Sonntag, 25. Juli 2010
Bagatelle LXIV - Schoppentag
terra40, 14:52h
Wie ich mir hab’ sagen lassen, ist ein Schoppen entweder ein Inhaltsmaß oder eine Art Scheune. Ein Schuppen etwa, aber meistens halb offen. In meiner Dialektsprache heißt so etwas een schoppe. (Schoppe klein geschrieben, denn bei uns hat ein Substantiv nicht das Recht sich eines Kapitals zu bedienen.)
Ein schoppe ist ein überdachter Arbeits- und Sammelplatz. Dort werden alte, unbrauchbare Gegenstände für die Ewigkeit aufgehoben. Oder es ist ein Platz wo man schreinert, tischlert oder Ikeapakete zusammenzubauen versucht. Eine schoppe steht am Rande eines Bauernhofes, meistens an der eigentlichen Scheune angelehnt. Man hat ein Dach über dem Kopf, keine Mauer die das Licht hindert einzutreten und der frische Wind im Gesicht. Wir selber nutzen den Schoppen auch als Stellplatz fürs Auto, als carport sozusagen. Wenn ich einen Holzofen hätte, müßte ich dann und wann Holz hauen. So eine Arbeit würde ich gerne im Schoppen machen wollen.
Es gibt bei uns auch Schoppentage. Morgens früh dienen sie sich an. Graue Wolken kommen und verbreiten Regen. Manchmal regnet es den ganzen Tag. Leise, aber immerhin. Dann sagen wir zu einander: heute ist wieder ein Schoppentag. Das heißt in concreto: verbannt werden in den Schoppen und nicht tun können was man sich eigentlich vorgenommen hatte diesen Tag zu tun: die Hausfenster anstreichen oder die Dachrinne erneuern.
Es regnet also. Wir gehen in den Schoppen, denken eine Weile über den Sinn des Lebens nach und suchen uns dann die Arbeit die uns paßt. Leicht, vorübergehend, nicht dringend erforderlich, nicht unbedingt nötig. Ich putze das Fahrrad meiner Gattin, zum Beispiel. Oder ich repariere den uralten Lehnstuhl, den ich mir für fünf Euro auf dem Trödelmarkt hab’ verkaufen lassen. Wir hören dabei klassisches Radio 4 oder WDR-3 wenn es uns danach zu Mute ist, und WDR-4 wenn es gar nichts anderes gibt. Und zwischendurch ruinieren wir den alten Sessel sosehr, daß wir ihn am Ende des Tages auf den Scheiterhaufen werfen können.
Oft verläuft ein Schoppentag anders. Gegen elf etwa, nach dem Kaffeetrunk der heute noch länger dauert als sonst, wird es etwas heller. Der Regen hört allmählich auf und am Himmel erscheinen die ersten Blauflächen. Die Singvögel kündigen den Rest eines fröhlichen, sonnigen Tages an. Wir stehen auf, lassen das Werkzeug liegen wo es liegt, um am Abend zu vergessen es aufzuräumen und freuen uns auf die richtige, échte Arbeit. Die Schoppenarbeit kann warten. Bis ein neuer Schoppentag kommt. Und der kommt bestimmt.
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Dienstag, 27. April 2010
Bagatelle LIII - Tom-Tom in Habsburg
terra40, 19:53h
Wie gut daß es immer wieder Leute gibt die allerhand Sachen aufbewahren. Seien es Fotos, Kinderspielsachen, Briefe, Kleider oder Babylocken. Wenn nicht mein Schwiegeronkel Johan (geliebter Onkel meiner ebenso geliebten Gattin) nicht so klug gewesen wäre sein Geographieheft aus der fünften Grundschulklasse aufzubewahren, hätten wir niemals gewußt wie es kam, daß unsere Vorfahren so gut und mühelos den Weg in der Donaumonarchie fanden. Es liegt auf der Hand: man hat es früher in der Schule gelernt. Die Topographie war damals bei uns wichtigster Bestandteil der schulischen Geographie.
Dies hier ist Onkel Johans Topographieheft, das will heißen: eine Seite daraus. Oben eine wie wir nennen ‘blinde’ Landkarte, auf der der 11-Jährige Johan den Städten ihren Platz und Namen gibt. Ebenso die Flüsse und Meere. Sogar Höhenunterschiede hat er sichtbar gemacht. Die ungarische Tiefebene ist grün eingefärbt und die alpinischen Ausläufer in Tirol und anverwandten Gebieten sehen bräunlich aus. Galizien erscheint sogar zwei mal: im Nordosten, bei der Stadt Lemgo/Lemberg, und linksunten irgendwo dort wo wir Kroatien vermuten. Aber Onkel Johan hat sicherlich dafür seine Gründe gehabt.
