Sonntag, 2. Oktober 2011
Bagatelle 126 - Musikalischer Grenzübergang
In einer früheren Bagatelle habe ich Ihnen wohl mal erzählt, daß ich mehr oder weniger in zwei Welten aufgewachsen bin. Geographisch meine ich. Bis auf den heutigen Tag verläuft die Staatsgrenze zwischen Deutschland und den Niederlanden quer durch das Dorf das mich hat aufwachsen sehen. Man kann ohne Mühe Untertan der Königin Beatrix sein und mit einem Bein (sagen wir das linke) auf ihrem Territorium stehen, während sich das andere rechte Bein freut im Lande Angela Merkels festen Boden unter den Fuß bekommen zu haben. Der Hellweg heißt die Straße welche offiziell die Grenze bildet. Der Weg selber ist niederländisches Staatsgebiet, der Bürgersteig nebenan ist Deutsch. Bei uns heißt die Straße Heelweg, aber er ist derselbe.

Jetzt sind die Grenzen offen. Und manchmal hat der Besucher Mühe herauszufinden ob er sich in Holland oder in Deutschland befindet. Man sieht es an den Bauweisen der Häuser, an den komischen Verkehrsschildern, und man hört es an den leicht verschiedenen Dialekten die dies und jenseits der Grenze gesprochen werden. Aber im großen und ganzen versteht man sich. Sehr gut sogar: deutsche Kinder gehen in den holländischen Kindergarten, der deutsche Notarztwagen bringt das niederländische Verkehrsopfer zügig in ein deutsches Krankenhaus, Deutsche kaufen ihre Pillen beim niederländischen Apotheker und der öffentliche Verkehr benimmt sich zweistaatlich: Busse fahren vom Zentrum der einen deutschen Stadt (Bocholt) ins niederländische Dorfszentrum. Und kein Passagier wird stehen gelassen, ungeachtet welcher Staatsangehörigkeit.

Nicht immer verlief alles so freundschaftlich und nachbarschaftlich. Es gab Zeiten wo ein Streifen Niemandsland und hohe Stacheldrahtzäune jeden grenzüberschreitenden Kontakt zu unterbinden versuchten. Zöllner wurden beauftragt zu verhindern daß deutsche und holländische Nachbarsfrauen sich trafen und Familiengeschichten austauschten. In Kriegsjahren, aber auch in den Jahren danach. Ein kleines Grenzlandmuseum in unserem Dorf erinnert daran. Mit Bildern, Gegenständen und Geschichten. Jeder der in einer Grenzgemeinde gewohnt hat, weiß es: wo es Stacheldraht und Zöllner gibt, gibt es auch Schmuggler und Schmuggelgeschichten. Auch davon kann das Grenzlandmuseum ein Lied singen.

Über Lieder und Musik gesprochen, eines der schönsten Schmuggelgeschichten ist die nachfolgende.
Sie wissen, daß die besten und schönsten Drehorgel aus den Niederlanden und Belgien stammen. Das sind überhaupt keine kleinen Leierkasten, aber vollwertige Musikinstrumente. Mit prächtig bewegenden Figuren die auf Trommeln und Glöcklein schlagen. Mit einer geheimnisvollen Mechanik, wobei die Musik aus gestanzten und gelöcherten Büchern irgendwo im Inneren des Wagens produziert wird. Wie? Das weiß kein Mensch. Wie oft habe ich als kleiner Junge nicht staunend zugesehen, wie der Drehorgelmann durchs Rad drehen (links und rechts abwechselnd, und im passendem Tempo) die schönsten Melodien hervorzauberte! Operetten, Schlager, den Radetzkymarsch, aber auch klassische Töne! Niemals wurde Nabuccos Sklavenchor besser vertont als von einer großen Drehorgel vor unserer Haustür! Verdi hätte sich mächtig gefreut! Und wie neidisch war ich auf die Drehorgelkinder die, von Haus zu Haus gehend, um eine kleine geldliche Gabe baten, damit sie auch heute Abend wieder etwas zum Essen kaufen konnten. Sie, die Kinder, konnten sich den ganzen Tag die schönsten Melodien anhören!

Herbst 1919, nach dem ersten Weltkrieg, kam mal wieder eine Amsterdammer Drehorgel in unser Dorf. Das passierte oft. So eine große Drehorgel kam per Zug, blieb eine Woche oder so, und reiste hier bei uns von Dorf zu Dorf in der Gegend umher.
Groß war die Aufregung als die Douaniers, die Kommiesen wie wir sagten, die Zöllner also, bemerkten daß das Innere der Drehorgel zu einer geheimen Verschlußsache umgebaut worden war. Wo nur möglich hatte man in der Orgel Kilos der besten Bohnenkaffee versteckt. Man fuhr mit der Orgel über den Hellweg, überquerte die Staatsgrenze und verkaufte den Kaffee für einen guten Preis drüben in Preußen. Das war der gewinnbringende Plan, der aber scheiterte.

Zu tiefer Trauer, nicht nur der Drehorgelfamilie, sondern auch der ganzen Hellwegbelegschaft, wurde sowohl Drehorgel als Kaffeeinhalt konfisziert und beschlagnahmt. Der oberste anwesende Zöllner aber hatte ein Einsehen. Er zeigte sein gutes Herz, indem er den Drehorgelmeister noch einmal ein prächtiges Musikwerk spielen ließ, wobei seine Ehefrau noch einmal mit der Mütze in der Hand den Umstehenden um eine kleine Gabe bat. Den Erlaß durften sie behalten. So hatten sie wenigstens diesen Abend einiges zum verzehren. Ich wette, daß sie sich auch noch einen Schnaps gegönnt haben. Guter holländischer Jenever.


Auf dem Bild sehen Sie Hellweganwohner die sich zusammen mit deutschen und holländischen Zöllnern - mehrere haben ihre Uniformmützen einigen Nachbarsfrauen ausgeliehen - vor der Orgel postiert haben.

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Das mit Ihrem Dorf
gefällt mir außerordentlich gut. Vorboten zu einer solchen Euregio habe ich Anfang der siebziger Jahre am Rand von Aachen erlebt, wo es einen locker gehandhabten kleinen Grenzverkehr zwischen Belgien, der Bunderepublik Deutschland und den Niederlanden bereits gab. Kennengelernt hatte ich das, als ich, wie ich es fast immer mache, mit dem Auto die Gegend erkundend über Nebenstraßen ziellos herumfuhr und mich nach einigen Kilometern über die sich verändernde Architektur wunderte. Gelandet war ich dann im belgischen Eupen. Einen Grenzübergang hatte ich nicht überfahren

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