Sonntag, 16. November 2014
Bagatelle 244 - Ausgerechnet ausgezeichnet!
terra40, 13:20h
Es ist vor Jahren schon einige Male passiert dass ich, in fernen Ländern angekommen, bemerkte mal wieder vergessen zu haben mir Geld in einer an der Gegend angepassten Währung zu besorgen. Schwierig, denn nicht immer und nicht überall kam man mit Gulden und Dollar weiter. Der erste Gang auf fremdem Boden führte dann zwangsweise Richtung Wechselstube. Eine Tabelle an der Wand erklärte mir wie viele Zloty, Lei, Shilling oder welche fremde Währung auch immer ich bekomme für lumpige einhundert niederländische Gulden. (Die Tatsache, dass es mehrere Wechselkurse gab und gibt: offizielle und weniger offizielle, lassen wir bequemlichkeitshalber für einen Moment beiseite.)
Das Umrechnen von einer Währung in die andere ist manchmal eine Qual. Oder wissen Sie sofort, ohne zu zögern und ohne den Kalkulator in ihrem Smartphone zu Hilfe zu rufen wie viele norwegische Kronen ihre 300 Euro wert sind?
Doch, ich habe früher in der Schule gelernt wie man Währungen umrechnet. Gulden in deutsche Marken, in englische Pfunden, in schwedische Kronen und in österreichische Schillingen. Und umgekehrt. Aber bis heute bin ich immer noch im Zweifel: ich kenne den heutigen Kurs, aber wie war es nochmal, muss man jetzt dividieren oder multiplizieren?
Theo Thijssen, 1879-1943, ein jetzt ziemlich unbekannter niederländischer Pädagoge-Schriftsteller-Politiker, antwortete einst auf die Frage, was er denn wohl gelernt habe in der Grundschule: “Lesen, Schreiben und sonst einige kleine Sachen.“
Zu den sonstigen Sachen hat nebst Lesen und Schreiben sicher auch das Rechnen gehört. Dass zehnjährige Kinder vor hundert Jahren in der holländischen Grundschule rechnen konnten, und zwar alles ohne Kalkulator, möchte ich Ihnen beweisen anhand einer Seite aus dem Rechnen Schulheft (5. Klasse) meines Schwiegeronkels Johan W(esterveld). Er hat es für uns aufbewahrt.
Es ist ein schöner Sommermorgen, dieser 19. Juli im Jahre 1913. Herr Lehrer K(oerselman) hat das Wort.
“Und jetzt die Aufgabe 5. Liebe Kinder, ihr sieht hier eine Tabelle mit acht Kolumnen und sechs Reihen. Die Kolumnen sind Münzen die ihr alle kennt, und zwar von links: gros, cent, stuiver, halve gros, halve cent, kwartje, mark en halve stuiver. Für die zukünftigen Bagatellleser(innen) sag ich, dass der Wert eines gros, eines stuivers, eines kwartjes und einer mark respektive 6, 5, 25 und 60 Cents beträgt. Ihr seht, dass ganz links in der gros-Kolumne schon Zahlen eingeführt worden sind, z.B. in der dritten Reihe 49 gros. Jetzt an Euch die Frage: wieviel Cents sind 49 gros? Und wieviel stuivers, wieviel halve gros, und so weiter und sofort. Zeichnet bitte mit Bleistift die Tabelle nach in euren Rechenheften und versucht die Zellen in der Tabelle alle auszufüllen.“ (Sie merken: Der Herr Lehrer K. spricht ein ebenso schlechtes Deutsch als der Bagatellenschreiber es schreibt..)
Der damals zehnjährige, spätere Schwiegeronkel Johan setzt sich an die Arbeit und als er das Resultat dem Lehrer vorlegt, staunt dieser nicht schlecht. Der Johan hat die schwierige Aufgabe fehlerfrei gelöst. Hut ab! Gut gemacht Johan! rufen wir alle dem Rechenmeister zu. Und der Lehrer K. schreibt in roter Tinte quer durch die gelungene Prüfung das Wort GOED! Und darunter schreibt er das Datum. Es ist tatsächlich der 19. Juli 1913, ein schöner Sommertag, noch vor dem großen, ersten Weltkrieg.
Das waren noch Zeiten wo die Kinder in der Schule etwas richtig Vernünftiges lernten, seufzten hundert Jahre später die unverbesserlich Konservativen.
Das Umrechnen von einer Währung in die andere ist manchmal eine Qual. Oder wissen Sie sofort, ohne zu zögern und ohne den Kalkulator in ihrem Smartphone zu Hilfe zu rufen wie viele norwegische Kronen ihre 300 Euro wert sind?
Doch, ich habe früher in der Schule gelernt wie man Währungen umrechnet. Gulden in deutsche Marken, in englische Pfunden, in schwedische Kronen und in österreichische Schillingen. Und umgekehrt. Aber bis heute bin ich immer noch im Zweifel: ich kenne den heutigen Kurs, aber wie war es nochmal, muss man jetzt dividieren oder multiplizieren?
Theo Thijssen, 1879-1943, ein jetzt ziemlich unbekannter niederländischer Pädagoge-Schriftsteller-Politiker, antwortete einst auf die Frage, was er denn wohl gelernt habe in der Grundschule: “Lesen, Schreiben und sonst einige kleine Sachen.“
Zu den sonstigen Sachen hat nebst Lesen und Schreiben sicher auch das Rechnen gehört. Dass zehnjährige Kinder vor hundert Jahren in der holländischen Grundschule rechnen konnten, und zwar alles ohne Kalkulator, möchte ich Ihnen beweisen anhand einer Seite aus dem Rechnen Schulheft (5. Klasse) meines Schwiegeronkels Johan W(esterveld). Er hat es für uns aufbewahrt.
Es ist ein schöner Sommermorgen, dieser 19. Juli im Jahre 1913. Herr Lehrer K(oerselman) hat das Wort.
“Und jetzt die Aufgabe 5. Liebe Kinder, ihr sieht hier eine Tabelle mit acht Kolumnen und sechs Reihen. Die Kolumnen sind Münzen die ihr alle kennt, und zwar von links: gros, cent, stuiver, halve gros, halve cent, kwartje, mark en halve stuiver. Für die zukünftigen Bagatellleser(innen) sag ich, dass der Wert eines gros, eines stuivers, eines kwartjes und einer mark respektive 6, 5, 25 und 60 Cents beträgt. Ihr seht, dass ganz links in der gros-Kolumne schon Zahlen eingeführt worden sind, z.B. in der dritten Reihe 49 gros. Jetzt an Euch die Frage: wieviel Cents sind 49 gros? Und wieviel stuivers, wieviel halve gros, und so weiter und sofort. Zeichnet bitte mit Bleistift die Tabelle nach in euren Rechenheften und versucht die Zellen in der Tabelle alle auszufüllen.“ (Sie merken: Der Herr Lehrer K. spricht ein ebenso schlechtes Deutsch als der Bagatellenschreiber es schreibt..)
Der damals zehnjährige, spätere Schwiegeronkel Johan setzt sich an die Arbeit und als er das Resultat dem Lehrer vorlegt, staunt dieser nicht schlecht. Der Johan hat die schwierige Aufgabe fehlerfrei gelöst. Hut ab! Gut gemacht Johan! rufen wir alle dem Rechenmeister zu. Und der Lehrer K. schreibt in roter Tinte quer durch die gelungene Prüfung das Wort GOED! Und darunter schreibt er das Datum. Es ist tatsächlich der 19. Juli 1913, ein schöner Sommertag, noch vor dem großen, ersten Weltkrieg.
Das waren noch Zeiten wo die Kinder in der Schule etwas richtig Vernünftiges lernten, seufzten hundert Jahre später die unverbesserlich Konservativen.
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Donnerstag, 6. November 2014
Bagatelle 243 - Marmor, Glas und Blech
terra40, 15:28h
Wenn das Geld fehlt um sich mit wirklich schönen Sachen zu bereichern, begnüge man sich mit Surrogat. So etwa muss meine Schwiegergroßmutter gedacht haben als sie sich nach neuem Waschmobiliar umsah: sie fand schließlich einen kleinen Tisch mit aufstehendem Spiegel und dazu passendem Regal. Die Tischplatte und die Spiegelumrandung sind bei Leibe nicht aus feinem italienischen Marmor wie es den Anschein hat. Beim näheren Betrachten sieht man es auch: es ist eine Fälschung, weil nur schlichtes, bemaltes Kiefernholz. Ein Quasi-Fachmann, in einer Mischung von grobem Anstreicherkönnen und feinsinniger Malermeistertätigkeit, hat versucht uns reinzulegen.
In dem (schwieger)großelterlichen Schlafzimmer hat sich in dem letzten Jahrhundert – außer der eingetretener Zentralheizung vor vierzig Jahren – fast nichts geändert. Das Waschmobiliar mit der unechten Marmortischplatte steht immer noch an seinem geordneten Platz. Und die Waschutensilien sind alle noch da. Nur das wichtigste fehlt: das Wasser. (Dieses Schlafzimmer war nie auf der Wasserleitung angeschlossen. Man holte sich das Wasser aus der benachbarten Küche.)