Unter der Karte schreibt Johan die Namen der Städte und Landstriche, der Gebirge und Wassermengen. Auch einige Sehenswürdigkeiten nennt er: Pußta, Semmeringbahn, Erzgebirge, Brennerpass.
Sehr interessant, bis in die heutige Gegenwart, sind die aufgeführten Städtenamen. Weenen (Wien), Praag, Boeda, Pest, Triëst, Serajewo … Das Heft datiert aus dem Jahre 1913. Ein Jahr später, 1914, wird der habsburgische Erzherzog Franz Ferdinand hier in Serajewo sein Ende finden. Gefolgt von einem Weltkrieg der vier schreckliche Jahre dauert. Serajewo: Onkel Johan hätte es uns, die sich auf Gottes Wegen ohne Navigationsmittel fast nicht mehr zurecht finden, auf seiner Karte fehlerfrei zeigen können.
Dies hier ist Onkel Johans Topographieheft, das will heißen: eine Seite daraus. Oben eine wie wir nennen ‘blinde’ Landkarte, auf der der 11-Jährige Johan den Städten ihren Platz und Namen gibt. Ebenso die Flüsse und Meere. Sogar Höhenunterschiede hat er sichtbar gemacht. Die ungarische Tiefebene ist grün eingefärbt und die alpinischen Ausläufer in Tirol und anverwandten Gebieten sehen bräunlich aus. Galizien erscheint sogar zwei mal: im Nordosten, bei der Stadt Lemgo/Lemberg, und linksunten irgendwo dort wo wir Kroatien vermuten. Aber Onkel Johan hat sicherlich dafür seine Gründe gehabt.
Unter der Karte schreibt Johan die Namen der Städte und Landstriche, der Gebirge und Wassermengen. Auch einige Sehenswürdigkeiten nennt er: Pußta, Semmeringbahn, Erzgebirge, Brennerpass.
Sehr interessant, bis in die heutige Gegenwart, sind die aufgeführten Städtenamen. Weenen (Wien), Praag, Boeda, Pest, Triëst, Serajewo … Das Heft datiert aus dem Jahre 1913. Ein Jahr später, 1914, wird der habsburgische Erzherzog Franz Ferdinand hier in Serajewo sein Ende finden. Gefolgt von einem Weltkrieg der vier schreckliche Jahre dauert. Serajewo: Onkel Johan hätte es uns, die sich auf Gottes Wegen ohne Navigationsmittel fast nicht mehr zurecht finden, auf seiner Karte fehlerfrei zeigen können.
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Montag, 5. April 2010
Bagatelle L - Terra meets Buddha
terra40, 19:56h
Diese Bagatelle fängt mit dem Herbstnachmittagmoment an wo meine Frau mit der Buddha nach Hause gefahren kommt. Auf dem Rücken liegend im Gepäcksraum hat sie (die Buddha wohlgemerkt) die kurze Reise ohne sichtbaren Folgen überstanden. Da beginnt mein Auftrag: in meinen Armen heb’ ich sie vorsichtig hoch und trage sie nach einer geeigneten Stelle irgendwo rundums Haus. Die Buddha macht den Eindruck schwer wie Blei zu sein. Gußeisen oder so etwas, aber das ist ein Irrtum. Es ist leichter Kunststoff. Ich könnte die Buddha, wenn ich wollte, frivol unter dem Arm nehmen. Aber das würde der buddhaischen Würde – schon bei der ersten Begegnung nicht zu leugnen – sehr schaden.
Unsere Buddha verdient schon wegen ihres Äußeres sehr viel Sorge, Ehrfurcht, Zuwendung und Respekt. Sie ist, wie eigentlich jede Buddha, von einer göttlichen Schönheit, welche die Ausstrahlung eines ordinären Gartenornaments ums tausendfache übersteigt. Auch für uns, die den Buddhismus nur von hören sagen oder aus einem wenig Seiten umfassenden Büchlein kennen. Sehen Sie selbst. Wie sie dort sitzend verharrt, jetzt nun schon länger als zwei Jahre, und immer mit derselben auf einer frohen Natur basierenden fröhlichen Miene geheimnisvoll lächelnd. Sie sitzt in der meditierenden Lotushaltung, die Hände in einander gefaltet, mit den Flächen nach oben gerichtet. Sie denkt offensichtlich an das Wohl und Weh von allem um sie herum. Sie ist dankbar daß man ihr einen Platz auf Erden gegeben hat den man sich nicht besser hätte wünschen können. Das meinen wir von ihrem Gesicht lesen zu können, aber wie sicher können wir uns sein? Man weiß es nicht. Sie schweigt stille vor sich hin und ist uns in dieser Hinsicht meilenweit überlegen.
