Freitag, 16. März 2012
Bagatelle 152 - Zum verwechseln ähnlich
Was ein Aneurysma ist wissen Sie. Natürlich wissen Sie das: es ist, grob gesagt, ein Riß eines Blutgefäßes, einer Ader, meist einer Schlagader. Solch ein Riß kann zu einer lebensgefährlichen, arteriellen Verblutung führen.
Das ist fast alles was ich über ein Aneurysma zu sagen weiß. Ich bin kein Arzt und, weil ich rundum gesund bin und mich auch so fühle, gibt es auch wenig Anlaß alles wichtige von Aneurysmen wissen zu wollen. Doch dann wird man plötzlich vom wirklichen Leben eingeholt.

Vor kurzem starb mein jüngerer Bruder. Inmitten eines normalen Gespräches mit einer ihn besuchenden Freundin - an einem Mittwochmorgen gegen zwölf - wurde er unwohl, und legte sich auf die Bank. Ein Aneurysma trat ein, eine Arterie zerplatzte und der Herzbeutel wurde mit Blut gefüllt. Die normale Herzfunktion wurde unmöglich und er verlor das Bewußtsein. Die Freundin alarmierte sofort den Notdienst und zusammen mit einer zugeeilten Nachbarin brachten die beiden Damen meinen Bruder per Notarztwagen mit Blaulicht und Sirene ins städtische Krankenhaus. Dort starb er, wenige Stunden später.

Mein Bruder war einige Jahre jünger als ich. Er lebte alleine - er war unverheiratet - in einer niederländischen Provinzhauptstadt. Bei einigen (wissenschaftlichen) Verlagen arbeitete er als "Buchmacher". Das heißt: wenn ein Autor - meistens aus den Sparten Wissenschaft, Kunst und Kultur - sein Manuskript fertig hatte, hätte er in den Verlag gehen können, wo mein Bruder aus dem geschriebenen oder gedruckten Manuskript ein wunderschönes fertiges Buch zauberte. Er illustrierte, korrigierte, kam mit alternativen Textvorschlägen und bereitete manchem Autor einiges Kopfzerbrechen, vor allem wenn er es besser wußte als der Autor selber.
Sonst war mein Bruder ein Dichter, Philosoph, ein Naturmensch, ein Katzenfreund, ein Opernfreund erster Güte, ein Briefeschreiber, ein Kenner und Liebhaber der schönen Künste und sonst ein angenehmer, lieber Mensch. Obwohl alleine lebend hatte er eine Schar von Freunden und Bekannten um sich versammelt mit denen er eine rege Korrespondenz führte. Und am Abend trank er ein gutes Glas Wein mit seinen lieben Nachbarn.

Wir, mein Bruder und ich sahen uns, weil wir weit aus einander wohnten, selten. Selten heißt in diesem Fall: einige Male pro Jahr. Aber wir unterhielten fast täglich e-mailkontakte; wir kannten uns von jung auf, der Kontakt ist nie verloren gegangen und wir mochten uns sehr. Körperlich gesehen ähnelten wir uns. Und wie älter wir wurden, wie mehr wir uns ähnlich sahen (sagten alle anderen). Wie sehr, zeigt folgende wahre Begebenheit.

Einige Tage nachdem mein Bruder verstorben war, waren meine Frau und ich wieder in seine Stadt gereist um die notwendigen Prozeduren zu erledigen. Sie wissen.
Meine Frau stand kurz vor der Abreise an der Nachbarstür um sich zu verabschieden und ich stand auf dem Bürgersteig neben der geöffneten Wagentür. Da kommt ein anderer Nachbar von gegenüber herangelaufen und sagt zu mir beim vorbeigehen: "Guten Tag, lieber Herr Nachbar, haben Sie sich von der Krankheit erholt? Ich habe den Notarztwagen vor ihrer Haustür gesehen und ich hab mich schon oft gefragt wie es Ihnen geht.(!)
Ich mußte ihn enttäuschen: "Lieber Herr Nachbar, ich bin es nicht. Ich bin sein Bruder. Mein Bruder von gegenüber ist vor einigen Tagen gestorben. Aber ich danke Ihnen sehr für ihr Interesse und Nachfrage."
Der Nachbar erschrak, entschuldigte sich tausendfach, und überbrachte mir sein tief gemeintes Beileid das ich gerne in Empfang nahm.

Auf dem Bild sehen Sie wie Frau Terra, meine Gattin also, von meinem Bruder seine neue Digitalkamera erklärt bekommt. So also sieh ich aus. Äußerlich. Etwa so ähnlich.