Das Glaswerk auf dem kleinen Regal besteht vornehmlich aus einigen kölnisch-Wasser-Fläschen. Nur ist die Marke nicht 4711, sondern die eines der Konkurrenten mit Namen Tosca. Man sieht es vor sich. Am Sonntagmorgen, vor dem Kirchgang, stellt sich die Großmutter vor dem Spiegel, begutachtet ihr Aussehen und gießt vorsichtig einige köstliche Toscatropfen auf ihr frischgebügeltes weißes Taschentuch. Diese Prozedur ließe sich Anno 2014 wiederholen, denn die Flasche ist noch halb voll. Wenn sie den kleinen Schraubdeckel aufdrehen, kommt Ihnen der unverkennbare Tosca(ner)duft entgegen, auch jetzt noch.
In dem kleinen Behälter aus Steingut befinden sich einige merkwürdig anmutende Stückchen Blech. Es sind eine Art Quittungsmarken, metallene Bescheinigungen, die beweisen sollen, dass man die Fahradsteuer für einen bestimmten Zeitraum bezahlt hat. Diese Blechmarken sind aus den Jahren 1934/35. Doch, auch damals gab es schon eine Maut. Nicht von deutschen Besserwissern uns, eifrigen Grenzgängern, auferlegt, sondern von der eigenen, holländischen, Steuerbehörde verordnet. Ich vermute dass dieser Blechstreifen, nachdem er beim Steueramt für teures Geld erworben war, irgendwo am Fahrrad befestigt wurde. Wahrscheinlich wurde eine Stange feierlich umklemmt.
Das Schlafzimmer wurde seit Lebens immer von meinen Schwieger(groß)eltern benutzt. Jetzt nur noch selten, wenn liebe Gäste einen Platz zum Schlafen brauchen. Dann erzähl ich denen auch immer die Geschichte von Marmor, Glas und Blech.
In dem (schwieger)großelterlichen Schlafzimmer hat sich in dem letzten Jahrhundert – außer der eingetretener Zentralheizung vor vierzig Jahren – fast nichts geändert. Das Waschmobiliar mit der unechten Marmortischplatte steht immer noch an seinem geordneten Platz. Und die Waschutensilien sind alle noch da. Nur das wichtigste fehlt: das Wasser. (Dieses Schlafzimmer war nie auf der Wasserleitung angeschlossen. Man holte sich das Wasser aus der benachbarten Küche.)
Das Glaswerk auf dem kleinen Regal besteht vornehmlich aus einigen kölnisch-Wasser-Fläschen. Nur ist die Marke nicht 4711, sondern die eines der Konkurrenten mit Namen Tosca. Man sieht es vor sich. Am Sonntagmorgen, vor dem Kirchgang, stellt sich die Großmutter vor dem Spiegel, begutachtet ihr Aussehen und gießt vorsichtig einige köstliche Toscatropfen auf ihr frischgebügeltes weißes Taschentuch. Diese Prozedur ließe sich Anno 2014 wiederholen, denn die Flasche ist noch halb voll. Wenn sie den kleinen Schraubdeckel aufdrehen, kommt Ihnen der unverkennbare Tosca(ner)duft entgegen, auch jetzt noch.
In dem kleinen Behälter aus Steingut befinden sich einige merkwürdig anmutende Stückchen Blech. Es sind eine Art Quittungsmarken, metallene Bescheinigungen, die beweisen sollen, dass man die Fahradsteuer für einen bestimmten Zeitraum bezahlt hat. Diese Blechmarken sind aus den Jahren 1934/35. Doch, auch damals gab es schon eine Maut. Nicht von deutschen Besserwissern uns, eifrigen Grenzgängern, auferlegt, sondern von der eigenen, holländischen, Steuerbehörde verordnet. Ich vermute dass dieser Blechstreifen, nachdem er beim Steueramt für teures Geld erworben war, irgendwo am Fahrrad befestigt wurde. Wahrscheinlich wurde eine Stange feierlich umklemmt.
Das Schlafzimmer wurde seit Lebens immer von meinen Schwieger(groß)eltern benutzt. Jetzt nur noch selten, wenn liebe Gäste einen Platz zum Schlafen brauchen. Dann erzähl ich denen auch immer die Geschichte von Marmor, Glas und Blech.
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Samstag, 30. August 2014
Bagatelle 237 - Jahrhundertgesang
terra40, 21:42h
Vor einigen Tagen brachte eine alte Bekannte mir ein ebenso altes Foto mit dem Bildnis einer jungen Frau. Das Bild kam, so sagte die Bekannte, aus dem Nachlass verstorbener gegenseitiger Verwandten. Es wurde vermutet, immer noch laut der Bekannten, dass es jemand aus meiner eigenen Verwandtschaft sein könnte. Meine Mutter vielleicht?
Sicher, das ist sie. Unverkennbar. Meine Mutter. An diesem Tag hat sie sich, in schönen Stücken gekleidet, dem Fotografen und somit auch uns allen bildlich preisgegeben. Sie zeigt sich uns wie sie ist und auch wie sie von uns gesehen werden möchte, denn offenbar ist ihrer Meinung nach dem Fotografen eine schöne Aufnahme gelungen, was wir sehr bejahen. Sicherlich hat die ganze Verwandtschaft und die Freundinnenschar solch ein Bild bekommen. Damit sie nicht vergessen werde, nun nicht und später auch nicht. So wie sie selber auch Fotos hat von allen Tanten, Kusinen und Freundinnen, wenn vorrätig vielleicht mit Ehemann.
Als die liebe Bekannte und ich uns über dieses Foto unterhielten, fiel mir ein anderes Bild ein. Ein gemischter Gesangsverein ist zu sehen. Meine Mutter war Mitglied dieses Vereins und wenn Sie gut schauen, könnten Sie sie irgendwo in der ersten Reihe finden. Wenn die Töne ebenso geklungen haben wie die Gesichter und Anzüge der geschätzten Mitglieder aussehen, muss es wohl eine ziemlich feierliche und wenig fröhliche Angelegenheit gewesen sein.
Beide Fotos stammen in etwa aus denselben Jahren, so um 1916, mitten im ersten Weltkrieg. Sie sind also fast einhundert Jahre alt. Mich interessiert nun auch, wás der Chor damals gesungen hat. Welches Repertoire? Waren es wirklich klassische Schubertlieder oder mehr heitere Frühlingsgesänge? Aus dem Chornamen lässt sich ableiten dass die Chormitglieder aus evangelischen/christlichen Häusern kamen. Der Chor hieß nämlich: SDG, eine Abkürzung von Soli Deo Gloria. Und für alle die das Lateinische verlernt haben gibt es sofort die Übersetzung: Allein Gott sei geehrt. Es war allerdings kein Kirchenchor.
Der Zufall will, dass von einigen Chordarbietungen aus jenen Zeiten das Programm erhalten ist. So auch vom Konzert am Neujahrstag, den 1. Januar 1916, das in der Dorfkirche zu D. zu hören war. Wie ein solches Konzertprogramm allerhand und unerwartete neue Einsichten in der damaligen Chorpraxis bietet! Zuerst nenne und übersetze ich Ihnen die diversen Chorbeiträge.
1. Kirchenlied
2. Werkmannslied
3. Vaterlandsgruß (von den männlichen Chormitgliedern gesungen)
4. Des Seemannes Los (solo)
5. (Mozarts) Ave Verum
6. Hört ihr die wilden Wellen?
7. Sommerabendlied
8. O, als ich noch ein Kind war
9. Wenn die Schwalbe uns verlässt (solo)
10. Wanderlied
11. Abendstimmen (Quartett)
12. Die Nachtigall
13. Volkshymne (Männerchor)
Offenbar wurde der Gesangsreigen kurz vor der Pause von einer Rede unterbrochen. Das Thema des geschätzten Redners war: das Schöne in der Verherrlichung Gottes. (Ich sehe es schon vor mir: Dutzende von Zuhörer(innen) welche die teuren Worte über sich her gehen lassen und die sich prustend und hustend nach der kommenden Pause sehnen, wo sie sich mit alten Bekannten unterhalten können.)
Was wir auch sagen mögen: das Konzert war sehr abwechslungsreich. Interessant ist auch die Mitteilung dass eine Eintrittskarte im Vorverkauf 25 Cents kostete; wenn ein Sitzplatz reserviert werden sollte immerhin 50 Cents.
Was wir auch gerne hören ist die strenge Anweisung auf dem Programm, dass das Rauchen in der Kirche zu unterlassen sei.
Vieles was so ein altes Bild hervorruft! Wir wissen jetzt wie der Chor aussah und was man sang. Fehlt noch die Beantwortung der Frage: und wie wurde das alles gesungen? Mühsam, grob und falsch oder hell, klar und sauber?
