Mittwoch, 21. Januar 2015
Bagatelle 250 - Matthäus
Wenn man (a) seit einigen Jahren hier in dieser angenehmen blogger.de-Gemeinschaft ein Blog führt, (b) sich langweilt und (c) nichts Besseres zu tun weiß, kann sich immer noch auf seinem Blog anschauen ob und welche seiner Schreibprodukte gelesen werden. Das nun habe ich gemacht und dabei fiel mir etwas Besonderes auf. Sehen Sie selbst.

Hier unten sehen Sie eine Tabelle. Von den zwanzig meist gelesenen Bagatellen sehen wir auf einem Blick welche das sind und was ihre Rangposition innerhalb der zwanzig Auserwählten ist. Die Bagatelle 105 zum Beispiel, geschrieben am 17. Mai 2011 (wie die Zeit vergeht …) mit dem Titel: Hören und Sehen, war laut Angabe am 1. Januar 2013 559 Mal gelesen worden. Das war an diesem Datum die Rangposition 7. Am ersten Januari 2014 gestiegen auf 878 Leser(innen) wieder auf Platz 7. Dann am 1.1. diesen Jahres 2015 hochgeklettert auf die Zahl 1190 mit Rangposition 9 als Folge.
Von links: Bagatellennummer, Datum Veröffentlichung, Anzahl Leser(innen) am 1.1.2013 plus (Rangposition), Anzahl Leser(innen) am 1.1.2014 plus (Rangposition), Anzahl Leser(innen) am 1.1.2015 plus (Rangposition.

121 26-08-2011 1092 (01) 1830 (01) 2628 (01)
075 09-10-2010 0768 (03) 1302 (03) 2230 (02)
093 27-02-2011 0752 (04) 1287 (04) 2117 (03)
033 24-12-2009 0623 (05) 0975 (05) 2014 (04)
119 12-08-2011 0810 (02) 1386 (02) 1949 (05)
053 27-04-2010 0555 (08) 0887 (06) 1298 (06)
124 17-09-2011 0531 (11) 0839 (08) 1244 (07)
122 03-09-2011 0562 (06) 0790 (09) 1207 (08)
105 17-05-2011 0559 (07) 0878 (07) 1190 (09)
074 04-10-2010 0509 (13) 0775 (11) 1113 (10)
115 18-07-2011 0458 (14) 0724 (13) 1106 (11)
137 17-12-2011 0000 (18) 0664 (16) 1089 (12)
101 22-04-2011 0538 (10) 0788 (10) 1088 (13)
049 30-03-2010 0548 (09) 0682 (14) 1076 (14)
110 17-06-2011 0432 (16) 0618 (18) 1047 (15)
116 25-07-2011 0452 (15) 0634 (17) 1026 (16)
102 29-04-2011 0510 (12) 0765 (12) 1022 (17)
003 26-06-2009 0408 (17) 0675 (15) 0951 (18)
151 11-03-2012 0000 (20) 0000 (20) 0938 (19)
184 18-04-2013 0000 (19) 0617 (19) 0926 (20)

Eigentlich hasse ich diese Sorte von Informationen weil sie nichts aussagt über die eigentlich wichtigen Fragen. Wie: Wer waren diese Leser und Leserinnen? Was hat ihnen an der Bagatelle wohl oder nicht gefallen? Wurden Sie vielleicht von dieser Bagatelle überredet auch noch mal eine andere zu lesen oder hat man sich schwer enttäuscht zurückgezogen? Diese Sorte Fragen meine ich.

Lassen Sie mich dennoch zu der Tabelle zurückkehren. Mir fällt auf, dass es zwar Bagatellen gibt mit einer sowohl gemütlichen als auch rasanten Zunahme in den Leserzahlen. Drei Sachen finde ich sehr bemerkenswert. Erstens ist bei jeder Bagatelle die Rede von Zunahme. Es gibt keine Bagatelle die sozusagen von einem auf den anderen Tag aufhört Leser zu empfangen. (Ich stelle mich dann immer eine Frau Käthe Himmelfahrt aus Kreiden-auf-der-Heide vor, die sich unbemerkt und unverhofft in diesem Bagatellenblog verirrt hat und schnellstens wieder den Weg nach Hause sucht unter dem Ausruf: "Wo bin ich denn hier gelandet!")
Zweitens zeigt sich, dass die Rangpositionänderungen sich die Jahre über in Grenzen halten. Die Bagatellen die im Januar 2013 entweder vorne in der Reihe oder hinten standen (siehe die Zahlen zwischen Klammern) sind das am ersten Januar diesen Jahres meistens auch noch.
Drittens sehen wir, dass im allgemeinen die meist gelesenen Bagatellen mehr zunehmen als ihre Kolleginnen hinten auf der Skala. Der Abstand in nominalen Zahlen zwischen Platz 1 und Platz 20 wird immer größer. Die Bagatelle 102 (irgendwo hinten auf der Liste) zum Beispiel stieg von 510 Leser(innen) Anfang 2013 nach 1022 in Januar 2015. Die Bagatelle LXXV dagegen (oben auf Platz 4) stieg ums dreifache: von 768 auf 2230.