... link (6 Kommentare)   ... comment


Samstag, 3. März 2012
Bagatelle 150 - Bettgeschichten
Schade, Pikanterien oder anderes pillow talk werden Sie in dieser Bagatelle nicht lesen können. Im kommenden werde ich Ihnen - wenn Sie mögen - einiges über das Materielle erzählen. Über handfeste Betteigenschaften wie Materialien, Stoffe, Maße und mehr desgleichen.

Die Sache wurde dringend als meine Frau vor einigen Jahren krank wurde und Mühe hatte sich in und aus Bett zu begeben. Das Bett war einfach zu niedrig. Sich selber schlafen legen ging dann noch, aber das Aufstehen und Hochkommen nach dem fröhlichen Erwachen war eine Tortur.

Nach reifer Überlegung haben wir zwei folgenden Plan erarbeitet. Zuerst würde ich mich hinsetzen und eine Zeichnung eines geeigneten Untergestells anfertigen, welches ich nachher nach beiderseitiger Zustimmung aus tüchtigen hölzernen Balken zusammenbasteln sollte.

So geschehen und getan. Aus feinem Kieferholz fabrizierte ich in ebenfalls feiner Handarbeit ein Bettuntergestell in den passenden Maßen. Vor allem die Liegehöhe war wichtig. Auf diesem Untergestell ließen wir dann die schwere metallene, matrazestützende Spirale nieder die noch ganz und gar funktionstüchtig war. Es paßte genau. Danach sammelten wir all unser Kleingeld beisammen und kauften uns eine äußerst teure neue Matratze, wovon jeder behauptete sie sei die beste die man sich vorstellen könnte. Darauf zu schlafen wäre eine Wonne! Kurz und gut, die Matratze mit alles drum und dran kam auf die Spirale, das Bett wurde gemacht, die Bettwäsche getauscht, und alles was man zum schlafen braucht war wieder in bester Ordnung. Der Liegeabstand (von Oberseite Matratze bis zum Boden) betrug nun 65 Zentimeter.

Anno 2012 schlafen wir unseren gerechten Schlaf noch immer über diesem selbstgebauten Untergestell. Manchmal hören wir sonderbare Geräusche: ein Knirpsen und ein Piepsen. Auch bilden wir uns ein, daß die Sache dann und wann ein bißchen wankt und wackelt. Schuld ist das Untergestell wovon einige Schrauben mich bitten fester angedreht werden zu wollen.
Unlängst fragte mich meine liebe Gattin, ob es nicht an der Zeit war uns zu besinnen auf die Frage ob nicht ein neues Bett diese unsere alte Konstruktion ersetzen sollte. Ich erschrak sehr und behauptete allen ernstes, daß ich nichts dagegen hatte bis an mein Lebensende auf diesem Bettgestell liegen zu bleiben.

Nein, wir brauchen kein neues Bett. Wir brauchen mehr Schlaf. Denn seit kurzem leide ich an einer ziemlich unschuldigen Krankheit die ich vorher nicht kannte: die Schlaflosigkeit. Sie kennen das: man schläft ein (sagen wir um 0.30 Uhr) und man erwacht wenn die Uhr 3.35 geschlagen hat. Die weitere Zeit bis 4.35 bemüht man sich wieder einzuschlafen. Vergebens. Und dann plötzlich ist man wieder eingeschlafen. Das muß wohl so sein, denn auf der kleinen Weckuhr ist es beim Erwachen genau 7.46.

Einiges Gutes hat diese Schlaflosigkeit schon. In dieser Zeit, so zwischen drei und fünf, werde ich von den fremdesten Gedanken und Ideen überfallen. Zum Beispiel Themen und Ideen für eine neue Bagatelle. So wie diese.



Nachschrift: Auf den Fotos sehen Sie unsere Schlafsituation. Das Bettuntergestell ist dezent von einer Überdecke bedeckt. Der Quillt am Kopfende ist ein Beispiel Frau Terras Werke. Die Bücherschränke ganz links sind zwei von unzählbaren im ganzen Haus. An der Wand meine Ahnengalerie. Hierauf bin ich selbst nebst all meinen Vorfahren abgebildet: vom Vater, Großvater, Ur-Großvater bis zu dessen Vater: mein Ur-Ur-Großvater. Das ganze umfaßt zwei Jahrhunderte.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Samstag, 11. Februar 2012
Bagatelle 147 - Die unbekannte Oma
Wie weit in unserem Leben geht unser Gedächtnis zurück? Einige behaupten daß die frühesten Erinnerungen bis zum 4-jährigen Alter zurückweisen; alles was davor liegt, würdest du nur vom hören sagen kennen. Einige andere, worunter ich selber, meinen daß die Erinnerungskraft, wenn man sich bemüht, noch weiter zurück reicht. Auf einem Familienbild, womit mein Vater seine vier Kinder für die Ewigkeit zu bewahren versuchte, erscheine ich als zwei-jähriger. Aber ich weiß Ort und Stelle noch genau. Auch wie die Nachbarsfrau, seitlich anwesend, mich aufforderte zu winken. Alle sagen: wie kannst du das wissen? Aber ich kann. Ich weiß es eben.