Sicher, das ist sie. Unverkennbar. Meine Mutter. An diesem Tag hat sie sich, in schönen Stücken gekleidet, dem Fotografen und somit auch uns allen bildlich preisgegeben. Sie zeigt sich uns wie sie ist und auch wie sie von uns gesehen werden möchte, denn offenbar ist ihrer Meinung nach dem Fotografen eine schöne Aufnahme gelungen, was wir sehr bejahen. Sicherlich hat die ganze Verwandtschaft und die Freundinnenschar solch ein Bild bekommen. Damit sie nicht vergessen werde, nun nicht und später auch nicht. So wie sie selber auch Fotos hat von allen Tanten, Kusinen und Freundinnen, wenn vorrätig vielleicht mit Ehemann.
Als die liebe Bekannte und ich uns über dieses Foto unterhielten, fiel mir ein anderes Bild ein. Ein gemischter Gesangsverein ist zu sehen. Meine Mutter war Mitglied dieses Vereins und wenn Sie gut schauen, könnten Sie sie irgendwo in der ersten Reihe finden. Wenn die Töne ebenso geklungen haben wie die Gesichter und Anzüge der geschätzten Mitglieder aussehen, muss es wohl eine ziemlich feierliche und wenig fröhliche Angelegenheit gewesen sein.
Beide Fotos stammen in etwa aus denselben Jahren, so um 1916, mitten im ersten Weltkrieg. Sie sind also fast einhundert Jahre alt. Mich interessiert nun auch, wás der Chor damals gesungen hat. Welches Repertoire? Waren es wirklich klassische Schubertlieder oder mehr heitere Frühlingsgesänge? Aus dem Chornamen lässt sich ableiten dass die Chormitglieder aus evangelischen/christlichen Häusern kamen. Der Chor hieß nämlich: SDG, eine Abkürzung von Soli Deo Gloria. Und für alle die das Lateinische verlernt haben gibt es sofort die Übersetzung: Allein Gott sei geehrt. Es war allerdings kein Kirchenchor.
Der Zufall will, dass von einigen Chordarbietungen aus jenen Zeiten das Programm erhalten ist. So auch vom Konzert am Neujahrstag, den 1. Januar 1916, das in der Dorfkirche zu D. zu hören war. Wie ein solches Konzertprogramm allerhand und unerwartete neue Einsichten in der damaligen Chorpraxis bietet! Zuerst nenne und übersetze ich Ihnen die diversen Chorbeiträge.
1. Kirchenlied
2. Werkmannslied
3. Vaterlandsgruß (von den männlichen Chormitgliedern gesungen)
4. Des Seemannes Los (solo)
5. (Mozarts) Ave Verum
6. Hört ihr die wilden Wellen?
7. Sommerabendlied
8. O, als ich noch ein Kind war
9. Wenn die Schwalbe uns verlässt (solo)
10. Wanderlied
11. Abendstimmen (Quartett)
12. Die Nachtigall
13. Volkshymne (Männerchor)
Offenbar wurde der Gesangsreigen kurz vor der Pause von einer Rede unterbrochen. Das Thema des geschätzten Redners war: das Schöne in der Verherrlichung Gottes. (Ich sehe es schon vor mir: Dutzende von Zuhörer(innen) welche die teuren Worte über sich her gehen lassen und die sich prustend und hustend nach der kommenden Pause sehnen, wo sie sich mit alten Bekannten unterhalten können.)
Was wir auch sagen mögen: das Konzert war sehr abwechslungsreich. Interessant ist auch die Mitteilung dass eine Eintrittskarte im Vorverkauf 25 Cents kostete; wenn ein Sitzplatz reserviert werden sollte immerhin 50 Cents.
Was wir auch gerne hören ist die strenge Anweisung auf dem Programm, dass das Rauchen in der Kirche zu unterlassen sei.
Vieles was so ein altes Bild hervorruft! Wir wissen jetzt wie der Chor aussah und was man sang. Fehlt noch die Beantwortung der Frage: und wie wurde das alles gesungen? Mühsam, grob und falsch oder hell, klar und sauber?
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Samstag, 21. Dezember 2013
Bagatelle 211 - Quiltweihnachten
terra40, 14:59h
Überall, wo sich Menschen mit gleichen Interessen treffen und einen Verein bilden, sieht man nach einiger Zeit mindestens zwei Strömungen entstehen. Subgruppen die alle ihre eigenen minder oder mehr legitimen Interessen vertreten haben wollen. Sehr grob gesagt kann man sie unterscheiden in liberalen und konservativen. Die ersten stehen offen für zeitlich bedingten Änderungen; die zweiten belassen alles am liebsten beim alten. Manchmal leben sie ruhig und friedlich neben einander her; manchmal schlagen sie sich die Köpfe ein.
Patchwork und Quilting (alles neudeutsch) sind bekanntlich nützliche Textilarbeiten, meist von kreativen Frauenhänden erledigt. Kleinere Stoffstücke aus Baumwolle, Seide, Leinen oder sonstigen Materialien werden zu größeren Flächen zusammengenäht. Beim quilten werden obendrein drei Schichten mit feinen, zierlichen Stichen beisammen gehalten. Es entstehen wunderschöne Wandteppiche oder Zierdecken.
Die eher konservativen in der Quiltgemeinde beharren auf das alte traditionelle Handwerk; sie bevorzugen die herkömmliche Techniken und Muster. Die mehr liberal Eingestellten entwickeln daneben neue, künstlerische Formen.
Meine in 2012 verstorbene Gattin war eine leidenschaftliche Quilterin. Sie war Begründerin einer Quiltgruppe, welche monatlich bei uns im Hof zusammenkam um neue Quiltideen zu beraten und auszuprobieren. Der Quilt, den ich Ihnen hier unten zeige, ist 2013 von diesem Quiltfreundeskreis gemacht worden. Die Damen haben, mit Stoffen die meine Frau hinterlassen hat, einen Erinnerungsquilt zusammengestellt. Jedes Gruppenmitglied hat daran mitgewirkt. September diesen Jahres hat die Gruppe mir diesen Quilt angeboten. Seitdem hängt er – hergestellt in der eher konservativen Tradition, aber trotzdem wunderschön - in der Diele wo er von mir und allen Besuchern bewundert wird.
Mit diesem Bild meines Erinnerungsquilts wünsche ich allen Bagatellen-Leserinnen und –Leser frohe Weihnachten!
Patchwork und Quilting (alles neudeutsch) sind bekanntlich nützliche Textilarbeiten, meist von kreativen Frauenhänden erledigt. Kleinere Stoffstücke aus Baumwolle, Seide, Leinen oder sonstigen Materialien werden zu größeren Flächen zusammengenäht. Beim quilten werden obendrein drei Schichten mit feinen, zierlichen Stichen beisammen gehalten. Es entstehen wunderschöne Wandteppiche oder Zierdecken.
Die eher konservativen in der Quiltgemeinde beharren auf das alte traditionelle Handwerk; sie bevorzugen die herkömmliche Techniken und Muster. Die mehr liberal Eingestellten entwickeln daneben neue, künstlerische Formen.
Meine in 2012 verstorbene Gattin war eine leidenschaftliche Quilterin. Sie war Begründerin einer Quiltgruppe, welche monatlich bei uns im Hof zusammenkam um neue Quiltideen zu beraten und auszuprobieren. Der Quilt, den ich Ihnen hier unten zeige, ist 2013 von diesem Quiltfreundeskreis gemacht worden. Die Damen haben, mit Stoffen die meine Frau hinterlassen hat, einen Erinnerungsquilt zusammengestellt. Jedes Gruppenmitglied hat daran mitgewirkt. September diesen Jahres hat die Gruppe mir diesen Quilt angeboten. Seitdem hängt er – hergestellt in der eher konservativen Tradition, aber trotzdem wunderschön - in der Diele wo er von mir und allen Besuchern bewundert wird.
Mit diesem Bild meines Erinnerungsquilts wünsche ich allen Bagatellen-Leserinnen und –Leser frohe Weihnachten!
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Sonntag, 23. Juni 2013
Bagatelle 190 - Unpassendes Familienbild
terra40, 15:45h
Kürzlich, an einem Sonntagabend, geht das Telefon.
"Lieber Herr Terra, ich rufe Sie an wegen einer einigermaßen verzwickten Geschichte welche ich Ihnen in kürze erzählen werde, wenn Sie denn Zeit für mich haben.
Die Sache ist folgendermaßen. Mein Name ist Herr Henk G. Wohnhaft in Amstelveen, das liegt in der Nähe von Amsterdam wie Sie natürlich wissen. Vor sehr vielen Jahren, es war die Zeit der Besatzung, im Kriegsjahr 1943, fuhr meine Mutter auf dem Fahrrad (mit den massiven Reifen) in die östliche Niederlande um bei den dort lebenden Bauern Nahrung und Essen zu kaufen. Wie so viele andere aus den Städten. Nach einer Fahrt von rund 150 Km erreichte sie die Gegend wo Sie jetzt wohnen. Und, raten Sie mal, sie landete bei einem freundlichen Bauern der denselben Nachnamen trug wie Sie! Ich weiß das genau, denn ein Jahr später, in 1944, begleitete ich meiner Mutter auf derselben Strecke. Ich war damals zehn Jahre alt. Ihre Gegend war für mich ein Land voll Milch und Honig. Der Bauer erlaubte uns so viele Pflaumen zu essen wie wir mochten!
