Donnerstag, 4. April 2019
Bagatelle 331 - Zungenflöte
Der Hochschuldirektor, dessen hochschulischen Ausbildungsstätte ich vor nun schon sehr vielen Jahren besuchte, hieß mit Nachnamen Roosjen. Auf Deutsch: Röslein. (Doch, das auf der Heide.) Seinen Vornamen wusste man nicht, nur dass der mit F. anfing. Wahrscheinlich Frits, Frederik oder Franz-Ferdinand, wer weiß. Den Herrn Roosjen mochten wir alle sehr, besonders weil er während seines Französischunterricht oft anfing musikalische Geschichten zu erzählen. Wegen ihn kenne ich jetzt noch einige Chansons auswendig.
Direktor Roosjen war auch derjenige der an einem Dienstag Anfang Mai jedes Jahres uns mitteilte, dass der Unterricht ab zehn Uhr ausfiele, weil Maimarkt war. Wir alle freuten uns sehr und zogen dahin.

Etwas seitlich, also nicht in der Menge Kauflustigen, befand sich der stillere, angenehmere Teil des Maimarktes. Dort hatte ein Kaufmann – Künstlertyp mit Künstlerhut – seine Ware – noch eingepackt und versiegelt – ausgestellt. Inmitten stand ein alles Koffergrammophon. Als drei Zuschauer verwundert stehen blieben, nahm der Kaufmann vorsichtig eine 78-er Schellackplatte, legte die auf das Grammophon, drehte an dem Schlinger, leitete die Nadel in die erste Grube: und da klang wunderschöne Musik. Etwas wienerisches so zu hören: Wiener Blut oder ähnliches. Plötzlich nahm der Grammophonmann aus einer Kiste eine einfache Pan-Flöte – ein drei-eckiges Instrument aus Bambus – und spielte begleitet von seinem Grammophon alle Noten die er auf seiner Flöte finden konnte. Herrlich und sehr musikalisch. Dann wechselte er seine Pan-Flöte für einen metallenen Irischen whistle und spielte fröhlich weiter. Schließlich nahm er eine Zungenflöte, Sie wissen: ein einfaches Stückchen Plastik, legte die auf seine Zunge und plötzlich klang dort die herrlichste Vogelmusik die man sich nur denken kann. Passend zu dem Schwalben im Wienerwald.

Allmählich waren mindestens zwanzig Leute gekommen zuzuhören. Weil der Kaufmann nicht für umsonst gekommen war, begann er jetzt Musikinstrumente zu verkaufen. Kleine Flöten und anderes mehr. Auch Zungenflöten. Für fünfzig Cents das Stück und drei Stücks für einen Gulden. Kein Geld.

Doch, es gibt sie noch. Vor einigen Jahren sah ich auf einer sommerlichen Braderie (= Markt mit viel Bratwurst) einen Kaufmann der nebst Spielsachen auch Zungenflöten verkaufte. Jetzt für einen Euro das Stück; drei Stück kosteten zwei Euro. Wie üblich.
Ich kaufte zwei und kann jetzt Ihnen, wenn Sie mal vorbeikommen, wieder die schönste Vogeltöne hören lassen. Schwalbengezwitscher oder einen Finkenschlag. Wie es Euch gefällt.



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Samstag, 3. März 2018
Bagatelle 312 - Falsche Töne - Teil II
Wie versprochen folgt jetzt der zweite Teil der Vocalise-Geschichte. Den ersten Teil konnten Sie vorige Woche lesen.


Wenn geredet wird – sei es in der örtlichen Presse, sei es unter Fachleuten - über Vocalise, dieses imposante, weltberühmte Männergesangsquartett, so dringt sich jetzt die Frage auf: wàs wird gesungen und vor allem wíe wird gesungen?

Nun, Vocalise hat ein weites und breites Repertoire. Man singt sowohl Madrigale aus der Bayerischen Renaissance als auch Chorwerke von Robert und Clara Schumann. (Und wenn es überhaupt nicht anders geht und Sie darauf beharren sogar Liebesliedchen von einem gewissen Johannes Brahms.)
Auch das moderne Quartettrepertoire wird nicht gescheut. So sang man neulich in Tübingen sowie in Launen an der Ruhre eine Komposition des ungarischen Minimalisten Sandor Höchstselten. Wobei aufgemerkt werden soll, dass der Bariton Evergrijs in nur 15 von den 385 Takten einen Laut von sich geben konnte. Eine Klage deswegen beim Komponisten wurde abgelehnt, weil alle Klagen laut Protokoll schriftlich und in Vielfalt angemeldet werden müssen.

Um Ihnen einen Eindruck zu vermitteln wie das Quartett singt, fehlt mir jede Superlative. Wundervoll, faszinierend, entzückend, meisterhaft: alles ist wahr und trotzdem ist es nicht genug. Schon wenn das Quartett beim Anfang des Konzertes das Podium betritt, der Herr Freiholz, der Begleiter also, seinen Klaviersessel auf die passende Höhe geschraubt hat, und die Partiturseitenumschlägerin Frau Antje ihren Platz eingenommen hat, steigt aus dem Saal ein gewisses Fluidum empor. Und wann der erste Tenor Kowalski seine herrliche Stimme erhebt, geht ein solches Zittern durch die Reihen das einem gleichsam das Atmen vergeht und dessen Intensität (das Zittern meine ich) während des Konzertes nur noch wächst. Ich sollte lieber nicht versuchen diese Erfahrungen in Worten auszudrücken, denn es ist unbeschreiblich.