In meiner Erinnerung ist kein Platz für meine Großmutter mütterlicherseits. Die Mutter meiner Mutter starb als ich anderthalb Jahre alt war. 1941. Meine Mutter sagte immer: die Oma ist im Krieg gestorben, obwohl beides nichts mit einander zu tun hatte. Ich kenne meine Oma nur aus den Bildern und aus den Familiengeschichten. Weder ihre Stimme kann ich mir vor Ohren halten, noch kann ich mich daran leiblich, kinetisch also, erinnern daß sie mich trug und daß sie mich auf ihren Schoß sitzen ließ.



Diese meine Oma (die ándere Oma, die Mutter meines Vaters, starb Jahre vor meiner Geburt) wurde 1864 geboren. Das Bild zeigt uns eine junge Frau - schätzungsweise 16 Jahre alt - die etwas argwöhnisch die Handlungen des Fotografen beobachtet. Ich sehe ihr dünnes Haar, nach zwei Seiten gekämmt, und ihre schöne Sonntagstracht. An ihren Händen, ruhig in ihrem Schoß liegend, sieht man, daß diese Bauerstochter die rauhe Landarbeit nicht scheute.
Warum dieses Bild? Vielleicht möchte die Oma beweisen, daß sich hier eine junge, heiratsfähige, selbstbewußte Frau der Welt präsentierte. Selbstbewußt, sicher, aber auch ein wenig schwermütig. Denn das sieht man auch, denke ich.

Wie gesagt, das wenige was ich von meiner Oma weiß, weiß ich aus Geschichten anderer über sie. Aber vieles weiß man nicht. Ich weiß nicht was ihre Lieblingsfarbe war, ich weiß nicht mal ihre Augenfarbe. Kleinigkeiten, die hört man. Daß sie große Angst vor Pferden hatte und sonntags nicht gerne mit Pferd und Kutsche zur Kirche fuhr. Daß sie deshalb heilfroh war als die Möglichkeit kam sich mit einem Fahrrad von einem zum anderen Haus zu bewegen. Da meine Oma in ihrem späteren Leben auch Hebamme war, - sehr geliebt und gepriesen von der ganzen Gegend - war ein Fahrrad fast ein Gottesgeschenk.

Zwei Oma-Geschichten sind mir so oft erzählt worden, daß sie wohl stimmen müssen. Es sind förmlich Tatsachen. Die will ich ihnen nicht vorenthalten.
Man sagte: die Oma sei klug und intelligent gewesen. Sie war auch weise. Viel wichtiger und seltsamer war vielleicht das unerklärliche Vermögen Omas den Tod gewisser Leute aus der Umgebung vorhersagen zu können. Das hat mir meine Mutter in einer vertraulichen Stunde erzählt. Sie, die Oma, sei aber über diese besondere Gabe gar nicht erfreut gewesen. Im Gegenteil, sie habe darunter gelitten.

Die Oma war klug und weise. Sie war auch, wie wir sagen, 'eigenwijs', das heißt: eigensinnig. Sie vertrat ihre eigene Meinung und war schwer davon abzubringen. Was folgendes Beispiel illustriert.
Als der Malermeister einmal das 'beste' Zimmer im Bauernhof tapeziert hatte, den Raum in dem man die wichtigen Gäste empfing, ließ die Oma verbreiten, daß der Maler zwar sein Bestes getan habe, aber daß sie sich an dem Ergebnis nicht erfreuen könne. Deshalb nahm sie selber Pinsel und Farbe zur Hand, verschloß die Tür und malte eigenhändig ein bekanntes Tapetenmuster (die französische Lilie) auf die neue Tapete. Einen ganzen Tag dauerte diese Malerei. Um Fragen wie: warum machst du das, Oma? vorzubeugen, sprach sie, als sie wieder hervor trat, die unvergeßlichen Worte: 'Es war mir einfach zu langweilig: nur diese vertikalen Streifen und Linien.'