Später, nach dem Kriege, sind wir mit unserer Familie noch einige Male in ihre Gegend gezogen. Die Kontakte blieben bis sie, wie das manchmal so geht, plötzlich abbrachen. Bei einem unserer Besuche hat mein Vater diese Familienbilder von der hilfsbereiten Bauersfamilie gemacht die ich Ihnen, als Beilage in einem e-mail, zeigen werde. Ich fand die Bilder beim aufräumen zuhause. Könnte das Ihre Familie sein? Oder, kennen Sie vielleicht diese Leute? Ich weiß nicht mal mehr wie diese sehr hilfsbereite Bauersleute mit Vornamen hießen, nur meine ich daß die Bauersfrau Trui oder Trude hieß."
Ich öffne die Beilage bei der gesandten e-mail und sehe die Bilder. Das erste zeigt ein Ehepaar das schüchtern gegen die Sonne schaut. Das andere zeigt mir offenbar Vater und Söhne. Obwohl sie meinen Nachnamen tragen, sind es keine Verwandten. Ich kenne die Familie nicht. Durch nachfragen, nachlesen, nachdenken, abwägen, reduzieren und deduzieren folgere ich schließlich zu dieser Auffassung welche ich dem Herrn Henk G. aus Amstelveen, Jahrgang 1934, fast 80 also, vorlege.
"Lieber Herr Henk G. Nein, es sind nicht meine Verwandten und ich kenne die Leute nicht. Aber mit 90% Sicherheit möchte ich behaupten, daß diese Familie sehr wohl in unserer Gegend gewohnt hat. Der Bauer heißt mit Vorname Arend-Jan und seine Frau heißt in der Tat Trui (Gertrude auf Deutsch). Sie wohnten auf einem Bauernhof hier in der Gegend, sind aber um 1970 umgezogen. Die Frau verstarb in 1976 und der Bauer selber in den neunziger Jahren. Wo die Söhne abgekommen sind, ob die noch leben und wie und wo, weiß ich leider nicht."
Soweit die Geschichte. Nur noch zwei Kurzbemerkungen.
(1) Diese Bagatelle nennt sich ein unpassendes Familienbild. Das verweist nur auf die Tatsache daß die Verbindung zwischen Bild und Geschichte in meinem Fall nicht zutrifft. Daß der Herr Henk G. aus Amstelveen sich Mühe macht um diese Verbindung wohl herzustellen ist ganz und gar nicht unpassend, sondern sehr lobenswert und liebenswürdig. Und welch eine herrliche Geschichte ergibt sich aus solch einer Suchtour!
(2) Von einem der abgebildeten Söhne weiß ich, daß der auf der Landwirtschaftsschule schon als fleißig und gutmütig, aber auch als nicht sehr intelligent angesehen wurde. Dennoch, sagte der Schuldirektor einst zu mir: das wird ein guter Bauer. Wenn abends mal die Kühe im Stall sich unwohl fühlen und viel Lärm machen, geht der in den Stall und sofort kehrt Ruhe ein. Die Kühe wissen genau wen sie vertrauen können.
"Lieber Herr Terra, ich rufe Sie an wegen einer einigermaßen verzwickten Geschichte welche ich Ihnen in kürze erzählen werde, wenn Sie denn Zeit für mich haben.
Die Sache ist folgendermaßen. Mein Name ist Herr Henk G. Wohnhaft in Amstelveen, das liegt in der Nähe von Amsterdam wie Sie natürlich wissen. Vor sehr vielen Jahren, es war die Zeit der Besatzung, im Kriegsjahr 1943, fuhr meine Mutter auf dem Fahrrad (mit den massiven Reifen) in die östliche Niederlande um bei den dort lebenden Bauern Nahrung und Essen zu kaufen. Wie so viele andere aus den Städten. Nach einer Fahrt von rund 150 Km erreichte sie die Gegend wo Sie jetzt wohnen. Und, raten Sie mal, sie landete bei einem freundlichen Bauern der denselben Nachnamen trug wie Sie! Ich weiß das genau, denn ein Jahr später, in 1944, begleitete ich meiner Mutter auf derselben Strecke. Ich war damals zehn Jahre alt. Ihre Gegend war für mich ein Land voll Milch und Honig. Der Bauer erlaubte uns so viele Pflaumen zu essen wie wir mochten!
Später, nach dem Kriege, sind wir mit unserer Familie noch einige Male in ihre Gegend gezogen. Die Kontakte blieben bis sie, wie das manchmal so geht, plötzlich abbrachen. Bei einem unserer Besuche hat mein Vater diese Familienbilder von der hilfsbereiten Bauersfamilie gemacht die ich Ihnen, als Beilage in einem e-mail, zeigen werde. Ich fand die Bilder beim aufräumen zuhause. Könnte das Ihre Familie sein? Oder, kennen Sie vielleicht diese Leute? Ich weiß nicht mal mehr wie diese sehr hilfsbereite Bauersleute mit Vornamen hießen, nur meine ich daß die Bauersfrau Trui oder Trude hieß."
Ich öffne die Beilage bei der gesandten e-mail und sehe die Bilder. Das erste zeigt ein Ehepaar das schüchtern gegen die Sonne schaut. Das andere zeigt mir offenbar Vater und Söhne. Obwohl sie meinen Nachnamen tragen, sind es keine Verwandten. Ich kenne die Familie nicht. Durch nachfragen, nachlesen, nachdenken, abwägen, reduzieren und deduzieren folgere ich schließlich zu dieser Auffassung welche ich dem Herrn Henk G. aus Amstelveen, Jahrgang 1934, fast 80 also, vorlege.
"Lieber Herr Henk G. Nein, es sind nicht meine Verwandten und ich kenne die Leute nicht. Aber mit 90% Sicherheit möchte ich behaupten, daß diese Familie sehr wohl in unserer Gegend gewohnt hat. Der Bauer heißt mit Vorname Arend-Jan und seine Frau heißt in der Tat Trui (Gertrude auf Deutsch). Sie wohnten auf einem Bauernhof hier in der Gegend, sind aber um 1970 umgezogen. Die Frau verstarb in 1976 und der Bauer selber in den neunziger Jahren. Wo die Söhne abgekommen sind, ob die noch leben und wie und wo, weiß ich leider nicht."
Soweit die Geschichte. Nur noch zwei Kurzbemerkungen.
(1) Diese Bagatelle nennt sich ein unpassendes Familienbild. Das verweist nur auf die Tatsache daß die Verbindung zwischen Bild und Geschichte in meinem Fall nicht zutrifft. Daß der Herr Henk G. aus Amstelveen sich Mühe macht um diese Verbindung wohl herzustellen ist ganz und gar nicht unpassend, sondern sehr lobenswert und liebenswürdig. Und welch eine herrliche Geschichte ergibt sich aus solch einer Suchtour!
(2) Von einem der abgebildeten Söhne weiß ich, daß der auf der Landwirtschaftsschule schon als fleißig und gutmütig, aber auch als nicht sehr intelligent angesehen wurde. Dennoch, sagte der Schuldirektor einst zu mir: das wird ein guter Bauer. Wenn abends mal die Kühe im Stall sich unwohl fühlen und viel Lärm machen, geht der in den Stall und sofort kehrt Ruhe ein. Die Kühe wissen genau wen sie vertrauen können.
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Mittwoch, 7. November 2012
Bagatelle 170 - Hochachtungsvoll gezeichnet
terra40, 12:30h
Mein Vater war ein guter Zeichner, ein sehr guter sogar. Das sagte ein jeder der wohl einmal eine seiner Radierungen gesehen hatte. Das sagten auch die Abiturexaminatoren welche im Jahre 1920 - so lange ist's her - seine Radierung bei der Abschlußprüfung im Zeichnen mit einer Zehn (eine 10: die best denkbare Note) benoteten.
Das mag uns heute fremd und übertrieben vorkommen, aber es besteht immer die Möglichkeit zu einer erneuten Wertschätzung, denn mein Vaters Radierungen sind irgendwo in familiären Schränken aufbewahrt worden, so daß wir auch jetzt noch feststellen können, daß das Examenurteil der damaligen Sachverständigen auch heute noch zutrifft.
Also, mein Vater zeichnete, besser gesagt: er zeichnete nach. Fand er irgendwo ein passendes Bild (eine Photographie, so schrieb man das damals) dann wurde die abgebildete Person von ihm mit Bleistift, in schwarz und weiß mit allen dazwischen liegenden Grautönen (nach)gezeichnet und für die Ewigkeit aufgehoben. Die Abgebildeten (Politiker, Künstler, etc) waren Leute vor denen man aus Ehrfurcht den Hut zieht und die man hochachtungsvoll grüßt. Selbst hab' ich wenig Ahnung und noch weniger Verstand von diesen Sachen, aber mein Auge sagt mir daß es auf dieser Abbildungswelt schlechteres gibt. Manchmal posiert eine Person etwas steif und sichtlich ungemütlich, aber das ist nicht notwendigerweise die Schuld des Künstlers, vermag ich zu behaupten.