Zur Illustration ein Beispiel. Unlängst trat das Quartett – anlässlich der 400 Jahre Erinnerung an die Drohung das Belfort könnte einstürzen - in Leuven (B) auf. Der Saal war proppenvoll. Viele Besucher gerieten während des Konzertes so von ihren Gefühlen und Emotionen überwältigt, dass sie von liebevollen Rote Kreuz Helfern behandelt werden mussten. Es wurde auch erzählt, dass eine Generalswitwe aus der dritten Reihe so in Ekstase geriet, dass sie von einem spontanen Orgasmus befallen wurde. (Letzteres habe ich nur von Hörensagen.) Wenn ich wollte könnte ich zahllose andere Beispiele nennen.

Um mich über den wirklichen Zustand des Quartetts zu erkundigen, hatte ich beim Impresario von Vocalise, der Wiener Taschenfüller Berthold Schikaneder, um ein Interview gebeten. Darauf wurde ich in die Vocalise-Residenz in Luzern eingeladen. Ich werde Ihnen genauestens den Ablauf der Ereignisse schildern.

Sofort beim Eintreten in die geräumige Villa spürte ich eine bedrückte Stimmung. Der Begleiter Freiholz, der sich auch jetzt wieder zu Unrecht als Sprechrohr des Quartetts aufwarf, sagte dass etwas mit der physischen Verfassung des ersten Tenors nicht in Ordnung sei. Weil ich mich in derartigen Sachen auskenne, sagte er, bat er mich mich um die Sache zu kümmern.
Man begleitete mir in ein separates Zimmer wo der Tenor Kowalski sich aufhielt. Der war sichtlich ermuntert als er mich sah. "Boris“," sprach ich, "Würden Sie bitte schön so freundlich sein und ihren Mund öffnen?" Der Kowalski öffnete dann sein berühmtes Sprachorgan von woraus sonst die herrlichsten Klänge hervortraten. Ich legte mein elfenbeinernes Stäbchen - das ich immer bei mir trage – auf seine Zunge und sagte: "Boris, sagen Sie jetzt bitte ein A auf Russisch.". Ich brauchte seine Reaktion nicht einmal abzuwarten, denn schon wusste ich die Ursache. Meine Diagnose kannte keinen Zweifel: der Boris Kowalski hatte endlich nach 43 Jahren seinen Stimmwechsel. Oder wie wir sagen: er hatte jetzt einen Bart in seiner Kehle.

Post Scriptum:

Der Herr Franz Keine-Ahnung, ehemaliger Musikrezenzent bei den Launischen Ruhrnachrichten, hat mich, aufmerksam wie er ist, gebeten zu melden, dass in der Partitur der Toffe Jungens Laudatio (Siehe Teil I) zu Unrecht die Bezeichnung ff (Fortissimo) fehlt.

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Samstag, 7. Januar 2017
290 - Auswendig
Vielleicht haben Sie, wie ich, sich das Silvesterkonzert der Berliner Philharmoniker oder die Neujahrsmusik der Wiener Philharmoniker angehört. Beide Orchester wurden wie immer von Topdirigenten durch die Musik begleitet: in Berlin war es Sir Simon Rattle und in Wien Gustavo Dudamel der speziell aus Kolumbien eingeflogen worden war. Beide Dirigenten dirigierten auswendig.

Zufälligerweise las ich in dieser Übergangszeit zwischen den Jahren das Buch: "Over dirigeren" (Utrecht: Bohn, Scheltema & Holkema, 1983) von Kirill Kondrashin (1914-1981), selbst seit Lebens ein weltweit sehr geachteter Dirigent.
In diesem Buch, das jeder angehender Dirigent auf seinem Nachttisch liegen haben muss, bespricht Kondrashin in einem kleinen Kapitel das Phänomen des auswendig Dirigierens.

Viele Dirigenten lieben das auswendig dirigieren. Zuerst, so behaupten sie, fördert es den Kontakt mit den Musikern sehr, weil man der Partitur keine Aufmerksamkeit widmen braucht. Und, sagen sie, wenn die mitwirkenden Solisten (zB: Trifonov der ohne Partitur Rachmaninoff spielt) meistens eine Partitur auswendig können und ohne die auskommen, warum denn Dirigenten nicht?

Kondrashin ist der Meinung dass eine Partitur immer aufs Dirigentenpult gehört. Und zwar aus psychologischen Gründen. Schon die Anwesenheit einer Partitur gäbe dem Dirigenten als auch dem Orchester mehr kreative Freiheit. Selbstverständlich soll der Dirigent das zu spielende Repertoire faktisch auswendig können. Die Partitur also: nicht die mit den Augen zwingende, auf Note und Maß genauestens zu folgende Anweisung, sondern der ständige, treue Begleiter der anwesend ist wenn sich Probleme (Gedächtnisstörungen usw.) auftun.