Ich habe meine Oma nicht gekannt. Sie hat mich sicherlich getragen und ich hab' sie gesehen, ihre sanfte Stimme gehört und ihren Körper gefühlt. Meine Oma hieß mit Vornamen Dora Berendina. Und wenn Sie meinen richtigen Vornamen kennen würden, wüßten Sie, daß ich nach ihr benannt worden bin. Wie es damals so üblich war. Auch darum hab' ich was mit ihr.
Auf dem unteren Bild sehen Sie meine Großeltern. Die Oma trägt nicht mich, sondern meine Kusine. Ein Bild mit uns beiden zusammen gibt es nicht.
Und wenn Sie mögen: von meinem Großvater erzähl ich Ihnen ein anderes Mal.

... link (4 Kommentare)   ... comment


Samstag, 28. Mai 2011
Bagatelle 107 - Friedhöflicher Neuanfang
Irgendwo mag ich sie. Friedhöfe meine ich. Vor allem in Großstädten sind sie Oasen der stillen Ruhe und Schau- und Hörplätze zahlreicher Singvögel welche in diesem Maimonat uns ihr fantastisches Oeuvre hören lassen. Nein, im Gegensatz zu denen, die in einem Friedhof am liebsten nicht, und wenn, denn so kurz wie möglich, verweilen, kehre ich gerne dort ein. Ich gehe die Pfade entlang, betrachte mir die Gräber und lese die Namen. Oft fällt mir auf wie sorgsam manche auch alte Gräber versorgt werden. Auch sehe ich, daß einige Familien es vermeiden die Grabsteine ihrer verstorbenen Verwandten dann und wann von Vogelhinterlassenschaften zu befreien.

Unlängst waren wir wieder auf dem Zwillbrocker Friedhof. Zwillbrock ist ein kleiner Flecken irgendwo zwischen Enschede (NL) und Gronau (D). Berühmt ist der Ort weil sich hier sowohl eine Möwenkolonie als ein Flamingoparadis befindet. Aber wirklich sehr besonders ist die Barockkirche die fast genau auf der Grenze zwischen Deutschland und den Niederlanden steht. (Die holländischen Katholiken, die derzeit [17-19. Jahrhundert] dort nicht sehr angesehen waren, gingen in Zwillbrock zur Messe.) Wie es auch sei: fast immer wenn wir dort vorbeifahren, besuchen wir die Kirche und den Friedhof. Und einige Zeit später gestatten wir uns beim Gastwirt am Kloppendeich ein kühles Bier.



Hier sehen wir das Familiengrab der Familie Startmann. Nein, nicht Stratmann, dieser quasi-komische WDR-Kabarettist der in seinem früheren Leben mal Arzt gewesen sein soll. Diese Familie heißt Startmann. Vater Heinrich ist 1998 verstorben. Seine Ehefrau mit dem schönen Namen Helene folgte ihm 2009. Die verschieden farbigen Buchstaben auf dem Grabstein zeigen die elf Jahre Unterschied.



Vorsichtig und stille nähere ich mich dem Grab, sehe wie gut die Familie das Grab gepflegt hat und wundere mich. Über den Namen. Denn darüber kann ich stundenlang philosophieren. Über die Tatsache daß jemand, der sein irdisches Leben definitiv beendet hat, den Namen Startmann trägt.

Einige wenige gläubige Leser werden vielleicht behaupten, daß Herr Startmann einen guten, richtigen, passenden Namen trägt. Weil jetzt nach seinem Tode ein neues, ewiges Leben anfängt.

... link (4 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 24. März 2011
Bagatelle LXLVII - Schreibtisch samt Stuhl
Wer hat je behauptet, daß jede Bagatelle eine Welt voller Freude und Fröhlichkeit repräsentieren sollte? Oder daß der Inhalt jedes bagatellarischen Textes uns allen Zeuge einer humorvollen und spitsfindig-menschlichen Gesellschaft sein lassen will? Derjenige, der dies alles in voller Ernst verbreitet hat, möge sich für eine Weile in die Ecke stellen um sich seines unpassenden Benehmens bewußt zu werden. Denn die Wahrheit ist eine andere. Die meisten Bagatellen sind genau so langweilig als auch kurz. Obwohl wir - selbstverständlich aus zuverlässiger Quelle - wissen, daß ein gewisser Herr Justus Oberwasser aus Wolfenbüttel, der sich hier auf blogger.de verirrt hatte und der zufälligerweise bei den Bagatellen landete, sich beim Lesen ab und zu ein kleines Lächeln nicht verkneifen konnte.

Manche Bagatelle ist zwar qua Inhalt und Subjekt so alltäglich, daß einem die Lust zum Lesen beinahe vergeht. Und die unzutreffende Art und Weise mit der mit der deutschen Sprache umgegangen wird, ist derart verwerflich, daß nicht nur der Autor sondern auch der Leser sich schämen sollte. Hierbei geschehen.