Genug der Geschichte, es ist Zeit für Beispiele. Aus der Reihe: niederländische Politiker zwischen zwei Weltkriegen, sehen wir hier unten den damaligen Premier-Minister Hendrik Colijn, ein lupenreiner Christ-Demokrat. Damals, um 1935, bestimmte er so gut er konnte und wollte die Geschicke des Staates.
Weiter blätternd in der Sammlung sehen wir dann einen gewissen Herrn Posthuma. An dieser Stelle zögerte mein Vater wenn er uns, den kleinen, die weiteren Hintergründe erzählte. Die Zeichnung stammte aus 1933, aber der Herr Posthuma war zehn Jahre später, unter der deutschen Besatzung, Landwirtschaftsminister, und wurde 1943 wegen seiner Kollaboration von der hiesigen Resistance liquidiert. Die Ironie will, daß er, wie es der Brauchtum forderte, trotzdem mit allen Ehren von der Nachbarschaft zu Grabe getragen wurde.
Sowohl die Kollaboration als die Liquidierung sind gewiß nicht zu verzeihende Tatsachen. Und mein Vater schämte sich förmlich daß er die Zeichnung noch immer aufbewahrt hatte.
Schließen wir ab mit etwas fröhlicherem. Sie zeigen eine andere Seite meines Vaters. Erstens war er manchmal sehr humorvoll und zweitens liebte er Kinder, wenn er auch zögerte es zuzugeben. Davon zeugen diese zwei Zeichnungen welche ich Ihnen hierbei ehrfurchtsvoll und mit aller Hochachtung vorlege.
Das mag uns heute fremd und übertrieben vorkommen, aber es besteht immer die Möglichkeit zu einer erneuten Wertschätzung, denn mein Vaters Radierungen sind irgendwo in familiären Schränken aufbewahrt worden, so daß wir auch jetzt noch feststellen können, daß das Examenurteil der damaligen Sachverständigen auch heute noch zutrifft.
Also, mein Vater zeichnete, besser gesagt: er zeichnete nach. Fand er irgendwo ein passendes Bild (eine Photographie, so schrieb man das damals) dann wurde die abgebildete Person von ihm mit Bleistift, in schwarz und weiß mit allen dazwischen liegenden Grautönen (nach)gezeichnet und für die Ewigkeit aufgehoben. Die Abgebildeten (Politiker, Künstler, etc) waren Leute vor denen man aus Ehrfurcht den Hut zieht und die man hochachtungsvoll grüßt. Selbst hab' ich wenig Ahnung und noch weniger Verstand von diesen Sachen, aber mein Auge sagt mir daß es auf dieser Abbildungswelt schlechteres gibt. Manchmal posiert eine Person etwas steif und sichtlich ungemütlich, aber das ist nicht notwendigerweise die Schuld des Künstlers, vermag ich zu behaupten.
Genug der Geschichte, es ist Zeit für Beispiele. Aus der Reihe: niederländische Politiker zwischen zwei Weltkriegen, sehen wir hier unten den damaligen Premier-Minister Hendrik Colijn, ein lupenreiner Christ-Demokrat. Damals, um 1935, bestimmte er so gut er konnte und wollte die Geschicke des Staates.
Weiter blätternd in der Sammlung sehen wir dann einen gewissen Herrn Posthuma. An dieser Stelle zögerte mein Vater wenn er uns, den kleinen, die weiteren Hintergründe erzählte. Die Zeichnung stammte aus 1933, aber der Herr Posthuma war zehn Jahre später, unter der deutschen Besatzung, Landwirtschaftsminister, und wurde 1943 wegen seiner Kollaboration von der hiesigen Resistance liquidiert. Die Ironie will, daß er, wie es der Brauchtum forderte, trotzdem mit allen Ehren von der Nachbarschaft zu Grabe getragen wurde.
Sowohl die Kollaboration als die Liquidierung sind gewiß nicht zu verzeihende Tatsachen. Und mein Vater schämte sich förmlich daß er die Zeichnung noch immer aufbewahrt hatte.
Schließen wir ab mit etwas fröhlicherem. Sie zeigen eine andere Seite meines Vaters. Erstens war er manchmal sehr humorvoll und zweitens liebte er Kinder, wenn er auch zögerte es zuzugeben. Davon zeugen diese zwei Zeichnungen welche ich Ihnen hierbei ehrfurchtsvoll und mit aller Hochachtung vorlege.
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Montag, 8. Oktober 2012
Bagatelle 168 - Politisches Tafelinteresse
terra40, 13:51h
Seit nunmehr einem Jahr steht in unserem Wohnzimmer ein neuer Tisch. Nichts besonderes also, es sei denn, daß auch, wie wir selber, sehr hohe politische Hochwürdigkeitsträger diesen Tisch bewundern und lobpreisen.
Die Geschichte fängt vor etwa sechzig Jahren an, als mein Schwiegervater beschloß einen Baum der im Wege stand zu fällen und zu Möbelholz verarbeiten zu lassen. Es war ein besonderer Baum: eine Esche, und das ist, wie wir alle wissen, seit germanischer Zeit ein heiliger Baum. Die Sägerei hat ihn vorsichtig in acht bis zehn Zentimeter dicke Scheiben verarbeitet (Länge 4 Meter und etwa 40 Zentimeter breit). Diese Bretter lagen dann jahrelang in einer unserer Scheunen wo sie bis voriges Jahr so trockneten, daß weder Wetter- noch Temperaturänderung sie noch berührt.
Schon vor Jahren hatten wir den Plan einen Tischler zu bitten von diesem Eschenholz einen großen Tisch bauen zu lassen. So einer wo wir beide morgens, meine Frau und ich, beim Frühstück unsere breit ausgeschlagenen Zeitungen lesen könnten ohne uns beim anderen beklagen zu müssen über zu wenig Raum. Und so einer wo man an Sonn- und Festtagen mit mindestens acht Personen die Festmahlzeiten zu sich nehmen kann. Aber nur das Vorhaben blieb. Zu einer Verwirklichung war es nie gekommen.
Bis ein Freund meines jüngsten Sohnes vor einem Jahr von dem Vorhaben erfuhr und meldete daß er, begnadeter Freizeittischler und Schreinermeister, bereit war uns aus dem Eschenholz einen Tisch zu bauen.
Worauf wir mit Mühe und Not die schweren Bretter auf einem Transporter schafften und sie in die Werkstatt des Meisters brachten. Worauf der wiederum in zwei Monaten einen wunderbaren Tisch tischlerte. Sehen Sie selbst.
Später wurde der Tisch dann demontiert und mit dem selben Transporter wieder in unser Haus zurückbefördert, dort zurückmontiert und an seinem verordneten Platz gestellt und von allen Seiten aufs tiefste bewundert und gepriesen. Zuletzt trank der Tischlermeister zusammen mit meinem Sohn einen guten Kaffee. Achten Sie bitte genau auf das Gesicht des Meisters, rechts auf dem Bild.
Denn dasselbe Gesicht sehen Sie hier wieder. Er, links stehend, zeigt einigen sehr hochwürdigen Herren etwas sehr schönes: höchstwahrscheinlich unseren neuen Tisch. Es sind der niederländische Minister-Präsident Mark Rutte und rechts der Rector-Magnificus der Wageninger Universität. (Der Ort wo unser Amateur-Tischlermeister sonst sein Brot verdient.)
Auch die politischen Hochwürden staunen und bewundern die Art und Weise mit der die Arbeit vollendet worden ist. Ob der Tischlermeister auch ein Kabinett zusammen basteln kann? fragen sie sich.
Natürlich, sage ich darauf.
Die Geschichte fängt vor etwa sechzig Jahren an, als mein Schwiegervater beschloß einen Baum der im Wege stand zu fällen und zu Möbelholz verarbeiten zu lassen. Es war ein besonderer Baum: eine Esche, und das ist, wie wir alle wissen, seit germanischer Zeit ein heiliger Baum. Die Sägerei hat ihn vorsichtig in acht bis zehn Zentimeter dicke Scheiben verarbeitet (Länge 4 Meter und etwa 40 Zentimeter breit). Diese Bretter lagen dann jahrelang in einer unserer Scheunen wo sie bis voriges Jahr so trockneten, daß weder Wetter- noch Temperaturänderung sie noch berührt.
Schon vor Jahren hatten wir den Plan einen Tischler zu bitten von diesem Eschenholz einen großen Tisch bauen zu lassen. So einer wo wir beide morgens, meine Frau und ich, beim Frühstück unsere breit ausgeschlagenen Zeitungen lesen könnten ohne uns beim anderen beklagen zu müssen über zu wenig Raum. Und so einer wo man an Sonn- und Festtagen mit mindestens acht Personen die Festmahlzeiten zu sich nehmen kann. Aber nur das Vorhaben blieb. Zu einer Verwirklichung war es nie gekommen.