Kondrashin sagt es nicht, aber deutet es an. Das auswendig Dirigieren einer schwierigen und komplizierten Komposition wird oft als Zeichen von Können gesehen. Seht nur, der dirigiert die Achte von Bruckner – Dauer anderthalb Stunden - auswendig!
Zu Unrecht, denn es gibt auch Dirigenten die einen Strauß-Walzer, den das Orchester unter ihrer Führung tausend Mal gespielt hat, niemals spielen lassen ohne dass die Partitur (oft nur geschlossen) dabei ist.

Nachrede 1: Dirigenten haben, was die Partitur angeht, zwei Sorten von Gedächtnis: das visuelle (sie sehen quasi die Partitur vor ihren Augen) und das phonologische (sie hören innerlich die Noten wenn sie ohne Orchester die Partitur studieren).
Solisten (der Klaviervirtuose oder die famose Hoboistin) haben noch ein drittes Gedächtnis: das taktile. Ihre Finger kennen und erinnern sich (in Berührung mit Klaviertasten oder Hoboen Klappen) die musikalischen Abläufe.

Nachrede 2: Frage: Welche Philharmoniker sind besser: die Berliner oder die Wiener? Antwort: das Concertgebouworchester.


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Sonntag, 27. November 2016
Bagatelle 288 - FAQ-2
Frage: Kennen Sie die monatlich erscheinende niederländische Musikzeitschrift “Hoor & Wederhoor” (Auf- & Zuhören)?
Antwort: Selbstverständlich kenne ich die. Sie ist die Neubelebung des früheren Musikblätchens “Bank- und andere Noten”. Herausgegeben vom Verlag “Notgedrungen GmbH”, sesshaft in Raunen an der Luhre. Nahezu alle Aspekte der seriösen Pop- und Klassikmusikszene kommen hier zur Geltung. Mit allen musikalischen Erscheinungen setzt man sich auf passender Weise auseinander. Bach und Beatles, nichts wird hier weder verheimlicht noch geschont.

Das Erste was ich mache, wenn ich mir das Blatt aus dem Briefkasten hole, ist das Aufschlagen von Seite 56. Auf dieser und folgenden zwei Seiten - unter der Rubrik “Häufig Gestellte Fragen”- bekommt der geachtete Leser und die liebe Leserin Antworten auf schwierige, musikalische Fragen, welche einem die Nachtruhe rauben können. Erstaunlich wie es der diensthabende Redakteur Franz Mundharfe immer wieder schaft passende Antworten auf unmögliche Fragen zu finden. Es folgen jetzt einige saillante Beispiele.


Frage: Ich suche seit langem das Strickmuster der Mütze welche der berühmte Pianist Friedrich Gulda bei seinen Auftritten trug. (Sie wissen: der einzige Pianist der seit Lebens öffentlich bekannte gestorben zu sein, das aber später vehement verneinte.) (Frau Wilhelmine Roßbach, Unterammergau)
Antwort: Ich weiß was Sie meinen. Die Farbe war laut Loriot ein grünliches Blau oder vielmehr ein bläuliches Grün. Sie mögen das Muster downloaden (oder herunterladen wenn Sie denn unbedingt wollen) auf www.strickmustergulda.de. Bitte, beeilen Sie sich denn die Nachfrage ist groß.

Frage: Wij, die wir wohnachtig sein in Hamburg Harburg, hören vaak dass Niederländer reden von ‘ein Flötchen von ein Cent’. Wissen Sie missjien wo dieser Ausdruck vondannen kommt? (Frau Katharine Zehlendorff, Hanzestadt Hamburg)
Antwort: Sehr gut, liebe Frau Zehlendorf, dass Sie Ihre Frage auf Niederländisch von sich geben. Das zeigt wieder den internationalen Charakter unserer Zeitschrift. Früher benutzen die Schiedsrichter beim edlen Fußballspiel in Holland eine billige Trillerpfeife aus Metall mit einer Erbse darin. (Manchmal genügte eine Bohne.) Eine solche Pfeife kostete (1938) bei der Edeka in Amsterdam einen Cent. Sehr billig also. Darum reden die da noch immer über ‘een fluitje van een cent’ was schlicht bedeutet: eine Kleinigkeit.

Frage: Ein Bekannter von mir erzählte neulich, er habe in Wien ein verkleinertes Midwinterhorn aus feinstem Leder gesehen, welches von Beethoven als Gehörinstrument benutzt worden wäre. Ich habe selber immer geglaubt, dass Beethoven überhaupt kein Gehörrohr benutzte, sondern sich half mit einer böhmischen Gehörsalbe. Gerne Ihre Meinung dazu. (Herr Klaus-Anton Markwarz, Essen)
Antwort: Ihr Bekannter hat Recht. Nicht ganz und gar, aber immerhin. In seinem späteren Leben bediente sich Beethoven eines Hörhilfsgerätes (Siehe Abbildung). Sonst stellte er sich meistens schwerhörig oder scheintaub. Und dann hilft wie Sie wissen keine Gehörsalbe, auch nicht die böhmische.