Vielleicht ist es hilfreich einige Mißverstände vorzubeugen. Zum Beispiel der Gedanke daß unsere Buddha aus dem Fernost zu uns gekommen ist. In Wirklichkeit ist sie eine Gartenverziehrung aus leichtem Terrakotta und in jedem von gut und bösem verlassenen Garten- und Freizeithandel erhältlich. Meine Frau hat sie erworben in einem Dorfsladen, wo ortsansässige Damen freiwillig Sachen aus der dritten Welt zu angemessenen Preisen verkaufen. Weil unsere Buddha einige Mängel aufwies - sie war der Verkäuferin aus den Händen gefallen und hatte dabei ihren terrakottanischen Unterteil gebrochen. Behaftet mit einem unwiderruflichen und nicht zu reparierenden Schaden also, aber praktisch unsichtbar - wurde sie mit Rabatt angeboten. Madame Terra brauchte keine Sekunde und kaufte dem Weltladen die Buddha ab. Für zwanzig euro.
Sie haben bemerkt daß ich über Buddha spreche als sei es eine ’sie’: weiblich also, ungeachtet der Tatsache daß wir überhaupt nicht wissen ob sie männlicher, weiblicher oder sächlicher Abstammung ist. Das ist aber überhaupt kein Diskussionsgrund. Die Buddha befindet sich ja auf einem Niveau das alle Sexeunterschiede völlig in den Schatten stellt. Unsere Buddha ist weder ein ’er’, eine ‘sie’ oder ein ’es’. Buddha ist Buddha und bequemlichkeitshalber rede ich von einer ‘sie’. Und dass unsere Buddha hohl von innen ist, heißt am allerwenigsten daß es ihr an Verstand, Vernunft, Durchsetzungsvermögen und ‘body’ fehlt. Ihr Inneres ist voll von unsichtbarer und gewichtsloser Weisheit.
Vor Jahren hat ein gewisser Herr Kipling mal gesagt, daß ’east is east, and west ist west’. ’And never the twain shall meet’, fügte er hinzu. Ich glaube das nicht. Stärker, ich verneine es vehement. Versuchen Sie es selber, indem Sie in ihren gps, tom-tom oder anderes Navigationsgerät die Suchbegriffe Terra/Buddha eingeben. Wetten daß Sie in Kürze bei uns in den Innenlanden erscheinen und schon aus der Ferne rufen können: und wo ist nun ihre erleuchtete Buddha?
Wir werden es Ihnen zeigen.
Unsere Buddha verdient schon wegen ihres Äußeres sehr viel Sorge, Ehrfurcht, Zuwendung und Respekt. Sie ist, wie eigentlich jede Buddha, von einer göttlichen Schönheit, welche die Ausstrahlung eines ordinären Gartenornaments ums tausendfache übersteigt. Auch für uns, die den Buddhismus nur von hören sagen oder aus einem wenig Seiten umfassenden Büchlein kennen. Sehen Sie selbst. Wie sie dort sitzend verharrt, jetzt nun schon länger als zwei Jahre, und immer mit derselben auf einer frohen Natur basierenden fröhlichen Miene geheimnisvoll lächelnd. Sie sitzt in der meditierenden Lotushaltung, die Hände in einander gefaltet, mit den Flächen nach oben gerichtet. Sie denkt offensichtlich an das Wohl und Weh von allem um sie herum. Sie ist dankbar daß man ihr einen Platz auf Erden gegeben hat den man sich nicht besser hätte wünschen können. Das meinen wir von ihrem Gesicht lesen zu können, aber wie sicher können wir uns sein? Man weiß es nicht. Sie schweigt stille vor sich hin und ist uns in dieser Hinsicht meilenweit überlegen.