Bis ein Freund meines jüngsten Sohnes vor einem Jahr von dem Vorhaben erfuhr und meldete daß er, begnadeter Freizeittischler und Schreinermeister, bereit war uns aus dem Eschenholz einen Tisch zu bauen.
Worauf wir mit Mühe und Not die schweren Bretter auf einem Transporter schafften und sie in die Werkstatt des Meisters brachten. Worauf der wiederum in zwei Monaten einen wunderbaren Tisch tischlerte. Sehen Sie selbst.
Später wurde der Tisch dann demontiert und mit dem selben Transporter wieder in unser Haus zurückbefördert, dort zurückmontiert und an seinem verordneten Platz gestellt und von allen Seiten aufs tiefste bewundert und gepriesen. Zuletzt trank der Tischlermeister zusammen mit meinem Sohn einen guten Kaffee. Achten Sie bitte genau auf das Gesicht des Meisters, rechts auf dem Bild.
Denn dasselbe Gesicht sehen Sie hier wieder. Er, links stehend, zeigt einigen sehr hochwürdigen Herren etwas sehr schönes: höchstwahrscheinlich unseren neuen Tisch. Es sind der niederländische Minister-Präsident Mark Rutte und rechts der Rector-Magnificus der Wageninger Universität. (Der Ort wo unser Amateur-Tischlermeister sonst sein Brot verdient.)
Auch die politischen Hochwürden staunen und bewundern die Art und Weise mit der die Arbeit vollendet worden ist. Ob der Tischlermeister auch ein Kabinett zusammen basteln kann? fragen sie sich.
Natürlich, sage ich darauf.
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Samstag, 1. September 2012
Bagatelle 166 - Der Tod und das Mädchen
terra40, 14:15h
"Da haben Sie sich, lieber Terra, für eine neue Bagatelle ziemlich viel Zeit genommen," mögen einige meiner lieben Leserinnen oder Leser gedacht haben. Andere gehen in ihrem Ton vielleicht noch einen Schritt weiter: "Das wurde aber auch höchste Zeit, lieber Terracidus! Denn wir hatten uns schon so daran gewöhnt am Ende jeder Woche eine neue Bagatelle lesen zu können." Noch andere - mit denen ich mich am meisten verwandt fühle - werden gedacht haben: "Sicher, es ist schon so lange still um ihn herum. Aber wenn der Terra etwas zu berichten hat, wird er sich schon melden. Warten wir's ab."
Wer sagt denn, daß eine Bagatelle immer eine Spur von Ironie, Scharfsinn, Humor oder sogar Freude und Heiterkeit vermitteln soll? Die Bagatelle die ich Ihnen hierbei vorlege, handelt über Trauer. An wichtigen Lebensmomenten wird alles an bedachter Ironie, Scharfsinn oder humorvoller Heiterkeit völlig unwichtig. Wichtig ist nur die Wirklichkeit und die Wahrheit, die Liebe und das Leiden, die Trauer und die Freude, das Leben und der Tod.
Der Tod ist an allem schuld. Mitte Juli diesen Jahres kam er und holte mir meine große Liebe und meinen Kindern ihre Mutter. Obwohl wir nicht ganz unvorbereitet waren, kam er plötzlich und leise. Meine Frau litt seit 2003 an Lymphknotenkrebs - und zwar die nicht-aggressive Variante (Non-Hodgkin Lymphome) - welche man einigermaßen unter Kontrolle halten, aber nicht heilen kann. Nach etlichen Chemo-Therapien und Bestrahlungen war jetzt die Zeit gekommen, daß die Medizin mit leeren Händen stand. Und von dem Moment daß Madame Terra - wie ich sie in meinen Bagatelltexten liebevoll nannte - wußte daß sie am letzten Abschnitt ihres Leben angekommen war, ging alles sehr schnell.
Meine Frau starb dort wo sie geboren wurde und aufwuchs: in dem elterlichen Bauernhof. Nach unserer Heirat (die 43 Jahre dauerte) waren wir zwar für einige Jahre in eine andere Stadt gezogen, dann aber wieder nach dem Heimatort auf dem ostniederländischen Plattelande zurückgekehrt. Es war ihr Wunsch dort zu sterben wo sie fast ihr ganzes Leben verbrachte. Dort auch wurde sie nach ihrem Tode aufgebahrt. Sehr viele kamen um sich an diesem Ort von ihr zu verabschieden.
Der Gottesdienst der ihrer Bestattung vorherging, war eher ein Danksagung als eine Trauerfeier. So hatte sie das gewollt: einen Dankesgottesdienst für ihr Leben und so wurde das auch von den sehr vielen Anwesenden gesehen. Der Pfarrer dankte für dieses Leben das anderen so viel gutes hat zukommen lassen. Und der Frauenchor, dem die Frau Terra angehörte, sang ein trostreiches Frühlingslied von Robert Schumann.
Zu den Bagatellen hatte die Madame Terra ein besonderes Verhältnis. Sie war die erste und einzige die eine neue Bagatelle zuerst zu lesen bekam. Manchmal fand sie eine Behauptung unfreundlich oder übertrieben; manchmal lächelte sie beim Lesen der geschilderten oder bedachten Ungereimtheiten.
April 2011 saßen wir an einem Sonntagnachmittag zum Teetrinken draußen in der Frühjahrssonne. Auf dem ersten Bild hier unten sehen Sie meine Frau, seitlich von der niedrig stehenden Sonne beschienen, die ihr die Augen fast schließen läßt. Bescheiden wie sie ist, scheint sie den Fotografen zu bitten nicht zu viel Zeit an ihr zu verwenden. Sie lächelt dabei in derselben Weise wie sie über eine geglückte Bagatelle lächeln würde. Auf dem zweiten Bild liest sie beim allmorgendlichen Kaffeetrinken die neuesten Bagatellgeschichten aus der Tageszeitung.
Wer sagt denn, daß eine Bagatelle immer eine Spur von Ironie, Scharfsinn, Humor oder sogar Freude und Heiterkeit vermitteln soll? Die Bagatelle die ich Ihnen hierbei vorlege, handelt über Trauer. An wichtigen Lebensmomenten wird alles an bedachter Ironie, Scharfsinn oder humorvoller Heiterkeit völlig unwichtig. Wichtig ist nur die Wirklichkeit und die Wahrheit, die Liebe und das Leiden, die Trauer und die Freude, das Leben und der Tod.
Der Tod ist an allem schuld. Mitte Juli diesen Jahres kam er und holte mir meine große Liebe und meinen Kindern ihre Mutter. Obwohl wir nicht ganz unvorbereitet waren, kam er plötzlich und leise. Meine Frau litt seit 2003 an Lymphknotenkrebs - und zwar die nicht-aggressive Variante (Non-Hodgkin Lymphome) - welche man einigermaßen unter Kontrolle halten, aber nicht heilen kann. Nach etlichen Chemo-Therapien und Bestrahlungen war jetzt die Zeit gekommen, daß die Medizin mit leeren Händen stand. Und von dem Moment daß Madame Terra - wie ich sie in meinen Bagatelltexten liebevoll nannte - wußte daß sie am letzten Abschnitt ihres Leben angekommen war, ging alles sehr schnell.
Meine Frau starb dort wo sie geboren wurde und aufwuchs: in dem elterlichen Bauernhof. Nach unserer Heirat (die 43 Jahre dauerte) waren wir zwar für einige Jahre in eine andere Stadt gezogen, dann aber wieder nach dem Heimatort auf dem ostniederländischen Plattelande zurückgekehrt. Es war ihr Wunsch dort zu sterben wo sie fast ihr ganzes Leben verbrachte. Dort auch wurde sie nach ihrem Tode aufgebahrt. Sehr viele kamen um sich an diesem Ort von ihr zu verabschieden.
Der Gottesdienst der ihrer Bestattung vorherging, war eher ein Danksagung als eine Trauerfeier. So hatte sie das gewollt: einen Dankesgottesdienst für ihr Leben und so wurde das auch von den sehr vielen Anwesenden gesehen. Der Pfarrer dankte für dieses Leben das anderen so viel gutes hat zukommen lassen. Und der Frauenchor, dem die Frau Terra angehörte, sang ein trostreiches Frühlingslied von Robert Schumann.
Zu den Bagatellen hatte die Madame Terra ein besonderes Verhältnis. Sie war die erste und einzige die eine neue Bagatelle zuerst zu lesen bekam. Manchmal fand sie eine Behauptung unfreundlich oder übertrieben; manchmal lächelte sie beim Lesen der geschilderten oder bedachten Ungereimtheiten.