Trotz alledem möchte ich Ihnen die alberne Geschichte meines Schreibtisches samt Schreibstuhl erzählen. Einen mehr alltäglichen Gegenstand gibt es nicht. Ich füge ein Lichtbild bei, so daß Sie sich ein Bild machen können. Der Schreibtisch plus Stuhl stammen von meinem schon vor Jahren verstorbenen Vater. Der war beruflich auf dem Rathaus in unserer Gemeinde tätig. Unter anderem als Empfänger der hiesigen Gemeindesteuer. Gemeindemitglieder konnten tagsüber bei ihm auf dem Rathaus ihre Schuld bezahlen. Und wenn sie tagsüber besseres zu tun hatten, konnten sie am Abend auch bei uns zu Hause ihre Gemeindesteuerschuld tilgen. In unserem Haus hatten wir dafür ein spezielles Zimmer, das wir „das Kontor“ nannten. Da befand sich dieser Schreibtisch. Mein Vater saß auf dem Schreibstuhl dahinter und der zahlende Mitbürger stand davor. In der einen Hand die Mütze und in der anderen entweder das zu bezahlende Geld oder eine Bittschrift um Erlaß der Schulden.

Nach meinem Vaters Tod zog mein ältester Bruder in das Haus. Er übernahm sowohl den Schreibtisch als auch den Stuhl. Und jetzt, nach wiederum séinem Tod, stehen Tisch und Stuhl bei mir in unserem alten Bauernhof. Sie passen dort überhaupt nicht, aber wer will solch einen alten abgenutzten Schreibtisch samt Stuhl? Nur einer wie ich der teuere Erinnerungen an das Stück hat. Und schon gar wenn es so eine Geschichte mit sich trägt.

Auf eines möchte ich hinweisen. Rechts am Stuhl, irgendwo unter der Armlehne, wird eine fremde Höhle sichtbar. Während der letzten Kriegstage ist unser Dorf um März 1945 schwer bombardiert worden. Von unserem Haus stand nach dem Bombardement nur noch die vorderste Hälfte. Überall fanden wir Spuren der Granatscherben. Eine traf den Schreibtischstuhl. Und, wenn wir die Familiengeschichte glauben können - mir ist sie auch nur erzählt worden – ist das bis auf den heutigen Tag sichtbar. Wenn Sie wollen: ich kann Ihnen die Wunde zeigen.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Mittwoch, 23. Februar 2011
Bagatelle LXLII - Der Tod mit Sense und Rechen
Wenn Sie mögen, erzähle ich ihnen gerne eine zwar bizarre, aber wahrgeschehene Familiengeschichte. Dazu hohl’ ich mir zuerst den alten hölzernen Heurechen aus der Scheune und stelle ihn schräg gegen die Scheunetüre, Stiehl nach unten und Zähne nach oben, damit alle sich an ihr Bild erfreuen können.



Mein Großonkel Wilhelm (schlicht Onkel Willem genannt), Bruder meines Großvaters Heinrich (Hendrik) väterlicherseits, war in seinen jungen Jahren ziemlich schroff, brutal, laut und vorlaut. Viele Jahre später, nach zwei Weltkriegen, zwei Ehen (beide 25-jährig!) und zwei im Kriege gestorbenen Söhnen, als ihn das wirkliche Leben also eingeholt hatte, wurde er milder und stiller. Die folgende Geschichte spielt in seinen jungen Flegeljahren.

Die Heuerntezeit ist gekommen. Jeder auf dem Bauernhof – auch die Nachbarn sind gefragt - der eine Sense oder einen Rechen tragen kann, ist aufgefordert beim Heu machen zu helfen. In der Mittagspause, nachdem die Frauensleute das Essen gebracht haben und sich mit den wenigen Überbleibseln auf den Heimweg machen, legt sich mancher im Schatten der Bäume zum schlafen. Wißt ihr, sagt der junge Willem, daß man im stehen schlafen kann? Auch hier im freien Felde? Ich werde es euch zeigen.

Willem benutzt seinen Heurechen. Er drückt den Stiel fest in den Boden, sodaß die Zinken gen Himmel zeigen. Etwas schräg steht der Rechen als Willem seinen Kopf dorthin steckt, wo sich der Stiel in zweien verzweigt. Er bildet, zusammen mit dem Rechen und dem Boden worauf beide stehen, quasi ein Dreieck. Willem schließt die Augen und hält sich schlafend. Alle die ihm zusehen, lachen laut. Bis nach einer Weile die Nachbarsfrau sagt: Jetzt ist’s genug Willem. Hör damit auf. Aber Willem reagiert nicht.



