt sich in der Welt der Sprachen aus. Er beherrscht vierzehn Sprachen und mindestens sechs Dialekte. Damit ist die dritte Frage beantwortet. Und wenn wir es ihm freundlich und sanft bitten, ist auch die Frage der Tonart geklärt. Die Wahl der Worte überlassen wir Ihnen. Zum Beispiel:

- Waes zo goed Harold, en doet mi-j asteblief één van ówwe tandenstaokers.
- Lieber Harold, tun Sie bitte mir den Gefallen, bitte seien Sie so gut, und beglücken Sie mich mit einem ihrer unbezahlbaren hölzernen Zahnstochern.
- Please Harold, don’t be so bloody shy and give me some of your famous toothpicks.
- Oom Harold, kan ek een van jou tandenpikkers uitprobeer? Asseblief?

-Ґоварищ Ңаролд, зубочистка Пожалуйѕта?
- Monsieur Harold, voulez vous me remettre un petit cure-dent s’il vous plait?



Nehmen wir an dass unsere Bitte in Harolds Ohren Gefallen findet. Er willigt ein. Er biegt sich, langsam und leise wie es einem Butler passt, vorüber, sucht sich einen neuen, frischen Zahnstocher aus dem Behälter, nimmt ihn in den Mund, biegt sich wieder gerade und offeriert uns höflich den Zahnstocher.
So zeigt sich mal wieder, dass eine freundliche Bitte tausend Mal mehr wert ist als ein für teures Geld gekaufter Wunsch.

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