April 2011 saßen wir an einem Sonntagnachmittag zum Teetrinken draußen in der Frühjahrssonne. Auf dem ersten Bild hier unten sehen Sie meine Frau, seitlich von der niedrig stehenden Sonne beschienen, die ihr die Augen fast schließen läßt. Bescheiden wie sie ist, scheint sie den Fotografen zu bitten nicht zu viel Zeit an ihr zu verwenden. Sie lächelt dabei in derselben Weise wie sie über eine geglückte Bagatelle lächeln würde. Auf dem zweiten Bild liest sie beim allmorgendlichen Kaffeetrinken die neuesten Bagatellgeschichten aus der Tageszeitung.
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Sonntag, 15. April 2012
Bagatelle 155 - Nur zufällig
terra40, 00:03h
20 Uhr irgendeines Tages ist es und ich setze mich fürs viel zu groß geratene flatbildscreen um mich über alles mögliche menschliche Leiden, lokal und interlokal, informieren zu lassen. Also, über alles was die Nachrichtenwelt für so wichtig hält, daß es in der heutigen Tagesschau verkündet werden muß. Just an dem Augenblick da der Nachrichtensprecher uns mitteilt, daß die Kanadische Stadt Vancouver von einem schweren Erdbeben getroffen ist und wörtlich sagt: .. einige Tote und Verletze werden noch unter den Trümmerhaufen vermutet …, liest meine Gattin, die sich in ihre Leseecke zurückgezogen hat um ihren neuesten Thriller zu genießen, auf Seite 133 den Satz: …. der kanadische Ex-Gangster gab zu von seinem Leben einen Trümmerhaufen gemacht zu haben." Das in der Zeit gleichsam Zusammenfallen zweier völlig unterschiedener Gegebenheiten (hier das gesprochenen versus gelesene Wort "Trümmerhaufen" in ebenso völlig unterschiedenen Kontexten) könnte man unter der Rubrik 'Zufall' einordnen. Oder?
Nein, sagt meine Frau, es passiert mir zu oft. Ich lese ein Wort - in der Zeitung, in einem Buch, auf einem Plakat - und ausgerechnet in diesem Moment höre ich das gesprochene Äquivalent: in einem Gespräch von zwei mir unbekannten Supermarktkunden bei der Kasse, im Radio, im Fernsehen. Das kann kein Zufall sein.
Nein, würde mein verstorbener Bruder behaupten. (In der Tat: derselbe als der vom zerbrochenen Krug aus der Bagatelle hier unten.) Der behauptete immer wieder vehement, daß es vieles zwischen Himmel und Erde gibt das sich wissenschaftlich nicht beweisen ließe. Stärker: es gäbe Phänomene und Ereignisse welche sich jeder wissenschaftlichen Diskussion entzögen. Sachen welche nicht nur nicht in einem bestimmten wissenschaftlichen Rahmen paßten, sondern in keinem einzigem Rahmen. Es gäbe Phänomene die sich nur sprachlich beschreiben ließen. Zum Beispiel das zeitlich Zusammenfallen zweier unterschiedlicher Ereignisse. Er nannte dieses Phänomen schlicht "Synchronizität" (Bitte nicht zu verwechseln mit Synchronität: das gleichzeitig Ablaufen eines Vorganges, wie das Synchronspringen der Taucher im Schwimmbad.) Wenn meine Frau liest: Vancouver, und der Tagesschausprecher nennt zu gleicher Zeit Vancouver als Ort des Erdbebens, ist das als ein Exempel einer Synchronizität zu sehen. Behauptete mein Bruder. Daß es dir nicht auffällt, sagte er zu mir, kommt dadurch, daß du dich nicht für diese Ereignisse öffnest. Du betrachtest diese Sachen als normal. Als zufällig. Und das sind sie gerade nicht.
Nun behauptete mein Bruder nicht nur unbeweisbare Tatsachen, er sammelte sie auch. In einem Art Tagebuch, welches wir irgendwo in seiner Büchermasse gefunden haben, schrieb er seine Synchronizitätsbeispiele. Wie immer mit Tinte und Feder. Ein solches Ereignis werde ich nun für Sie nacherzählen.
Bei der Buchhandlung X sah ich - Abteilung Antiquariat - ein sehr schönes Buch über Kirchen/Religionen in den Niederlanden. Gerade etwas für Herrn R. Senior, dachte ich, nahm das Buch aus dem Stapel heraus, und fing an zu blättern. Auf dem Vorsatzblatt stand ein Dankeswort eines Doktoranden an Herrn Professor Poppesma als Zeichen des Dankes für seine Hilfe bei der Promotion. Auch ein Festlied für den neuen Herrn Doktor lag dabei. Ich dachte: das Buch stammt wahrscheinlich aus der Erbschaft dieses Professors. Seine Erben haben 'aufgeräumt', wie es denn so geht.
Irgendwo auf diesem Büchertisch lagen auch drei schwere deutsche Kunstbücher - die berühmte Springer Kunstgeschichte aus 1921 -. Die kaufte ich mir auch, weil ich zu Hause schon einen anderen Teil aus dieser Kunstreihe besaß.
Zufrieden fuhr ich dann nach Hause. Dort blätterte ich durch die drei Kunstbücher die ich noch nicht eingesehen hatte. Und was fällt plötzlich aus dem Mittelalter-Teil? Eine antike Ansichtskarte mit darauf dem Köllner Dom und gerichtet an: Den jungen Herrn J.O. Poppesma zu Vlagtwedde.
Als Nachspeise noch solch eine Synchronizitätsgeschichte.
Eine Reihe Bücher befindet sich oberhalb meines geöffneten Klaviers. Während ich diese Bücher abstaube (so mit einem großen Staubpinsel) höre ich mich einen LP des Baritons Max van Egmond an, der Schubert und Ravel singt. Er singt gerade Don Quixote, einen Liederzyklus von Ravel. Ich bin etwas wild im Bewegen des Pinsels und plötzlich fällt ein Buch herunter und trifft mit der schmalen Kante eine Klaviertaste welche laut mit exakt derselben Note mitklingt die Max van Egmond gerade singt: die tiefe Schlußnote aus der "Prière".
Das kann doch kein Zufall sein!
Nein, sagt meine Frau, es passiert mir zu oft. Ich lese ein Wort - in der Zeitung, in einem Buch, auf einem Plakat - und ausgerechnet in diesem Moment höre ich das gesprochene Äquivalent: in einem Gespräch von zwei mir unbekannten Supermarktkunden bei der Kasse, im Radio, im Fernsehen. Das kann kein Zufall sein.
Nein, würde mein verstorbener Bruder behaupten. (In der Tat: derselbe als der vom zerbrochenen Krug aus der Bagatelle hier unten.) Der behauptete immer wieder vehement, daß es vieles zwischen Himmel und Erde gibt das sich wissenschaftlich nicht beweisen ließe. Stärker: es gäbe Phänomene und Ereignisse welche sich jeder wissenschaftlichen Diskussion entzögen. Sachen welche nicht nur nicht in einem bestimmten wissenschaftlichen Rahmen paßten, sondern in keinem einzigem Rahmen. Es gäbe Phänomene die sich nur sprachlich beschreiben ließen. Zum Beispiel das zeitlich Zusammenfallen zweier unterschiedlicher Ereignisse. Er nannte dieses Phänomen schlicht "Synchronizität" (Bitte nicht zu verwechseln mit Synchronität: das gleichzeitig Ablaufen eines Vorganges, wie das Synchronspringen der Taucher im Schwimmbad.) Wenn meine Frau liest: Vancouver, und der Tagesschausprecher nennt zu gleicher Zeit Vancouver als Ort des Erdbebens, ist das als ein Exempel einer Synchronizität zu sehen. Behauptete mein Bruder. Daß es dir nicht auffällt, sagte er zu mir, kommt dadurch, daß du dich nicht für diese Ereignisse öffnest. Du betrachtest diese Sachen als normal. Als zufällig. Und das sind sie gerade nicht.
Nun behauptete mein Bruder nicht nur unbeweisbare Tatsachen, er sammelte sie auch. In einem Art Tagebuch, welches wir irgendwo in seiner Büchermasse gefunden haben, schrieb er seine Synchronizitätsbeispiele. Wie immer mit Tinte und Feder. Ein solches Ereignis werde ich nun für Sie nacherzählen.
Bei der Buchhandlung X sah ich - Abteilung Antiquariat - ein sehr schönes Buch über Kirchen/Religionen in den Niederlanden. Gerade etwas für Herrn R. Senior, dachte ich, nahm das Buch aus dem Stapel heraus, und fing an zu blättern. Auf dem Vorsatzblatt stand ein Dankeswort eines Doktoranden an Herrn Professor Poppesma als Zeichen des Dankes für seine Hilfe bei der Promotion. Auch ein Festlied für den neuen Herrn Doktor lag dabei. Ich dachte: das Buch stammt wahrscheinlich aus der Erbschaft dieses Professors. Seine Erben haben 'aufgeräumt', wie es denn so geht.
Irgendwo auf diesem Büchertisch lagen auch drei schwere deutsche Kunstbücher - die berühmte Springer Kunstgeschichte aus 1921 -. Die kaufte ich mir auch, weil ich zu Hause schon einen anderen Teil aus dieser Kunstreihe besaß.