Frage: Wissen Sie zufällig was aus dem damals berühmten dänischen Lazerop Trio (Wohnsitz: Esbjerg) geworden ist? In Deutschland besser bekannt unter dem Namen 'Hau-Ab Trio'. Dieses Dreigespann machte in den siebziger Jahren Furore mit ihren authentisch gesungenen dänischen Madrigalen.
Antwort: Das Trio gibt es immer noch! Allerdings hat es sich heutzutage spezialisiert in finnischen Schlagern in dreiviertel Takt. Ein rezentes Lichtbild bildet der Beweis ihrer Lebendigkeit.

Frage: Warum eigentlich steht in dem Titel dieser Bagatelle eine 2 hinter dem FAQ?
Einiges in Ihrem Schreiben kommt mir bekannt vor. Kann es sein dass ich Ihren Beitrag, sei es in geänderter Form, irgendwo schon früher mal gelesen habe? (Dr. h.c. Terracidus, Niederlande).
Antwort: Dazu gebt der Verfasser leider keine Auskünfte. Aber, ein Kompliment für Ihr glänzendes Gedächtnis!





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Freitag, 15. August 2014
Bagatelle 236 - Schulkonzert in F für Blockflöte
In den Jahren wo ich die Pädagogische Hochschule besuchte – lang, lang ist’s her – konnte man an bestimmten Mittwochnachmittagen einige Studenten den großen Turnsaal in eine richtige Konzerthalle umbauen sehen. Rollen Fußbodenbedeckung (Matten aus Kokos) wurden aus dem Keller hervorgezaubert. Andere Studenten sorgten dafür dass genügend Stühle in schicken Reihen darauf einen Platz bekamen. Und noch andere rollten das große Klavier aus dem Musikraum aufs Podium wo es hinter verschlossenen Vorhängen auf seinen Bespieler wartete bis dann um zwei das Schulkonzert anfing.

Während eines solches Konzertes war es todesstille im Saal. Auf husten, mit Stühlen schieben, Unterhaltungen mit dem Nachbarn standen schwere Strafen: vergleichbar mit zwanzig Tagen auf Wasser und Brot. Das Beiwohnen eines Konzertes war Pflicht und weil die wenigsten Studenten die klassische Musik liebten war die Konzertstunde für viele eine Tortur. So nicht für mich.

An diesem Mittwochnachmittag erschienen eine etwas ältere Dame welche die Tasten eines selbst mitgebrachtes Cembalo berührte, ein Herr samt Cello, und ein noch sehr junger Musikant der Blockflöte spielte. Aber wie! Ich war so beeindruckt dass ich Ihnen bis heute die Namen der Musiker fehlerfrei aufsagen kann. Die Dame war Frau Janny van Wering, der Herr hieß Carel van Leeuwen Boomkamp (Solo-Cellist im Amsterdamer Concertgebouworchester). Der Blockflötenvirtuose hieß Frans Brüggen. Damals mit 25 Jahren schon einer der weltbesten Blockflötenspieler überhaupt.

Der damalige Hochschuldirektor hatte die gute Angewohnheit nach einem Konzert die Musiker für eine Tasse Tee und eine angenehme Nachrede in sein Zimmer einzuladen. Dazu gesellten sich meistens auch noch die Musikdozenten und ein Student, nämlich ein Mitglied der dreimonatlich erscheinende Schulzeitung. Weil ich die klassische Musik liebte únd Mitglied der Redaktion war habe ich einigen dieser Teerunden beigewohnt. So auch diese.

Links von mir saß der Hochschuldirektor und rechts der Herr van Leeuwen Boomkamp. Gegenüber saß Frans Brüggen der mich etwas argwöhnend aber nicht unfreundlich ansah. Worüber das Gespräch handelte weiß ich nicht mehr, weil ich mich sehr darum bekümmerte fehlerfrei Tee zu trinken und den Kuchen zu genießen. Wohl weiß ich dass Frans Brüggen sich sehr darüber verwunderte wie ruhig und höflich sich das geehrte junge Publikum verhielt. Als die Gäste sich anschickten zurück in den fernen Landeswesten zu fahren und alle das Gespräch für beendet sahen, sagte der Schuldirektor zu mir: “Nun mach mal einen schönen Beitrag daraus für eure Zeitschrift.“



An diese Gesprächsrunde und an dieses Konzert musste ich denken als ich vorgestern hörte dass der Herr Brüggen verstorben sei. Fast achtzig Jahre alt wurde er. In der Zeit nách dem Konzert habe ich ihn niemals weder gesehen noch mich mit ihm unterhalten. Aber seine LPs habe ich noch. Auch einige CDs worauf das Orchester des Achtzehnten Jahrhunderts, dessen Gründer und Dirigent er war, Musik alter Meister spielt auf eine Art und Weise wie, laut Brüggen, es die Komponisten meinten. Authentisch, versteht sich.
Am Ende seines Lebens dirigierte Frans Brüggen – ein alter, gebrechlicher Mann, auf einem Stuhl sitzend, mit kleinen abgemessenen Gebärden – sein Orchester das Beethovens Eroica vertonte wie Beethoven es sich vielleicht (denn man weiß nie) gewünscht hätte.