Nein, Willem gibt keinen Ton mehr. Die Blutgefäße links und rechts in Hals und Nacken sind vom verzweigten Rechenstiel völlig abgeklemmt. Um ein Haar ist Willem bewußtlos. Glücklicherweise fällt er samt Rechen seitlich auf den Boden, (eine Windböe, eine kluge Nachbarsfrau die ihn umstößt?) wobei sein Kopf von der Umklemmung befreit wird. Das Lachen und Prahlen ist ihm ergangen.

’Man kann schmerzhaft und schmerzlos sterben,’ sagte Onkel Willem später. ’Das zweite ist mir fast passiert: damals in der Heuernte, mit dem Heurechen.’ Der Tod kommt manchmal still und leise. Der Totenmann kommt manchmal mit Sense únd Rechen.

... link (2 Kommentare)   ... comment


Donnerstag, 27. Januar 2011
Bagatelle LXXXIX - Harmonie
Was zu tun wenn man, aus musikalischem Verlangen, sich ein Klavier kaufen will, aber feststellen muß, daß das Geld nicht reicht? Verzichten ist wohl das letzte. Besser: wir kaufen uns beim Klavierhändler um die Ecke ein Harmonium. Sehr viel billiger und trotzdem einigermaßen musikalisch.
So dachten meine Eltern vor vielen, vielen Jahren. Als junges Mädchen hatte meine Mutter bei ihr zu Hause – ungewöhnlich auf einem Bauernhof – das Harmonium spielen gelernt. Wie mein Vater auch. Noch etwas seltener, weil ziemlich unüblich für Bauernsöhne. Und als das Paar zwei Jahre verheiratet war, besorgten sie sich ein eigenes, mattbraunes, Harmonium. Nachträglich hätte ich uns ein richtiges Klavier gewünscht, aber wie gesagt: das Geld fehlte .



Harmonium und Klavier sind zwar völlig verschieden - ich komme nicht dazu Ihnen alle Unterschiede darzulegen, bitte fragen Sie ihren Arzt oder Apotheker - aber das Notenbild und die dazu gehörende Noten gleichen sich sehr. Auch die Lehrbücher kann man guten Gewissens neben einander legen und verwenden. Wenn Sie also lernen wollen wie man - wie der Mann am Klavier dem wir gerne ein Bier schenken – auf einem Steinway “Alle meine Entchen“ spielt, schauen Sie bitte nach in der Harmonium-Schule. Das ist das ultimative Unterrichtsbuch für anfangende Klavier- und Harmoniumspieler.

Vor einiger Zeit fand ich sie wieder: diese theoretisch-praktische Harmonium-Schule. (Von den ersten Anfängen bis zur entwickelten Technik [auch zum Selbstunterricht], sagt Heinrich Bungart, der Verfasser dieses äußerst nützliche Werkchens.) Es lag, in einem Karton, von unmusikalischen Mäusen etwas angeprangert, auf dem Dachboden unserer Scheune. Und sofort drangen die Jugendbilder in den Vordergrund. Ich las die Titel. Zum Beispiel “Vorübungen für die rechte Hand“ (Seite 33) oder “Das Waldhorn“ (Wie lieblich schallt, Nummer 121, Seite 60.) Nicht zu vergessen: “O du fröhliche", Nummer 187 auf Seite 83.



Sehr interessant, unterhaltsam und lehrreich ist die Tatsache, daß alles geschriebene zweisprachig ist. Deutsch únd Englisch. Das betrifft die Musiktitel, aber auch die Anmerkungen zur Verbesserung der Spielweise. Beim Weihnachtslied “Stille Nacht" steht geschrieben Silent Night! Hallowed Night! Und der Autor rät: Mit sanften Stimmen. Übersetzt meint er: With soft stops. Die Noten und Notenlinien selber entziehen sich dem Sprachzwang. Sie sind universal. Wenn mein Neffe aus Pakistan (den es nicht gibt) bei uns zu Besuch käme, (was er nie tun würde,) könnte er ohne Fehl und Tadel Mozarts Ave Verum spielen. Richtig, mit zwei Händen. Die beiden Füße würden für genügend (weil notwendigen) Wind sorgen.

Genug der Worte. Ich nehme das Harmonium-Buch, gehe in die Scheune hinterm Hof, dort wie immer noch unser altes Harmonium seine Zeit in Ruhe verbringt, schlage Seite 79 auf und spiele “Brüder reicht die Hand zum Bunde" von Wolfgang Amadeus. Auf Englisch: Song of society. Der Lehrer rät: spielen Sie es feierlich. Solenne in der Musiksprache.