Zufrieden fuhr ich dann nach Hause. Dort blätterte ich durch die drei Kunstbücher die ich noch nicht eingesehen hatte. Und was fällt plötzlich aus dem Mittelalter-Teil? Eine antike Ansichtskarte mit darauf dem Köllner Dom und gerichtet an: Den jungen Herrn J.O. Poppesma zu Vlagtwedde.
Als Nachspeise noch solch eine Synchronizitätsgeschichte.
Eine Reihe Bücher befindet sich oberhalb meines geöffneten Klaviers. Während ich diese Bücher abstaube (so mit einem großen Staubpinsel) höre ich mich einen LP des Baritons Max van Egmond an, der Schubert und Ravel singt. Er singt gerade Don Quixote, einen Liederzyklus von Ravel. Ich bin etwas wild im Bewegen des Pinsels und plötzlich fällt ein Buch herunter und trifft mit der schmalen Kante eine Klaviertaste welche laut mit exakt derselben Note mitklingt die Max van Egmond gerade singt: die tiefe Schlußnote aus der "Prière".
Das kann doch kein Zufall sein!
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Freitag, 6. April 2012
Bagatelle 154 - Puzzlescherben
terra40, 15:34h
Vorsichtig entnehme ich dem Kühlschrank das Kännchen Kaffeemilch. Die dazugehörende Schüssel wechselt ebenfalls ihren Standort, weil sie dummerweise wegen einiger Milchtropfen unten an dem Kännchen haften bleibt. Kaum außerhalb des Kühlschrankes geschieht das Unvermeidliche: Schüsselchen entfernt sich vom Kännchen weil die Haftung versagt - Schüsselchen zerschellt am Granitboden in mindestens sechsundzwanzig Stücken. Schade, es war schönes, altes Steingut.
Zwischendurch einiges über ein merkwürdige Begebenheit. Die Tatsache, daß von den inzwischen dutzenden Bagatellen just diese eine gerne gelesen wird, nämlich die Bagatelle welche vom Baukasten handelt. Das ultime Spielzeug das so viele gute Erinnerungen nach oben treiben läßt. Offenbar teilen viele Leserinnen und Leser mit mir diesen einen Gedanken: es gibt kein schöneres Spielzeug auf der Welt als einen Baukasten. (Vorzugsweise bestückt mit Grimmschen Märchenbildern.)
Man möge es mir verzeihen, aber ich bin der Meinung, daß es große, essentielle und grundlegende Unterschiede gibt zwischen einem Baukasten und einem (Lege)Puzzle, zwischen einerseits zwanzig in einem zauberhaften Märchen geordneten Würfeln und anderseits den ausgestanzten pappkartonnenen Plätzchen welche zusammen mit ihren tausend eine Mona Lisa zu bilden scheinen.
Nein, das Legen eines Puzzles (ein typisch deutsches Wort übrigens ..) ist nicht so meine Sache. Ich habe auch wenig Bewunderung für alte und junge Zeitgenossen welchen es gelungen ist aus 2345 Stückchen eine süd-bayrische Alpenlandschaft zu schaffen. Und Gnade dem, der es danach fertig gebracht hat diese Landschaft auf einer Holzplatte zu verleimen. (!)
Nur, weitere Verleumdungen oder sonstige herablassende Bemerkungen über Puzzle-legenden werden Sie nicht von mir hören. Denn anders als früher gönne ich jedem ihre oder seine Freizeitbeschäftigung, welche auch immer, so lange es einem anderen körperlich oder seelisch nicht schadet.
Früher, in meiner Studentenzeit und einige Jahre danach, als ich sowieso alles ja viel besser wußte, habe ich mal einen Aufsatz geschrieben über Arbeit und Spiel, über den homo faber und den homo ludens. Ich habe selber Spielzeug erdacht und konstruiert, und dann observiert ob und wie Kinder damit spielten. Und damals wußte ich mit Sicherheit: mit einem Baukasten kann man spielen, mit einem Puzzle nicht. Jetzt bin ich mir nicht so sicher.
Über das Verleimen von Puzzlestücken gibt es bei uns noch eine besondere Familiengeschichte. Mein - unlängst verstorbener - Bruder sah im Schaufenster eines Antiquariatsladen eine wunderbare Schale. Altes, kinesisches Porzellan. Er ging hinein und kaufte diese Schale für einen guten, angemessenem Preis. Der Verkäufer war so freundlich ihm die Schale in sanftem Papier und dann in einer plastik Tüte mit auf den Weg zu geben. Beim öffnen der Ladentür glitt meinem Bruder die Tüte aus der Hand. Die Schale zerschellte in vielen Stücken.
Mein Bruder jammerte nicht lange, nahm seinen Verlust, reiste nach Hause, leimte alle noch vorhandenen Schalestückchen zusammen und gab die zu neuem Leben gekommene Schale schließlich seiner Lieblingsschwägerin (meine Gattin also) als Geburtstagsgeschenk.
Hier sehen Sie die gebrochene Schale. Die Familiengeschichte macht jetzt ihren Wert aus. Hinter der Tür links befindet sich ein Innenraum mit vielen Bücherschranken und noch mehr Büchern. Eins davon ist Lessings Der gebrochene Krug, der beim näheren Hinsehen zerbrochen statt gebrochen ist, und statt Lessing offenbar von Heinrich von Kleist beschrieben wurde.
Zwischendurch einiges über ein merkwürdige Begebenheit. Die Tatsache, daß von den inzwischen dutzenden Bagatellen just diese eine gerne gelesen wird, nämlich die Bagatelle welche vom Baukasten handelt. Das ultime Spielzeug das so viele gute Erinnerungen nach oben treiben läßt. Offenbar teilen viele Leserinnen und Leser mit mir diesen einen Gedanken: es gibt kein schöneres Spielzeug auf der Welt als einen Baukasten. (Vorzugsweise bestückt mit Grimmschen Märchenbildern.)
Man möge es mir verzeihen, aber ich bin der Meinung, daß es große, essentielle und grundlegende Unterschiede gibt zwischen einem Baukasten und einem (Lege)Puzzle, zwischen einerseits zwanzig in einem zauberhaften Märchen geordneten Würfeln und anderseits den ausgestanzten pappkartonnenen Plätzchen welche zusammen mit ihren tausend eine Mona Lisa zu bilden scheinen.
Nein, das Legen eines Puzzles (ein typisch deutsches Wort übrigens ..) ist nicht so meine Sache. Ich habe auch wenig Bewunderung für alte und junge Zeitgenossen welchen es gelungen ist aus 2345 Stückchen eine süd-bayrische Alpenlandschaft zu schaffen. Und Gnade dem, der es danach fertig gebracht hat diese Landschaft auf einer Holzplatte zu verleimen. (!)
Nur, weitere Verleumdungen oder sonstige herablassende Bemerkungen über Puzzle-legenden werden Sie nicht von mir hören. Denn anders als früher gönne ich jedem ihre oder seine Freizeitbeschäftigung, welche auch immer, so lange es einem anderen körperlich oder seelisch nicht schadet.
Früher, in meiner Studentenzeit und einige Jahre danach, als ich sowieso alles ja viel besser wußte, habe ich mal einen Aufsatz geschrieben über Arbeit und Spiel, über den homo faber und den homo ludens. Ich habe selber Spielzeug erdacht und konstruiert, und dann observiert ob und wie Kinder damit spielten. Und damals wußte ich mit Sicherheit: mit einem Baukasten kann man spielen, mit einem Puzzle nicht. Jetzt bin ich mir nicht so sicher.
Über das Verleimen von Puzzlestücken gibt es bei uns noch eine besondere Familiengeschichte. Mein - unlängst verstorbener - Bruder sah im Schaufenster eines Antiquariatsladen eine wunderbare Schale. Altes, kinesisches Porzellan. Er ging hinein und kaufte diese Schale für einen guten, angemessenem Preis. Der Verkäufer war so freundlich ihm die Schale in sanftem Papier und dann in einer plastik Tüte mit auf den Weg zu geben. Beim öffnen der Ladentür glitt meinem Bruder die Tüte aus der Hand. Die Schale zerschellte in vielen Stücken.
Mein Bruder jammerte nicht lange, nahm seinen Verlust, reiste nach Hause, leimte alle noch vorhandenen Schalestückchen zusammen und gab die zu neuem Leben gekommene Schale schließlich seiner Lieblingsschwägerin (meine Gattin also) als Geburtstagsgeschenk.
Hier sehen Sie die gebrochene Schale. Die Familiengeschichte macht jetzt ihren Wert aus. Hinter der Tür links befindet sich ein Innenraum mit vielen Bücherschranken und noch mehr Büchern. Eins davon ist Lessings Der gebrochene Krug, der beim näheren Hinsehen zerbrochen statt gebrochen ist, und statt Lessing offenbar von Heinrich von Kleist beschrieben wurde.
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