Vielleicht ist es hilfreich einige Mißverstände vorzubeugen. Zum Beispiel der Gedanke daß unsere Buddha aus dem Fernost zu uns gekommen ist. In Wirklichkeit ist sie eine Gartenverziehrung aus leichtem Terrakotta und in jedem von gut und bösem verlassenen Garten- und Freizeithandel erhältlich. Meine Frau hat sie erworben in einem Dorfsladen, wo ortsansässige Damen freiwillig Sachen aus der dritten Welt zu angemessenen Preisen verkaufen. Weil unsere Buddha einige Mängel aufwies - sie war der Verkäuferin aus den Händen gefallen und hatte dabei ihren terrakottanischen Unterteil gebrochen. Behaftet mit einem unwiderruflichen und nicht zu reparierenden Schaden also, aber praktisch unsichtbar - wurde sie mit Rabatt angeboten. Madame Terra brauchte keine Sekunde und kaufte dem Weltladen die Buddha ab. Für zwanzig euro.
Sie haben bemerkt daß ich über Buddha spreche als sei es eine ’sie’: weiblich also, ungeachtet der Tatsache daß wir überhaupt nicht wissen ob sie männlicher, weiblicher oder sächlicher Abstammung ist. Das ist aber überhaupt kein Diskussionsgrund. Die Buddha befindet sich ja auf einem Niveau das alle Sexeunterschiede völlig in den Schatten stellt. Unsere Buddha ist weder ein ’er’, eine ‘sie’ oder ein ’es’. Buddha ist Buddha und bequemlichkeitshalber rede ich von einer ‘sie’. Und dass unsere Buddha hohl von innen ist, heißt am allerwenigsten daß es ihr an Verstand, Vernunft, Durchsetzungsvermögen und ‘body’ fehlt. Ihr Inneres ist voll von unsichtbarer und gewichtsloser Weisheit.
Vor Jahren hat ein gewisser Herr Kipling mal gesagt, daß ’east is east, and west ist west’. ’And never the twain shall meet’, fügte er hinzu. Ich glaube das nicht. Stärker, ich verneine es vehement. Versuchen Sie es selber, indem Sie in ihren gps, tom-tom oder anderes Navigationsgerät die Suchbegriffe Terra/Buddha eingeben. Wetten daß Sie in Kürze bei uns in den Innenlanden erscheinen und schon aus der Ferne rufen können: und wo ist nun ihre erleuchtete Buddha?
Wir werden es Ihnen zeigen.
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Montag, 8. März 2010
Bagatelle XLVI - Kartoffelleser
terra40, 13:06h
Nein, nicht die Kartoffelesser mit doppeltem s – die Sie kennen von Van Gogh - sind gemeint. Hier betrifft es die Kartoffelleser mit doppel-f und doppel-l. Und das Wort ‘Leser’ ist geschlechtsneutral: Kartoffeln werden sowohl von Männern als von Frauen gelesen. Meistens aber stechen die Männer die reifen Kartoffeln aus der Erde, legen sie vorsichtig in den Sand damit sie etwas antrocknen können, und nach einiger Zeit kommen Frauen um den Wintervorrat in in winterlicher Handarbeit selbstgefertigten Weidenkörben zu sammeln. Äpfel werden gepflückt, Kartoffeln werden gelesen, und damit ist die Welt wieder in Ordnung.
So wird es sich abgespielt haben, an diesem herrlichen Septembertag, etwa um 1925. Nach dem Frühstückspfannkuchen sagt der Bauer zu seinen zwei Töchtern, dass es ihm eine gute Idee erscheint den heutigen Tag mit Kartoffel-lese-aktivitäten zu füllen. Sie werden zu dritt gehen: der Knecht sticht die Kartoffel aus der Erde und die beiden Frauen lesen die Kartoffel und füllen damit ihre Körbe.
So ist es in der Tat. Die drei Personen auf dem Bild sind dabei ihre Kartoffelarbeit für einen Moment für eine wohlverdiente Kaffeepause zu unterbrechen. Sie nehmen sich einen time-out, wenn es so etwas damals gegeben hätte. Der Kaffee wird in ohrlosen weißen Tassen eingeschenkt. Die Frauen tragen ärmellose Arbeitskleider über ihre normale Kleidung. Der Mann streckt seine nackten Füße nach uns hervor, aber das sei ihm verziehen. Wer je mit bloßen Füßen durch den warmen Kartoffelsand gegangen ist, weiß dass es kein angenehmeres Gefühl gibt. Der Hund auf dem Knie seines Frauchens ist qua Rasse ein Bauernfox. Sein Name ist Bobby. Er traut dem Fotografen nicht.
Alles in allem ohne Zweifel ein idyllisches Bild. Fehlt nur der kaiserliche Dichter Van Swieten der einen ländlichen Text schreibt wobei der ebenfalls kaiserliche Hofkomponist Joseph Haydn eine weitere Jahreszeiten-Szene komponiert. Und wenn Sie gut zuhören, klingt in der Ferne das Angelus.