... link (0 Kommentare)   ... comment


Dienstag, 21. Dezember 2010
Bagatelle LXXXV - Scharfe Wünsche
Mein längst verstorbener Schwiegervater, ein kleiner Bauersmann, der es mit Mühe und Not schaffte seine Familie einigermaßen ordentlich über die Runden zu bekommen, besaß Pferd und Wagen, womit er jedem der etwas zu befördern hatte seine Dienste anbot. So fuhr er jahrelang, Sommer und Winter, bei jedem Wetter, die vollen Milchkannen aus der Nachbarschaft zur Molkerei, der Milch- und Käsefabrik im Dorf nebenan.
Wenn es denn so glatt und glitzig war auf des Herren Wegen, wie es heute der Fall ist in diesem Adventswinter Anno 2010, schraubte er kleine spitzförmige Eisenteile (Stifte) in die Hufeisen seines Pferdes. Jetzt wissen Sie auch wozu die runden Öffnungen in den Hufeisen taugen. Sicher: damit das Pferd sich auf den befrorenen schneeverwehten Landwegen aufrecht halten konnte. Man sagte: er hat sein Pferd ‘op scherp’ gesetzt. Oder: das Pferd geht auf scharf. Die alte Mähre trug Hufeisen mit spikes, könnte man sagen. So sahen die aus, die griffig machende Spikes. In einer alten Schachtel speziell für Sie aufbewahrt.



Auf scharf gehen, kann man auch figürlich sehen. Mit offenen Augen, alert, kaum abgestumpft und aufmerksam beobachten was denn so spielt im Lande. Reagieren wenn’s sein muß. Seine Stimme hören lassen wenn angefeuert, gelobt, ermutigt oder protestiert werden muß. Nicht unbedingt mit áller Schärfe, aber schon so, daß man sich stehend hält auf glatten, schiefen Ebenen, die man uns manchmal vorstellt gehen zu müssen.

Ich wünsche uns allen für das nächste Jahr genügend Schärfe, aber auch Momente der Stille und Besinnlichkeit. Sogar Augenblicke voller Sentimentalität und Nostalgie die offenbar werden in solch einer Weihnachtskarte des eigenen Hofes wie Sie hier unten sehen. Womit ich ihnen allen ganz und gar ohne Ironie und aufrichtig eine frohe Weihnacht und ein glückliches neues Jahr wünsche.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Samstag, 11. September 2010
Bagatelle LXXI - Schwielen


Was Sie hier sehen, befindet sich am Scheideweg zwischen Leben und Tod. Es sind, verzeiht mir bitte, meine eigenen Füße, welche für diese Bagatellgelegenheit schön in Pose gezeigt werden. Was heißt hier übrigens ‘schön’? Natürlich streiten wir nicht über Ästhetik oder Geschmack. Sie mögen alles Unschöne über meine Füße verbreiten, aber Sie können unmöglich behaupten, daß sie nicht schön sauber seien. Die weißen Streifen, etwas südlich von meinen Zehen, sind Hautflächen welche von Teilen meiner ledernen Sandaletten (oder wie die heißen) bedeckt werden und dadurch ungebräunt geblieben sind. Nicht daß Sie denken es sei Fußpilz oder schlimmer: Skorbut.

Auf dem Spann des linken Fußes sieht man in der Fußlandschaft eine weiße Anhöhe. Es ist eine Schwiele. Die ist eine Folge des Holzschuh-gehens. (Bitte nicht zu verwechseln mit ‘Holzschuh-Gen’.) Ich meine: durch das ständige sich fortbewegen auf Holzschuhen ist die damit verbundenen Reibung zwischen Beinhaut und Holzschuhholz eine Folge. Am rechten Fuß ist ähnliches zu sehen und auch an den Fersen findet man kleine aber durchaus tüchtige Schwielen.

Ich weiß nicht recht: gibt es nur Schwielen in Plural? Besteht auch die einzelne, einzige Schwiele? Und die weit wichtigerer Frage die da lautet: zu welcher Art Materie gehören die Schwielen? Zu der lebendigen oder zu der toten? Schwielen kommen und gehen. Man kann sie entfernen oder wegschneiden (ohne daß es schmerzt) aber sie wachsen und kommen bestimmt wieder zurück. Also doch lebende Materie? Sticht man mit einer Nadel in die Schwiele, so fühlt es sich an wie toter Stoff. Alles Rätsel die auch die Evolution uns nicht recht erklären kann.