Was schließen wir daraus? Die unteren Bagatellen werden in der Regel ihre oben stehenden Kolleginnen niemals einholen, geschweige denn überholen. Die Kluft zwischen den meistgelesenen und den weniger gelesenen Bagatellen wird mit den Jahren größer und tiefer.

Nun etwas anderes, aber vergleichbares. Vor Jahren, wo ich an einer niederländischen Universität als Forscher mein trockenes Brot verdiente, hab ich in einer Stichprobe von 398 Grundschülern aus 24 Schulen untersucht wie sich ihre Lesefähigkeit entwickelt. Hier zeige ich Ihnen die Daten aus den Jahren 1978, 1981 und 1984. Die (immer dieselben) Kinder besuchten damals die respektiven Lehrjahre 1, 4 und 6 der Grundschule (jetzt Gruppe 3, 6 und 8 genannt).



Die doppelten grünen Linien stellen etwa die Untergrenze da; die doppelten Roten die Obergrenze. Alle Schüler finden irgendwo einen Platz zwischen den beiden Linien: die schwachen Leser an der Unterseite, die guten und hervorragenden Leser(innen) nahe der roten Linie.
Sie haben es natürlich bemerkt: álle Kinder, die schwache Leser(innen), die Mittelmaß und die guten Leser: alle zeigen über die Jahre eine Zunahme in ihrer Lesefähigkeit. (Die Messungen in den verschiedenen Jahren sind vergleichbar.) Nur: die Zunahme des Leseverständnisses und der Lesefähigkeit im allgemeinen ist bei den eh schon guten Schülern größer als bei den schwachen Schülern. Auch hier wird die Kluft zwischen guten und schwachen Lesern tiefer und mehr ausgeprägt. Man kann auch sagen und ich tue es auch, dass gute Schüler vielleicht mehr und besser profitieren vom Leseunterricht als schwache Leser.

Das bringt mich bei Matthäus. (Vielleicht haben Sie sich schon Gedanken gemacht über den Bagatellentitel. Was haben Bagatellenleserzahlen und Lesefähigkeitsdaten mit Matthäus zu tun?) Nun, der Evangelist Matthäus zitiert in seinem Bibelbuch (Kapittel 25) Jesus, der in Bezug auf das Nützen von Talenten folgendes gesagt haben will. "Denn wer da hat, dem wird gegeben werden und (er) wird die Fülle haben. Wer aber nichts hat, dem wird auch das er hat genommen werden." Mit Folge dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Über die Jahre wird der Abstand zwischen (bildlich) reich und arm immer größer.

Dieser sogenannte Matthäuseffekt tritt auch hervor in den neuesten Publikationen zum Beispiel von der OECD oder von der Oxfam-Novib Stiftung, wo gewarnt wird für die andauernde sich vertiefende Spaltung in der Gesellschaft. Vor allem in unserer kapitalorientierten westlichen Welt, aber nicht nur dort, wird die Trennung zwischen den haveꞌs und den have-notꞌs immer größer. Wir werden davor gewarnt und aufgerufen daran etwas zu tun. Denn es kann natürlich nicht sein, dass früh oder spät die Erde bevölkert wird von einer kleinen überreichen Elite, die 90% aller Reichtum, Kenntnis und Macht inne hat, während der große Rest in materieller und geistlicher Armut dahin vegetiert.
Oder?

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Treffend beschrieben.

Ähnliches geht mir durch den Kopf, wenn in Deutschland wieder einmal von Eliten- oder Hochbegabtenförderung die Rede ist. Wäre es nicht eigentlich nötig, denen zu helfen, die weder mit besonderer Begabung noch besonderen finanziellen Mitteln gesegnet sind? Wer von sich aus schon klug ist, kann sich aus eigener Kraft bereits besser mehr Wissen aneignen als ein anderer, und wer bereits reich ist, hat einen anderen Zugang zu noch mehr Reichtum. Es ist tragisch, dass das insbesondere in der Politik nicht gesehen wird...

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