Wer sind diese Leute? Welche Ideale versuchen sie zu verwirklichen? Welche Vorstellungen vom künftigen Leben haben sie? Woran denken sie, wenn sie die Kartoffel lesen? (Das Kartoffellesen erfordert wenig mentale Energie: die Gedanken sind frei.)
Die Frau links ist meine Mutter. Sie ist hier um die 25 Jahre alt. Einige Jahre später wird sie den Fotografen, meinen Vater, heiraten. Sie weiß noch nicht dass ihr ein langes, manchmal schwieriges, aber auch glückliches Leben bevorsteht. Neben ihr schenkt ihre etwas ältere Schwester Hanna den Kaffee ein. Tante Hanna wird unverheiratet bleiben und als Haushälterin ihren Lebensunterhalt verdienen. Ihre Briefe mit der starken und dennoch zierlichen Handschrift werden bis auf den heutigen Tag mit Freuden gelesen. Der Mann rechts ist der Knecht auf dem Hof meines Großvaters. Die beide Schwestern wohnen noch bei ihren Eltern.
Sehr apart, besonders also, find ich die Haube die meine Mutter trägt. Es ist eine weiße Kappe die ihre Haut gegen die bräunende Septembersonne schützen soll. Meine Mutter lässt ihre Haube nicht nach dem Wind, sondern nach der Sonne hängen. Wenn man gut sieht, kann man ihre sanfte, schöne Gesichtszüge erkennen. Welch ein Kontrast mit den rauhschwarzen Kartoffellesehänden. Aber das ist nur die Außenseite.
So wird es sich abgespielt haben, an diesem herrlichen Septembertag, etwa um 1925. Nach dem Frühstückspfannkuchen sagt der Bauer zu seinen zwei Töchtern, dass es ihm eine gute Idee erscheint den heutigen Tag mit Kartoffel-lese-aktivitäten zu füllen. Sie werden zu dritt gehen: der Knecht sticht die Kartoffel aus der Erde und die beiden Frauen lesen die Kartoffel und füllen damit ihre Körbe.
So ist es in der Tat. Die drei Personen auf dem Bild sind dabei ihre Kartoffelarbeit für einen Moment für eine wohlverdiente Kaffeepause zu unterbrechen. Sie nehmen sich einen time-out, wenn es so etwas damals gegeben hätte. Der Kaffee wird in ohrlosen weißen Tassen eingeschenkt. Die Frauen tragen ärmellose Arbeitskleider über ihre normale Kleidung. Der Mann streckt seine nackten Füße nach uns hervor, aber das sei ihm verziehen. Wer je mit bloßen Füßen durch den warmen Kartoffelsand gegangen ist, weiß dass es kein angenehmeres Gefühl gibt. Der Hund auf dem Knie seines Frauchens ist qua Rasse ein Bauernfox. Sein Name ist Bobby. Er traut dem Fotografen nicht.
Alles in allem ohne Zweifel ein idyllisches Bild. Fehlt nur der kaiserliche Dichter Van Swieten der einen ländlichen Text schreibt wobei der ebenfalls kaiserliche Hofkomponist Joseph Haydn eine weitere Jahreszeiten-Szene komponiert. Und wenn Sie gut zuhören, klingt in der Ferne das Angelus.
Wer sind diese Leute? Welche Ideale versuchen sie zu verwirklichen? Welche Vorstellungen vom künftigen Leben haben sie? Woran denken sie, wenn sie die Kartoffel lesen? (Das Kartoffellesen erfordert wenig mentale Energie: die Gedanken sind frei.)
Die Frau links ist meine Mutter. Sie ist hier um die 25 Jahre alt. Einige Jahre später wird sie den Fotografen, meinen Vater, heiraten. Sie weiß noch nicht dass ihr ein langes, manchmal schwieriges, aber auch glückliches Leben bevorsteht. Neben ihr schenkt ihre etwas ältere Schwester Hanna den Kaffee ein. Tante Hanna wird unverheiratet bleiben und als Haushälterin ihren Lebensunterhalt verdienen. Ihre Briefe mit der starken und dennoch zierlichen Handschrift werden bis auf den heutigen Tag mit Freuden gelesen. Der Mann rechts ist der Knecht auf dem Hof meines Großvaters. Die beide Schwestern wohnen noch bei ihren Eltern.