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Montag, 3. März 2014
Bagatelle 218 - Flöten
Als vierzehnjähriger wurde ich – unter sanftem Zwang meines Vaters – Mitglied des örtlichen Fanfarenorchesters. In dieser frohen Posaunengesellschaft lernte ich wie sich die Bügel (eine Art Trompete) und der Tenorsaxophon bespielen lassen. Obendrein machte man mir bekannt mit den seltsamen Erscheinungen und Tücken der Notenschrift.
Als sechzehnjähriger bekam ich zum ersten Male eine Blockflöte in die Hand gedrückt. Das war beim Eintritt in die Pädagogische Akademie wie sich die Lehrerausbildung zu nennen pflegte. Dabei muss man wissen, dass in unserem Bildungssystem erwartet wird, dass die Grundschullehrer in allen Jahrgängen alle Fächer unterrichten. Die schöne, erheiternde Musik also auch. Von jedem/jeder (Grundschul)Lehrer(in) wurde damals erwartet, dass er oder sie den Schülern in der Klasse ein fröhliches Lied auf der Blockflöte vorspielen konnte, damit diese (die Kinder) das Lied so gut es nur ging mitsingen konnten.



Die Forderung Blockflöte spielen zu können führte in unserer Klasse zu einem richtigen Schisma. Da waren auf der einen Seite die einige wenige für die das Blockflötenspiel alsbald keine Geheimnisse mehr hatte. Zu dieser Gruppe gehörte ich selber auch. Zweifellos spielte dabei die im Fanfarenchor erworbene musikalische Kenntnis eine wichtige Rolle. An der anderen Seite traf man die anderen: Studenten welche die wöchentliche Samstagsmorgenblockflötenstunde als eine wahre Tortur empfanden. Auch nach viel Versuchen gelang es ihnen nicht ihre Finger genau und an richtiger Zeit auf die Löcher in der Blockflöte zu platzieren und gleichzeitig vorsichtig einen Luftstrom durch das Instrument fließen zu lassen. Und das alles bei sonstigen großen pädagogischen Qualitäten!

Nein, für mich war das Blockflötenspiel ein Genuss. Es ist schon mal vorgekommen dass wir, mein Freund Willy A. und ich, den Samstagmorgenunterricht schwänzten, und anstatt die Schulbank die freie Landschaft draußen drückten und dort zusammen auf unseren Blockflöten die Etüde „Die Zwei Finken“ spielten. Und bei der Abschlussprüfung spielte ich die Kleine Sonatine in G von Frantiszek Faulhaber (Allegro, Andante und Allegro-ma-non-troppo), dabei am Klavier begleitet von meinem Musiklehrer, fast fehlerfrei. Ausgezeichnet, sagten die Prüfer.



In der beruflichen Praxis danach, in und nach dem Lehramt, habe ich die Blockflöte nicht oder nur noch sehr selten berührt. Dennoch hat sie einen besonderen Platz in meiner geistigen und physischen Umgebung behalten. Auf einem Brett kann ich Ihnen meine Blockflötensammlung zeigen. Mit meinen alten Sopran- und Sopraninoblockflöten nebst einigen Exoten aus meinen Auslandsreisen. So wie die irische Metallflöte. Wenn es geht, kaufe ich mir statt einen keramischen Dom von Pisa eine typisch italienische Blocklöte als Souvenir.

In meiner Sammlung ist die kleine Einhandflöte auch dabei. Die hält man, gleichzeitig blasend, in der linken Hand, während die Rechte eine kleine Trommel schlägt. Gerne hätte ich Ihnen auch die sibirische Erlenflöte gezeigt. Die ist aber längst flöten.

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Montag, 20. Januar 2014
Bagatelle 213 - Winterreise
Gestern, an einem frühlingshaften Sonntagnachmittag im Januar, besuchte ich mal wieder ein Konzert. Diesmal alleine, zog ich in die Nachbarstadt, wo in der alten Stadtkirche Schuberts Winterreise vertont wurde. Das ist, für alle die es vergessen oder verdrängt haben, ein Liederzyklus, aus 24 Liedern bestehend, nicht sehr gelungen gedichtet von einem gewissen Wilhelm Müller, aber vor allem bekannt geworden durch die herrliche Musik welche Franz Schubert zu dieser Liedersammlung komponiert hat. Das Thema lässt sich in einigen Worten beschreiben: winterliche Gefühle von Schmerz, Pein und Verlassen-sein wenn eine Liebe unbeantwortet bleibt. Gesagt muss werden, dass der Müllersche Text heutzutage ziemlich sentimental und schwer übertrieben anmutet; Schuberts Vertonung dagegen lässt den Text fast vergessen. Die Winterreise wird meistens von einer männlichen Stimme (Bass, Bariton) gesungen und der Pianist wird freundlichst gebeten dem Sänger bei dessen Reise so gut wie es nur geht tröstend zu unterstützen.




Konzertbeginn war um drei. Darum betrat ich schon um ein Viertel vor die Kirche wo ich erstaunt feststellte, dass die meisten Plätze schon besetzt waren. Mir blieb lediglich ein Platz unter der Galerie links. Und als pünktlich um drei die Frau Vorsitzende die Anwesenden begrüßte und die Musiker willkommen hieß, war die Kirche gepfropft voll.



Die Organisation hatte die gute Idee allen Besuchern vorab ein Blatt Papier mit den Liedtexten zu überreichen. Und obendrein bekamen wir alle einen Prospekt mit Informationen über die auftretenden Musiker: ein Bariton und ein begleitender Pianist. Alles ganz und gar umsonst, so dass die Stimmung beim Anfang des Konzertes - im Widerspruch zu was später gesungen werden sollte – fast frühlingshaft fröhlich war.

