Sonntag, 10. Juni 2012
Bagatelle 163 - Cello
Vieles sagen sie aus, die alten Schulzeugnisse die ich mir aufgehoben habe. Vieles, aber einiges sehr interessantes nicht. Das erzähl ich Ihnen hier. Die Geschichte spielt in meiner glücklichen Jugend. In der Zeit wo ich, sieben/acht Jahre alt, mit vollen Zügen die Kenntnisse aufsog die mir die Schule damals zu vermitteln versuchte.




Das Schulzeugnis der zweiten Klasse meiner Grundschule, das Sie hier sehen, bietet in der Tat vieles zum lesen und vieles um sich darüber im Nachhinein zu wundern. Dreimal im Jahr - im August, beim Anfang der Sommerferien; im Dezember, zu Weihnachten; und März/April, zu Ostern - bekamen wir von unseren Klassenlehrern und -Lehrerinnen ein Zeugnis mit nach Hause um den Eltern klar zu machen wie gut oder wie schlecht es um unseren Schulleistungen stehe. Links die Sachgebiete: Religionsunterricht, Lesen, Schreiben, Mathematik, Muttersprache (Niederländisch), Vaterlandsgeschichte, Geographie, Naturwissen, Musik (vor allem Singen), Zeichnen, Nützliche Handarbeiten (für die Mädchen) und Auswendig Lernen. Unter dem Strich die drei für meine Eltern wichtigsten Zeugnisdaten: das Benehmen (dem Lehrer gegenüber), der Fleiß, und schließlich die Sauberkeit. Für einige Fächer gab es nur in den höheren Klassen eine Benotung.
Übrigens lief/läuft diese Benotung bei uns von eins (1) = völlig ungenügend, über die fünf (5) = so zwischen ungenügend und genügend, zweifelhaft also, bis zu zehn (10) ausgezeichnet!
Ganz rechts von oben nach unten gab der Klassenlehrer am Ende der zweiten Klasse den Eltern das Fazit bekannt: Gaat over! und das heißt einfach aber schwerwiegend: der Schüler wird in die nächste Klasse versetzt!
Links unten sehen Sie die zierliche und dennoch kräftige Unterschriften meines Vaters, Terra Senior, der hiermit der Schule bekannt gab, daß er nicht weniger als drei Mal das Zeugnis gesehen und begutachtet hat (und sich vielleicht auf passende Maßnahmen besann, was bei meinem Vater niemals der Fall war. Warum auch.)
Rechts unter die Unterschrift des Klassenlehrers. In diesem Fall der Klassenlehrer. Es sind nämlich zwei.

Der erste Lehrer in der zweiten Klasse hieß Herr Bannink. Von ihm weiß ich nicht viel, aber einiges werde ich niemals vergessen. Wenn Sie mich abends bitte Ihnen am Sternenhimmel den Großen Bären zu zeigen, so kann ich das. Auch der Kleine Bär ist kein Problem. Das hat uns der Herr Lehrer Bannink beigebracht.
Im Laufe der zweiten Klasse kam plötzlich ein neuer Lehrer. Warum der Lehrer Bannink verschwunden ist, weiß ich bis heute nicht, aber eines Tages stand der Herr Lehrer Stockhuyzen vor uns. Mit vornamen J. F., vielleicht Johannes Franciscus, oder Jacob Fritz, wer weiß. Die Lehrer wurden damals nicht, wie heute wohl, bei ihren Vornamen angesprochen. Der Gedanke daran schon war äußerst gefährlich. Der Herr Lehrer J.F. Stockhuyzen (bitte nicht zu verwechseln mit Herr K. Stockhausen) übernahm also die Klasse. Und die achtunddreißig Zweitklässler staunten nicht wenig.

Sie staunten noch mehr als der Lehrer Stockhuyzen eines Tages mit einer ziemlich großen Geige vor die Klasse trat. Er sagte: es sei ein Cello. Dann schraubte er ein dünnes metallenes Stehbein in das Instrument, setzte sich auf einen Stuhl, nahm die Cello zwischen die Knie sodaß die nicht weglaufen konnte, nahm weiterhin einen Streichstock aus einem Koffer, legte die linke Hand auf die Saiten neben seinem Ohr und fing an mit dem Streichstock in der rechten Hand die Saiten zu berühren. Der Lehrer Stockhuyzen spielte. Er spielte Cello.

Ein vollkommen neues Gefühl kam über uns. Niemals hatten wir so etwas gehört, gewöhnt als wir waren an das was ein Posaunenchor oder etwas ähnliches unseren Ohren zu hören gab. Aber jetzt diese Töne! Manchmal ein wunderbares, hohes Singen; manchmal ein dunkles, dumpfes Brummen. Was auch der Herr Stockhuyzen gespielt haben mag, es war unbeschreiblich imponierend. Wir, die Kinder aus der zweiten Klasse, wußten schon, daß einige Lehrer aus höheren Klassen auf einer Geige herumfiedelten, aber wir hatten einen Lehrer der Cello spielte! Das war von keiner anderen Klasse zu überbieten.



Zu Ostern wurden wir alle versetzt. Nein nicht alle, ein paar Mitschüler mußten die Klasse wiederholen, sagten die Lehrer. Das konnte man auch den Zeugnissen entnehmen. Statt "Gaat over!" stand rechts geschrieben: "Bleibt sitzen!".
Wir dagegen gingen frisch und fröhlich in die nächste Klasse. Schade nur, daß unser Cellist Stockhuyzen in seiner zweiten Klasse blieb. Ich vermißte ihn sehr. Wegen seines Cellospiels.

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