Sehr apart, besonders also, find ich die Haube die meine Mutter trägt. Es ist eine weiße Kappe die ihre Haut gegen die bräunende Septembersonne schützen soll. Meine Mutter lässt ihre Haube nicht nach dem Wind, sondern nach der Sonne hängen. Wenn man gut sieht, kann man ihre sanfte, schöne Gesichtszüge erkennen. Welch ein Kontrast mit den rauhschwarzen Kartoffellesehänden. Aber das ist nur die Außenseite.
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Samstag, 12. Dezember 2009
Bagatelle XXXI - Rhetorisches Dilemma
terra40, 21:55h
An und in dem mehr als einhundert Jahre alten Bauernhof, worin wir das Vergnügen haben zu wohnen, ist im Laufe der Zeit allerhand gebaut und verbaut worden. Aber an dem was wir Keller nennen hat sich wenig geändert. Es ist eigentlich auch kein richtiger Keller, denn eine Treppe nach unten fehlt ganz und gar. Es ist nur ein kleiner Raum auf der sogenannten kalten Seite des Hauses; das heißt: nach Osten und Norden gerichtet, mit einer Länge von zwei Metern und einhundertzwanzig Zentimeter breit. (Extra für Sie noch mal nachgemessen.) Kalt im Winter und kühl im Sommer: gut geeignet um Ess- und Trinkware nebst allen Koch-, Back- und Bratutensilien aufzubewahren. Das eine und einzige Fenster ist von einem eisernen Gitter versehen, wie bei einer Zelle in einem prähistorischen Gefängnis.
Entlang der Mauer befinden sich vier Bretter welche fast unter der Last massenweiser gestapelten Essensware zu brechen drohen. Der Vorrat Eingemachtes reicht mindestens zum Ganznimmerleinstag 2020. Ganz oben in der Ecke steht ein besonderes großes Glas Eingemachtes. Wie es sich bei einem Weck-Glas gehört abgeschlossen von der Außenwelt durch einen Gummiring der Glas und Deckel sowohl von einander trennt als auch zusammenhält.
Wenn Sie sich einige Mühe geben, sehen Sie dass der Inhalt des Glases aus Fleisch besteht. Rindfleisch. Die weiße Masse darüber ist geronnenes Fett das wie ein Schutzschild über das Fleisch liegt. Das richtig besondere ist jedoch das Datum. Ein kleines Schildchen sagt aus, dass dieses Fleisch von einer Kuh stammt die 1940 geschlachtet wurde. Das ist also fast siebzig Jahre her. Siebzig Jahre altes Rindfleisch! Meine Schwiegermutter hat ihr erstes Weck-Produkt als sie in dieses Haus einzog, sorgfältig aufbewahrt. Sie hatte meinen Schwiegervater im Februar 1940 geheiratet.
Ich höre förmlich was Sie denken: kann man das Fleisch jetzt noch essen? Siebzig Jahre ist es luftdicht aufbewahrt. Ein klassisches Dilemma mit zwei Optionen steht vor der Tür und bittet um Eintritt:
1) Wir entfernen den Gummiring – Sie wissen wie: mit einer Nadel in das Gummi stechen, Luft reinlassen - wir öffnen das Glas und wir prüfen ob das Fleisch genießbar ist.
2) Wir lassen alles beim alten. Wir werden jetzt nicht und niemals nicht versuchen das Glas zu öffnen, denn man kann es nur einmal öffnen und nachher nie mehr in den alten Zustand zurückversetzen. Wir werden das Geheimnis hüten und pflegen und werden nie erfahren ob und wie dieses eingemachtes Rindfleisch nach siebzig Jahren schmeckt.
Seien Sie nicht besorgt. Wir wählen die zweite Option. Ohne einen Zweifelaugenblick nehmen wir das Glas in die Hände und setzen es äußerst vorsichtig an seinen Platz auf der obersten Etage in unserem Keller. Für uns ist es keine Frage. Für uns ist es ein rhetorisches, also unechtes Dilemma.
Entlang der Mauer befinden sich vier Bretter welche fast unter der Last massenweiser gestapelten Essensware zu brechen drohen. Der Vorrat Eingemachtes reicht mindestens zum Ganznimmerleinstag 2020. Ganz oben in der Ecke steht ein besonderes großes Glas Eingemachtes. Wie es sich bei einem Weck-Glas gehört abgeschlossen von der Außenwelt durch einen Gummiring der Glas und Deckel sowohl von einander trennt als auch zusammenhält.