Das Konzert selbst verlief ohne Zwischenfälle. Stärker: die Musiker taten ihr bestes und die lieben Zuhörer genossen sehr. An manchen Stellen war es so stille in der Kirche, dass ich die Nadel welche meiner Nachbarin aus ihrer Handtasche fiel, tatsächlich fallen hörte. Dennoch, wie fast immer bei so einer musikalischen Begegnung, etwas besonders geschieht immer. So trat auf einmal mitten in einem Lied der Küster auf leisen Sohlen in die Kirche um eine unwillige Kerze das weiterbrennen unmöglich zu machen. Oder die Geschichte mit der einen Dame, zwei Reihen vor mir, die von einem plötzlichen Hustenreiz geplagt wurde. Wobei wir alle, die wir in ihrer Nähe saßen, dachten: gut, dass es mir nicht passiert!

Und wie war das Konzert? könnten einige unter ihnen mich fragen. War es eine künstlerische Freude die beiden anzuhören? Nun werde ich mich hüten über künstlerische Darbietungen, von denen ich nur wenig Ahnung habe, ein Urteil abzugeben. Wenn, dann fiel mir auf, dass der Pianist sich meiner Meinung nach zu viel als die Hauptperson sah. Es war, als dachte er: ich spiele Schuberts Winterreise und mein Sängerkollege erzählt singend worum es sich handelt. Und das, wo der Pianist sich eher auf seine dienende Rolle besinnen sollte. Aber wer bin ich denn dass ich Ihnen diese Auffassung mitteile.

Im Ernst: das Konzert war sehr gelungen. Und die Anwesenden ließen das den Musikanten durch ihren Beifall sehr gut wissen. Wer nicht genug hatte, konnte nach dem Konzert am Rande entweder eine Cd der beiden Musiker kaufen, oder sich ein Autogramm verschaffen.
Und ich? Ich verschwand still und leise. Und begab mich voller Winterreisemelodien auf die frühlingshafte Heimreise.

Nachtrag: bei dieser Konzertreihe in der Stadtkirche gibt es keinen festen Eintrittspreis. Beim Verlassen der Kirche nach einem Konzert bittet man um eine freie Gabe. Die Höhe der Gabe lässt man abhängig sein von dem Maße in dem einem das Konzert gefallen hat. Ich wette, dass die heutigen Besucher dafür gesorgt haben dass die Kasse stimmt.

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Samstag, 28. September 2013
Bagatelle 201 - Musikstrom
Das könnte zum Beispiel die Moldau sein, wird einer von Ihnen sagen. Die symphonische Dichtung, wunderbar komponiert von Bedrich Smetana, worin ebenso wunderbar musikalisch geschildert wird, wie dieser Fluß dahin fließt. Von seiner Ursprung als kleiner murmelnder Bergbach irgendwo in Böhmen und Mähren, später weiterhin breit gefächert die rumänische Delta erreicht, um schließlich ins Schwarze Meer sein Wasser abzulassen.

Eigentlich meine ich etwas total anderes. Mir steht die verschiedene Art vor Augen mit der wir auf Tonträger festgelegte Musik hören. Und die fast unglaubliche Entwicklung darin in den letzten Jahren. Im Anfang war da der Grammophon, oft verbunden an einem richtig Retro-Rundfunkapparat mit den Sendern Beromünster und NWDR. Wir nahmen äußerst vorsichtig die vinyl Langspielplatte in die Hand, ließen die Diamantnadel in die Angfangsrille senken und plötzlich war der Raum voll herrlicher Musik: Duke Ellington, ein Chanson von Juliette Greco oder eine herrliche Mozart-Aria mit Fritz Wunderlich (der nicht umsonst diesen Nachnamen trug). Dann kam der kleine Kassettenspieler, der walkman und die CD. Heute befindet sich meine Musik auf einem USB-Stick. Den steck ich in ein passendes Loch in meinem Computer oder irgendwo in meinem sehr flachen Bildschirm und das Wunder geschieht. Das 125-jährige Königliche Concertgebouworkest spielt laut und deutlich die Begleitung zu Verdis Sklavenchor aus Nabucco das ich ebenfalls laut und rein mitsumme.

Der neueste Trend ist das Fehlen der tastbaren Tonträger. Wer kauft heutzutage noch eine CD? Sie vielleicht, aber ich nicht. Ich setze mich vor dem Computer, schalte mir ein Musikversorgendes Programm ein (zB iTunes oder Spotify) et voila: wohlklingende Musik strömt in mein Zimmer. Buchstäblich, nämlich a stream. Das ist der Musikstrom den ich meine. Nein, selten kaufe ich mir noch eine CD. Ich kaufe mir einen download oder einen stream. Für einen Euro pro track. So viel kostet auch eine Carmen-Aria mit Maria Callas oder eine portugiesische Fado mit Amalia Rodrigues. Wie Sie wollen; die Wahl kennt keine Grenzen.

