Freitag, 17. September 2010
Bagatelle LXXII - Doppelter Aron
Aronsstäbe: in Süd-Afrika hab ich die oft gesehen. Grünblättrig und weißblumig sind sie. Sie wachsen dort im Süden verwildert an Straßenrändern. Ich kann Ihnen auch zeigen wie die Stäbe bei uns zu Hause leben und gedeihen. Sie stehen hinterm Hof, links die Scheune und rechts die Garage mit Fahrradparkplatz. Der steinerne Pfad führt zum Hühnerstall und anderen Gebäuden. Wir lassen die Aronsstäbe gedeihen. Nur einen Eimer Wasser in Trockenzeiten bekommen sie.



Diese Bagatelle, werden Sie besorgt fragen, handelt doch nicht über so etwas Banales wie ein Aronsstab? Nein, der Aronsstab ist nur der Anlaß. Es kommt so und daher.

Oft steh’ ich vor meinem Bücherschrank und lasse meinen Zeigefinger die Buchrücken streicheln. Manchmal sogar nehme ich ein Buch aus der Reihe, entferne durch blasen den Staub, schlage es auf und fange an zu lesen. Oft frage ich mich wie es denn möglich sein kann, daß ich dieses köstliche Buch so lange alleine, geschlossen, in den Schrank habe stehen lassen.

Gestern war es wieder so weit. Ich nehme ein Buch in A4-Format aus dem Schrank und stelle fest daß ich Stories op Rym, een keur van vroeë Afrikaanse verhalende verse (Geschichten auf Reim, eine Auswahl früherer (Süd)Afrikanischer Verse) in Händen habe. Der Editor Pieter Grobbelaar hat einige klassischen, epischen Gedichte aus der südafrikanischen Literatur gesammelt und wieder zum Vorschein gebracht. Die (schönen) Illustrationen sind van einer gewissen Annette Stork gemacht worden. Ich rieche die Seiten, und genieße von den alten, schönen Geschichten. Die blumenreiche afrikanische Sprache ist nicht nur die Sprache der Apartheid, stelle ich wiederum fest. Bis ein Schrecken über mich fällt.



Er hat sich auf eine steinerne Treppe gesetzt. In seinen Armen ein kleiner Strauß Aronsstäbe. Mit geschlossenen Augen, der Kopf etwas nach hinten gelehnt, läßt er in Ekstase Glücksgefühle über sich herein tröpfeln. Die Annette hat ihn auf Seite 9 neben dem Vorwort des Pieter Grobbelaar postiert. Ich seh’ mir den Jungen an und denke sofort: Bürschen, dich kenne ich! Ich hab’ dich schon mal gesehen! Und ich weiß auch wo.

Ohne nachzudenken begebe ich mich zu einem anderen Bücherschrank in einem Zimmer anderswo im Hause und hole mir vom zweiten Regal von oben Het Beste uit LIFE hervor. Aus 36 Jahrgängen (1936 bis ‘72) dieser berühmten amerikanischen Zeitschrift haben einige Redakteure die 780 schönsten und bekanntesten Fotos selektiert. Ich blättere zehn Sekunden und dort, auf Seite 190, steht er: Aron (so nenne ich ihn) in Ekstase. Um 1948 ist Aron ein Wiener Waisenknabe der vom amerikanischen Roten Kreuz ein Paar neue Schuhe bekommen hat.



Überhaupt kein Zweifel daß es hier um denselben Aron handelt. Die Annette Stork hat den Wiener Aron benutzt als Vorbild für den südafrikanischem Aron mit seinen grünweißen Aronsstäben. Eigentlich eine Form von Plagiat, möchte ich meinen. Die Annette hätte wenigstens die Quelle angeben sollen wo sie ihren Aron entdeckt hat...

Aber so streng wollen wir nicht sein. Und schon gar nicht wenn wir noch einmal das Gesicht des Wiener Arons auf uns einwirken lassen. Diese Freude! Da bekommt man gute Laune. Da wird der heutige Tag ein schöner Tag. Da bin ich sicher.


Quellenangabe:

- Pieter W. Grobbelaar (Ed.) Stories op Rym. Keur van vroeë Afrikaanse verhalende verse. Pretoria: LAPA Uitgewers, 2000.
- David E. Scherman (Ed.). Het Beste uit LIFE. Time-Life International (Nederland), 1974.

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