Wenn Sie sich einige Mühe geben, sehen Sie dass der Inhalt des Glases aus Fleisch besteht. Rindfleisch. Die weiße Masse darüber ist geronnenes Fett das wie ein Schutzschild über das Fleisch liegt. Das richtig besondere ist jedoch das Datum. Ein kleines Schildchen sagt aus, dass dieses Fleisch von einer Kuh stammt die 1940 geschlachtet wurde. Das ist also fast siebzig Jahre her. Siebzig Jahre altes Rindfleisch! Meine Schwiegermutter hat ihr erstes Weck-Produkt als sie in dieses Haus einzog, sorgfältig aufbewahrt. Sie hatte meinen Schwiegervater im Februar 1940 geheiratet.
Ich höre förmlich was Sie denken: kann man das Fleisch jetzt noch essen? Siebzig Jahre ist es luftdicht aufbewahrt. Ein klassisches Dilemma mit zwei Optionen steht vor der Tür und bittet um Eintritt:
1) Wir entfernen den Gummiring – Sie wissen wie: mit einer Nadel in das Gummi stechen, Luft reinlassen - wir öffnen das Glas und wir prüfen ob das Fleisch genießbar ist.
2) Wir lassen alles beim alten. Wir werden jetzt nicht und niemals nicht versuchen das Glas zu öffnen, denn man kann es nur einmal öffnen und nachher nie mehr in den alten Zustand zurückversetzen. Wir werden das Geheimnis hüten und pflegen und werden nie erfahren ob und wie dieses eingemachtes Rindfleisch nach siebzig Jahren schmeckt.
Seien Sie nicht besorgt. Wir wählen die zweite Option. Ohne einen Zweifelaugenblick nehmen wir das Glas in die Hände und setzen es äußerst vorsichtig an seinen Platz auf der obersten Etage in unserem Keller. Für uns ist es keine Frage. Für uns ist es ein rhetorisches, also unechtes Dilemma.
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Donnerstag, 5. November 2009
Bagatelle XXVI - Bilderrätsel
terra40, 16:35h
Es kostet mir wenig Mühe zu gestehen dass Sie auf diesem Bild meine Vorfahren sehen. Meine Ahnen, meine Verwandtschaft. Selbst bin ich nicht anwesend und das braucht Sie nicht zu überraschen, denn als das Bild gemacht wurde, sollte es noch ungefähr vierzig Jahre dauern bis ich geboren wurde. Wenn Sie wüssten wie oft ich mir dieses Bild ansehe, die ernsten Gesichter der Frauen und Männer betrachte und versuche ihre Gedanken zu lesen!
Wir schreiben heute den so-und-sovielsten November im Jahre 2009. An welchem Tage und in welchem Jahr kam der Fotograf angefahren um meine Familie zu porträtieren? Das ist die erste Frage dieses Bilderrätsels. Natürlich erwartet keiner von Ihnen dass Sie das exakte Datum wissen. Aber zu welchem Anlass könnte das Bild gemacht worden sein? Und wie lange ist es her? Denken Sie darüber nach, erörtern Sie bitte die zwei Fragen mit sich selber, dann werde ich Ihnen innerhalb einiger Minuten die Antwort überreichen.
Ausgezeichnet! Sie haben es erraten! Das Bild ist eine teure Erinnerung an einem Geburtstag des alten Herrn der da so ruhig in der ersten Reihe in seinem Sessel sich die Geschehnisse ansieht. Es ist in der Tat August 1901. So lange ist es her und so alt ist die Fotografie. 108 Jahre. Kaum zu glauben, aber wahr. Der alte Herr ist mein Ur-ur-Großvater, geboren 1814. Er feiert heute also seinen 87. Geburtstag womit wir alle ihm nachträglich sehr herzlich gratulieren. Heute sind alle seine Kinder und Enkelkinder anwesend um sich mit dem alten Vater zu freuen. Sein Name ist Heinrich Johann. Er ist der älteste in der Runde. Das Mädchen auf Mutters Schoß rechts vorne ist die jüngste. Aber der Stammvater Heinrich Johann korrigiert mich sofort: es ist kein Mädchen das wir dort sitzen sehen, es ist ein Junge, es ist sein Urenkel. Er wird später mein Vater sein.