Weil wir doch dabei sind so viele englische Wörter zu benutzen und mit Monty Python zu sprechen: and now for something completely different. Klavier spielen kann ich nicht, jedenfalls nur für mich selbst mit zwei Fingern und nicht für andere Ohren, aber eine Musikpartitur lesen kann ich. Das heißt, nur wenn die Musik nicht allzu kompliziert und das Tempo nicht allzu schnell ist, kann ich auf einem Notenblatt Papier den Musikanten auf dem Fuße folgen. Nicht immer, aber oft, gibt dieses Mitlesen dem Hörgenuß eine extra Dimension. Mann sieht zum Beispiel wo der Pianist forte spielt, während der Komponist an dieser Stelle doch etwas Leiseres meinte. Es fallen Sachen auf die man beim lauter Zuhören vermissen würde.

Wenn Sie mögen, zeige ich Ihnen wie das bei mir vonstatten geht. Zuerst downloade ich mir eine Klavierpartitur einer wunderbaren Beethovensonate, sagen wir die aus Opus 109. (Umsonst zu bekommen.) Diese lasse ich dann auf meinem Monitor erscheinen und mit der Maus scrolle ich durch die Sammlung Notenbalken. Danach öffne ich einen Musikselbstbedienungsladen und starte den Musikstream wo der berühmte Alfred Brendel diese Beethovensonate spielt. Die herrlichen Klaviertöne aus der Partitur werden von meinen Augen gefolgt, während die kleinen Computerlautsprecher dafür sorgen daß es meinen Ohren an nichts fehlt.

Hier unten sehen wir zwei Teile der Partitur. Der Anfang und der letzte Satz. Es steht geschrieben daß es ein sängerisch Andante ist, welches jedoch mit einiger Expressivität gespielt werden will. Der Komponist bittet außerdem um eine gesangvolle und innige Empfindung. Die meisten Pianisten versuchen es, die wenigsten können es.
Da unten sehen Sie mich an der Hör - und Seharbeit. Während der Computer läuft, die Klaviermusik durch mein Zimmer strömt, zeig ich Ihnen mit der linken Hand auf einigen typisch-Beethovensche Noten in der Partitur. Die rechte Hand ruht auf der Maus. Mit der unsichtbaren dritten Hand (Selbstauslöser) fotografiere ich den Vorgang.










Was für ein Getue! werden Sie sagen. Und Recht haben Sie. Das hier oben Beschriebene ist aber auch nur für die Bühne. Meistens setze ich mich (ohne Partitur) in meinen Lieblingssessel und genieße der Musik. Nicht selten ist die Musik so schön und bin ich von den Tönen so angetan, daß meine Augen sich fast automatisch unbemerkt schließen. Das Erwachen erfolgt lange nach dem Schlußakkord.

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Donnerstag, 20. Dezember 2012
Bagatelle 174 - Grün
Zufälligerweise - ach, was heißt hier denn 'zufällig', wenn Sie und ich wissen wie bedachtsam und bedacht der Zufall manchmal agiert - hörte ich kurz nach Mitternacht wie im WDR-3 ein Adventsfenster geöffnet und ein Weihnachtslied gesungen wurde. Es war das wohlbekannte und erhabene Lied 'O Tannenbaum'. Der Moderator erklärte, daß es - wie viele andere Kirchenlieder - ursprünglich ein ziemlich ordinäres Volkslied war. Der Tannenbaum wurde deshalb gepriesen, weil seine Nadeln das ganze Jahr hindurch grün gefärbt waren und er nicht dauernd seine Farbe wechselte. Sogar im Winter, wenn es zu schneien anfängt, höre die Tanne nicht auf zu 'grünen'. Diese Beharrlichkeit wurde - im Vergleich mit den launenhaften Tücken eines jungen Mädchens - gelobt. Nicht umsonst hieß es: wie grün sind deine Blätter. Daß die ursprüngliche Bedeutung verloren gegangen ist, und daß man später sang: wie schön sind deine Blätter, dafür kann die alte Tanne nichts.
Übrigens, die Farbe 'grün' spielt in mehreren deutschen Volksliedern eine bedeutende Rolle. So wie bei Schuberts unendlich Schönen Müllerin, wo der Liebhaber und Dichter abwechselnd die Farbe grün als 'lieb' bezeichnet und dann wieder als 'häßlich' und gar 'böse'. Sei es drum.

Schon als sehr kleiner Junge kannte ich das Lied. Das heißt: die Melodie. Und wir, die wir aufwuchsen in einem kleinen Dorf wo die deutsch-holländische Grenze quer hindurch verlief, sangen bei diesen hochmusikalischen Tönen den folgenden Text den ich für Sie kaum zu übersetzen brauche, so vermute ich.

O Dinxperlo, o Dinxperlo, (Name des Dorfes)
wat heb i-j mooie straoten! (schöne Straßen)
En a-j dan deur den Hellweg gaot,
dan scheur i-j ow de boks an 't prikkeldraod! (zerreißen; Hose; Stacheldraht)
O Dinxperlo, o Dinxperlo,
wat heb i-j mooie straoten!




So ein Text haftet, kann ich Ihnen sagen. Den vergißt man nie. Und daß die Möglichkeit, daß man sich die Hose wegen des Stacheldrahtes zerriß, tatsächlich bestand, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Selber bin ich - in den ersten Jahren nach dem Krieg - wohl mal durch ein Loch im Stacheldrahtzaun gekrochen um unseren Verwandten drüben eine Tüte richtiger Bohnenkaffee zu besorgen.

