Freitag, 18. September 2015
Bagatelle 271 - Geschichte in Kreide


Oberhalb der Haustür sagt uns ein anscheinend alter Giebelstein, dass Sie, wenn Sie dieses Haus betreten wollen, bedenken müssen, dass es schon im Jahre 1673 gebaut worden ist und 1766 seine heutigen Ausmaße bekommen hat. (Entschuldigung für diesen schwierigen Anfangssatz, aber wahr ist er wohl.) Tatsächlich ist es das älteste Haus in meinem Geburtsdorf. Bis zu meinem 20. Lebensjahr habe ich hundert Meter hinter diesem Haus gewohnt. Die zwei unverheiratete Damen, die Geschwister Dora und Stina te Beest, die hier damals ihr Zuhause hatten, waren also unsere engsten Nachbarn. Das Haus war alt, groß und schön, mit tausenden spannenden Ecken. Es hatte eine große Diele, ein wunderschönes Vorzimmer, Schlafzimmer unten und oben, eine Küche samt Waschküche und, was wir Kinder damals sehr vornehm fanden, ein spezielles Blumenzimmer mit allerhand Kakteen und dergleichen geheimnisvollen Blumen und Pflanzen. Draußen waren zwei Gärten: ein riesiger Blumengarten mit Felspartien und ein Gemüsegarten mit Spargelbeeten. Und natürlich fehlte der Hühnerstall nicht. Unten war ein tiefer Keller, wo mein Vater in den letzten Kriegstagen März 1945 zusammen mit anderen Nachbarn Schutz fand. (Ehefrau und Kinder waren schon außerhalb des Dorfes in einen Bauernhof gezogen.) Es war auch der Ort wo im Krieg einige Eingeweihte, worunter mein Vater, abends heimlich die Londoner Nachrichten von Radio Oranje hörten.



Anno 2015 steht das Haus leer. Wenn Sie mögen, können Sie es kaufen. Bitte zwei große Geldstapel mitbringen: einer zum Kauf und einer zur Restauration. Die zwei Damen die hier in meiner Jugendzeit wohnten, sind längst verstorben wie auch die darauffolgende Bewohner.
Es mögen vierzig Jahre vergangen sein wo ich das Haus zum letzten Mal von innen gesehen habe. Der Grund ist einfach: seit meinem zwanzigsten wohne ich nicht mehr ich seiner Nachbarschaft. Wir sind umgezogen. Aber neulich, an einem Sonntag wo bei uns Monumententag war wo alle interessante Gebäude geöffnet waren und wo in dem Haus obendrein noch eine Kunstausstellung stattfand, hatte ich die Gelegenheit alte Stätten wieder zu besuchen. So auch dieses Haus.

Vieles war anders, aber vieles war noch immer dasselbe. Nur waren die Zimmer leer und kalt. Das alte Blumenzimmer war für diese Gelegenheit in ein Stück Museum umgewandelt. Der tiefe Keller war feucht wie eh und je und durch die Fenster der Waschküche hatte man noch immer Aussicht auf den jetzt öden Gemüsegarten.
Was auch noch da war, war die Zeichnung. Auf der Diele. Eine Zeichnung in Kreide, gezeichnet auf der Tür die zum Blumenzimmer führt.



Als kleiner Junge hab ich diese Kreidezeichnung - Künstler/Verfasser unbekannt, immerhin mehr als hundert Jahre alt - zahllose Male gesehen. Sie war sowohl geheimnisvoll schön als auch beängstigend. Zwei Personen, Soldaten so zu sehen, oben ein Datum: 2 September 1914 und darunter Wörter in Schriftzeichen die ich weder lesen noch begreifen konnte. Nachher hörte man dass es rechts ein preußischer Offizier war der zu einem französischen Waffenbruder sagt: ꞌWeißt Du noch von 70?ꞌ Geschrieben in der üblichen Sütterlinschrift die wir nicht verstanden. Heute, so sah ich, hat jemand die Schrift modernisiert, so dass jeder es lesen kann. Aber originell ist es natürlich nicht.
Neu ist auch die Plastik Hülle mit der ein freundliches Mitglied des hiesigen Heimatvereins und Liebhaber alter Zeichnungen das Kreidedenkmal zu schützen versucht.

Damals, als ich als kleiner Nachbarsjunge die Diele betrat, habe ich oft gesehen wie die beiden Damen te Beest an Samstagen das Haus säuberten und dann auch die Diele fegten. Als letzte war die Kreidezeichnung an der Reihe. Äußerst vorsichtig wurde einiger Staub entfernt und wo nötig wurde sorgfältig mit Kreide eine zu verschwinden drohende Linie nachgezogen und ausgebessert.

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