Mein Großvater, ebenfalls ein Heinrich Johann, hat seine von der Bauernarbeit verwitterte rechte Hand vorsichtig auf Dinas Schulter gelegt. Dina ist meine Großmutter. Links - von uns aus gesehen - neben Opa steht dessen Vater, mein Urgroßvater Jannes. Jannes hatte fünf Töchter und vier Söhne von denen mein Großvater der älteste ist. Ich gebe Ihnen zu raten ob Sie die neun Kinder nach ihrem Alter ordnen können. Sie sind alle auf dem Bild vertreten. Einige habe ich als kleiner Junge persönlich gut gekannt und sehr gemocht. Einige andere sind früh gestorben.
Beim Betrachten dieses Bildes dringen immer wieder zwei Gedanken in den Vordergrund. An erster Stelle denke ich daran wie unglaublich es ist das fast zwei Jahrhunderte zu sehen sind! Die Fotografie umfasst die Zeit von 1814 bis 2009. Fast von Napoleon bis Barack Obama und Angela Merkel. Wie gerne hätte ich meine Verwandten gezeigt wie das Leben verläuft in unserem 21. Jahrhundert. Und wie gerne hätte ich von meinen Ahnen erfahren wie das Leben im 19. und 20. Jahrhundert gelebt wurde. Das zweite woran ich denke ist mehr oder weniger eine Gefühlssache. So lange ist es her und irgendwo gibt es immer noch ein Gefühl des Zusammengehörens. Es ist meine Verwandtschaft, es ist meine Familie. Vieles ist unbekannt, aber vieles ist vertraut.
Wir schreiben heute den so-und-sovielsten November im Jahre 2009. An welchem Tage und in welchem Jahr kam der Fotograf angefahren um meine Familie zu porträtieren? Das ist die erste Frage dieses Bilderrätsels. Natürlich erwartet keiner von Ihnen dass Sie das exakte Datum wissen. Aber zu welchem Anlass könnte das Bild gemacht worden sein? Und wie lange ist es her? Denken Sie darüber nach, erörtern Sie bitte die zwei Fragen mit sich selber, dann werde ich Ihnen innerhalb einiger Minuten die Antwort überreichen.
Ausgezeichnet! Sie haben es erraten! Das Bild ist eine teure Erinnerung an einem Geburtstag des alten Herrn der da so ruhig in der ersten Reihe in seinem Sessel sich die Geschehnisse ansieht. Es ist in der Tat August 1901. So lange ist es her und so alt ist die Fotografie. 108 Jahre. Kaum zu glauben, aber wahr. Der alte Herr ist mein Ur-ur-Großvater, geboren 1814. Er feiert heute also seinen 87. Geburtstag womit wir alle ihm nachträglich sehr herzlich gratulieren. Heute sind alle seine Kinder und Enkelkinder anwesend um sich mit dem alten Vater zu freuen. Sein Name ist Heinrich Johann. Er ist der älteste in der Runde. Das Mädchen auf Mutters Schoß rechts vorne ist die jüngste. Aber der Stammvater Heinrich Johann korrigiert mich sofort: es ist kein Mädchen das wir dort sitzen sehen, es ist ein Junge, es ist sein Urenkel. Er wird später mein Vater sein.
Mein Großvater, ebenfalls ein Heinrich Johann, hat seine von der Bauernarbeit verwitterte rechte Hand vorsichtig auf Dinas Schulter gelegt. Dina ist meine Großmutter. Links - von uns aus gesehen - neben Opa steht dessen Vater, mein Urgroßvater Jannes. Jannes hatte fünf Töchter und vier Söhne von denen mein Großvater der älteste ist. Ich gebe Ihnen zu raten ob Sie die neun Kinder nach ihrem Alter ordnen können. Sie sind alle auf dem Bild vertreten. Einige habe ich als kleiner Junge persönlich gut gekannt und sehr gemocht. Einige andere sind früh gestorben.
Beim Betrachten dieses Bildes dringen immer wieder zwei Gedanken in den Vordergrund. An erster Stelle denke ich daran wie unglaublich es ist das fast zwei Jahrhunderte zu sehen sind! Die Fotografie umfasst die Zeit von 1814 bis 2009. Fast von Napoleon bis Barack Obama und Angela Merkel. Wie gerne hätte ich meine Verwandten gezeigt wie das Leben verläuft in unserem 21. Jahrhundert. Und wie gerne hätte ich von meinen Ahnen erfahren wie das Leben im 19. und 20. Jahrhundert gelebt wurde. Das zweite woran ich denke ist mehr oder weniger eine Gefühlssache. So lange ist es her und irgendwo gibt es immer noch ein Gefühl des Zusammengehörens. Es ist meine Verwandtschaft, es ist meine Familie. Vieles ist unbekannt, aber vieles ist vertraut.
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