Lang ist's her. Fast so lange her wie die Zeit wo ein gewisser Lehrer Zarnack 1820 das frohe Lied von der immer grünen Tanne dichtete. (Die Melodie ist noch viel älter.) Aber nicht so lange daß ich nicht allen Bagatell-leserinnen und -Leser eine gute, frohe Weihnacht wünschen könnte. Das tue ich gerne und von Herzen mit einem Bild worauf Sie, wenn Sie gut schauen, im Hintergrund unseren kleinen, immer grünenden, Tannenbaum sehen.


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Mittwoch, 17. Oktober 2012
Bagatelle 169 - Lautlose Kunst
Anlaß
In der Tat, manchmal liest man etwas völlig unverständliches. So sitze ich eines Abends seelenruhig in meiner Leseecke, da fallen meine Augen auf den hier unten abgebildeten Text.
Also, hier steht meines Erachtens geschrieben: Man solle bitte schön warten mit dem umschlagen der Seite bis das Lied zu Ende gesungen ist. Oder irre ich mich?



Fragen über Fragen
- Ist das hier eine sanfte Bitte, eine gutgemeinte Aufforderung, ein guter Rat oder sogar ein schroffer Befehl?
- Welche Seite welches Buches ist hier gemeint? Und um welches Lied geht es?
- Vor allem: wieso darf ich selber nicht entscheiden wann und wo ich meine Buchseite umschlage? Wer würde etwas dagegen haben und wer würde es mir verbieten wollen? Ist nun auch der Rest meines freien Willens dahin? Flöten vielleicht?





Liedcontext
Oberhalb meines angesprochenen Satzes steht ein Liedtext. Und zwar ein berühmtes Lied. Nicht wegen seines läppischen Textes (vom Herrn Carl Lappe höchstpersönlich), sondern eher wegen seiner himmlischen Musik (von Franz Schubert). Oben die deutsche Urfassung und darunter die englische Übersetzung.




Lied und Gesang
Das Lied wird gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Das weiß ich, weil es auf der Gegenüberseite geschrieben steht. Ich sehe auch sein Bild. Und wenn ich die dazugehörende alte Langspielplatte spiele, höre ich seine unverkennbare schöne Stimme. Mein Gott, wie sang dieser Mensch unmenschlich schön! Wenn Sie mich fragen sang er manchmal gar zú schön.
Dietrich Fischer-Dieskau starb in diesem Jahr, 2012. Auf dem Bild ist er um die vierzig. Die Aufnahme stammt aus 1967 und das Geburtsjahr Fischer-Dieskaus war 1925.

Liedtext und Buchtext
Das erste Rätsel ist gelöst. Wir kennen den Sänger und wir kennen das Lied. Die Seite (welche nicht umgeschlagen werden darf) des Buches enthält höchstwahrscheinlich den Liedtext. Der Sänger singt. Und wenn wir wollen, lesen wir in Deutsch oder in der englischen Übersetzung was es bedeutet was wir zu hören meinen. Welches Buch, so lautet dennoch die Frage, halte ich in meinen Händen?

Musik und andere Geräusche
Jeder Konzertbesucher kennt sie: die Keucher, die Hustenden, die Dame die das ganze Konzert hindurch mit ihrem Taschentuch fummelt so daß es ununterbrochen knistert. Der Nachbar dessen Nasenjucken sich gerade bei der leisesten Symphoniestelle (ppp!) aufmacht in einer Nieserei auszumünden. Die liebevollen Damen die nur aus Verlegenheit oder aus einer anderen unerklärlichen Grund meinen sich dann und wann die Kehle räuspern zu müssen. Die Besucher die viel Lärm um nichts machen weil sie unentwegt in ihren Programmheften hin und her blättern. Freunde, nicht diese Töne!

Programm und Programmheft
Das ist die Lösung! Wir sollen bitte schön nicht die Seite unseres Programmheftes umschlagen bevor das Lied zu Ende gesungen ist. Es gilt aber nicht uns die daheim lesen und zuhören, es gilt den Besuchern eines öffentlichen Konzertes, wobei Dietrich Fischer-Dieskau singt und der nicht weniger berühmte Begleiter Gerald Moore die Klaviertasten berührt. Er, der Bariton, singt Im Abendrot. Und er, der Pianist, begleitet so schön daß wir förmlich das Rot, das in der Wolke blinkt in unser stilles Fenster sinken sehen.

Schall und Platte
Es war am 20. Februar 1967 in der Londoner Royal Festival Hall wo das Konzert der beiden life aufgenommen wurde. Daher die Bitte an die Besucher das verbreiten von Nebengeräuschen so gut wie möglich zu unterlassen.
Jetzt hab' ich mir das Programmheft und die Schallplatte (richtiges, feines Vinyl) in die Hand genommen. Ich setze mich in meine Leseecke, lege die Schallplatte auf den Drehteller und schalte ein. Höre genauestens und vergnügungsvoll zu. Und warte bis das Lied vollendet ist, bis ich es wage die Seite des Heftes umzuschlagen. Denn ich möchte nicht stören.

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