Mittwoch, 11. Mai 2011
Bagatelle 104 - Vorhersage
Es mag wohl stimmen, daß es die besten Freunde sind, die einem ungeschoren die Wahrheit sagen. Angebliche Freunde verstecken die nackten Tatsachen unter einer Decke von Vermutungen und beschönigenden Äußerungen im Sinne ’daß jedermann wüßte, daß es in Wirklichkeit niemals so schlimm sein kann’. Richtige Freunde (Fründe sagt man wohl in Köln) sagen mir geradeaus und mitten ins Gesicht wie es um mich steht. Es gibt kein Pardon, sondern Ehrlichkeit.

Aber manchmal tut’s weh. Wenn zum Beispiel ein richtiger Freund aus familiären Kreisen mir ein Bild schickt mit, wie er meint, einer deutlich vorhersagende Bedeutung und Wirkung. Er glaubt in dem Bild die zukünftige Familie Terra zu sehen. Er möchte es keine Vorhersage nennen, sondern schon eine Weissage. So wird es einmal sein; so wird’s geschehen.



Was sehen wir auf dem Bild? Ein alterndes Ehepaar das an einem schönen Sommersonntagabend wie üblich beim Klang des Harmoniums ein Duett zu singen versucht. Glänzend dargestellt, das schon. Von einem unzweifelhaft hohen ästhetischen Wert. Aber wenn dieser abgebildete Zustand unser Vorland sein soll, sei es in dutzenden von Jahren, so wird man schon nachdenklich. Werden Sie alle es erleben, daß einst Frau und Herr Terra ihren Lebensabend an Sommersonntagen in dieser Weise füllen? Der Lieferant der Weissage wird diese Frage bejahen. Aber wir selber werden durch diese Vorhersage von Besserwissern zu Zweiflern.

Aufmunternd an der Geschichte ist nur der Text an der Wand. Er ist auf Friesisch – Ostfriesisch oder westlicher, das sei dahingestellt – und bedeutet sinngemäß: Tue deine Pflicht und laß die Leute nur reden. Wir wissen’s besser, sagt der Vorhersager. Wir aber lassen ihn reden.


Nachlese: Der Text an der Wand lautet originell: Doch dyn plicht en lit de ljue rabje.

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In der Tat enthält dieses Bild einiges an Komik, es ist vielleicht gar eine Karikatur der Dargestellten, die boshafte Zungen möglicherweise „Spiesser“ schimpfen und mit welchen sich identifizieren zu wollen, manch einem schwer fällt. Aber – wer weiss – ob Ihr Weissager tatsächlich nur diesen vordergründigen Anschein meinte, als er Ihnen damit die Zukunft andeuten wollte? Schaut man hinter das Bild, so erscheinen zwei Menschen, die ihr Leben miteinander geteilt haben, zusammen alt geworden und immer noch in Eintracht beieinander sind.
Ist es nicht das, was wir uns alle im Grunde ersehnen? Na gut, vielleicht nicht ganz und gar alle von allen.
Ihnen aber und Ihrer Dame, Herr Terra, sollen die Weissagungen in diesem Sinne offenbar werden. Das wünsch’ ich Ihnen. Und im Übrigen, vertrauen Sie auf die Weisheit des Spruchs an der Wand: Lasst’ sie reden! Herzlichst, pastiz
P.S. Muss ja nicht immer ein Harmonium sein, ein Steinbackofen tut's ja auch!

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Gut gemeint
Keine Angst, lieber Herr Pastiz, mein Weissager, dessen Urteil ich übrigens sehr schätze, hat es gut mit mir vor. Es ist mein Bruder.
Gruß, T.

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