Schwielen entstehen also durch Reibung. Im Falle von Holzschuhen Haut gegen Holz oder umgekehrt. Es macht Schwielen nichts aus ob man in den Holzschuhen Socken trägt oder – was ich selber oft tue – barfüßig daher geht. Bei der Arbeit auf unserem Bauernhof, wo immer etwas anfällt, trage ich immer und am liebsten Holzschuhe, oder wie wir sagen ‘klompen’. Für manche sind Holzschuhe Marterwerkzeuge, aber nicht für mich. Außerdem sind Holzschuhe kühl im Sommer und warm im Winter. Sie halten die Füße trocken in Regenschauern und ertragen einen fallendes Bäumchen oder einen aus der Hand fliegenden Hammer. Wem je ein Baumstamm auf den Fuß fiel, gerade als man keine Holzschuhe trug, weiß was ich meine. Und noch einen Rat geb’ ich Ihnen: gehe niemals in Holzschuhen auf eine Leiter oder eine Treppe. Das ist spielen mit dem Leben.

Als Zugabe ein Bildnis unserer Sammlung Holzschuhe. Rechts die hölzerne Fußbekleidung für Frauensleute, Frau Terra in diesem Fall. Mitten und links meiner Wenigkeits Paare: Maß 27½, das ist etwa gleichwertig mit Schuhgröße 44. Schwielenförderung garantiert.

... link (1 Kommentar)   ... comment


Freitag, 13. August 2010
Bagatelle LXVII - Recht und Schön
Obwohl kein Sprachwissenschaftler von Haus aus – weder durch Geburt noch durch eine Vererbung, weder durch Bildung noch durch Erziehung – bin ich der Meinung zugetan, daß man mit Texten auf sehr verschiedenen Weisen umgehen kann. Mann kann die Qualität, die Bedeutung, des Ausgesagten auf sich einwirken lassen, was dann wiederum zu Empörung, Einverständnis, Wut, Anerkennung oder Glücksgefühle Anlaß geben kann. Mann kann natürlich auch einen Text bis auf den kleinsten Buchstaben analysieren und herunterschaufeln. Man kann schließlich auch Texte lesen.

Spezielle Texte, Texte zu einem gegebenen Anlaß, verdienen eine spezielle Umgangsform, Handhabe und Behandlung. Ich meine jetzt die Gattung: das Gelegenheitsgedicht. Solch ein Vers verdient es mit größter Sorgfalt aufgeschrieben zu werden. Sorgfalt nach zwei Seiten: die Rechtschreibung muß stimmen und, was ich für unbedingt notwendig halte, der Text sollte schön geschrieben und schöngeschrieben, also kalligraphiert sein. Wie üblich in solchen Bagatellen folgt jetzt ein Beispiel.



In deftigen, gotische Buchstaben ist hier der Wunsch kalligraphiert, den meine Großeltern väterlicherseits zu ihrem 25. Hochzeitstag von ihren Kindern erhielten. Ich übersetze den Text für Sie, wobei Sie bitte darauf achten sollten, daß es bei diesen Gedichten gerade nicht um irgendeine literarische Qualität geht. Es steht geschrieben:

Liebe Eltern,
Gott hat Sie bewahrt,
Ein Viertel Jahrhundert gespart;
Daß auch nun Seine Sorgen nicht mindern
Hoffen Ihre dankbare Kinder.
1900 - 13 Mai - 1925


Dieses unselig schöne Vers hat also fast hundert Jahre überdauert. Und wenn sich nichts trübt, folgen noch etliche Jahrhunderte. Man kann von diesem Familientext sagen was man will, aber nicht, daß es nicht passend und mit Liebe gemacht worden ist. Doppelte Verneinungen sind stilistisch niemals schön, aber wohl wahr. Wir werden dieses Stück selbstgemachtes Familienerbgut bis an unser Lebensende – und darüber hinaus – sorgfältig pflegen, hüten und bewahren.

Wieso Familie und wieso selbstgemacht? Nun, mein Vater, Terra Sr. also, den wir auf dem unteren Bild links-oben sehen, hat den Text kalligraphiert und die wunderbaren Blumenverziehrungen gezeichnet. Und mein Großvater, links unten, hat mit eigenen Bauershänden in mühsamer winterlicher Handarbeit den Rahmen hergestellt. Mit kleinen Streifen Holz, Leim und Schnitzereien hat er ein Bauwerk erschaffen das die Jahrhunderte trotzen wird. Ohne Zweifel. Damit der Text, recht- und schöngeschrieben, im Rahmen bleibt.

... link (2 Kommentare)   ... comment