Samstag, 4. Dezember 2010
Bagatelle LXXXII - Kirchturmkletterei
In meiner Jugend war ich auch so einer. Einer, der herausgefordert, bereit war großen Gefahren und Bedrohungen zu trotzen. Nur um den anderen zu zeigen was man sich traute und um bewundernde Blicke, Lob und Anerkennung zu ernten.
Zum Beispiel: mein Verbleib im Klassenbücherschrank. Ein leerer Schrank im Sekundarstufenklassenzimmer lud quasi ein sich darin zu verstecken. Wer, so war die Frage unter den Schülern, wagt es sich zu verstecken und sich schlafen zu legen in dem Schrank, während ein sonst sehr gefürchteter Lehrer sein Bestes tut der Klasse etwas beizubringen?

Terra war so einer. Einer der’s wagte. Ich legte mich in den Schrank und hörte wie der Lehrer hereinkam und mit seiner Lektion anfing. Er geriet allmählig in Wut als er bemerkte, daß er nicht álle Aufmerksamkeit bekam wie er ’s gewohnt war. Einige Schüler schauten auf den Schrank mit Inhalt, als wollten sie dem Herrn Lehrer auf etwas anderes aufmerksam machen. Aber von niemand wurde ich verraten. Nach vierzig Minuten kroch ich steif und stramm aus dem Schrank. ‘Wenn es schief gegangen wäre’, sagten meine Klassenkameraden, ‘wenn der Lehrer dich im Schrank bemerkt hätte, wären die Folgen schrecklich gewesen.’

Der Maurermeister Herman war auch so einer. Seine Freunde, die ihm bei der Arbeit am Kirchturm in unserem Dorfe zuschauten, versprachen ihm eine Schachtel Zigaretten wenn er es wagen sollte den Kirchturm hinauf zu klettern um den Hahn auf der Spitze zu streicheln. ’Abgemacht’ sagte der Maurermeister Herman. ‘Für eine Schachtel richtige Virginia Zigaretten tue ich das. Keine Frage.’



Der Turm der Dorfkirche ist etwa 38 Meter hoch. Der Kirchturmhahn – der uns nicht nur die Windrichtung zeigt, aber uns auch lehrt was es denn heißt stolz auszusehen – erreicht man indem man innen im Turm über steinerne Drehtreppen und hölzerne Leiter nach oben klettert bis zur Turmluke. Das ist ein kleines Fenster. Es wird an Feiertagen geöffnet um der Nationalflagge in rot-weiß-blau die Gelegenheit zu bieten freiaus zu wehen. Wenn einer so kühn, übermutig sogar und sorglos ist, kann man sich durch die Luke nach draußen bewegen und weiter aufwärts klettern, wobei man sich mit den Händen der eisernen Haken bedient die bis zum Kirchturmhahn den Turm vor Blitzeinschlägen schützen.

Das tat der Maurermeister Herman. In Schweiß badend erreichte er – mit Mühe und Not, wie der Erlkönig den Hof – den Hahn, berührte denselbigen und stieg wieder herab. Gut und glücklich für ihn war, daß er sich keine Zeit gönnte sich von einer Höhenangst befangen zu lassen. Unversehrt erreichte er die Luke und trat wieder in den Turm hinein. Wie vertraut benahmen sich die die hölzern und steinernen Treppenstufen! Unten angekommen wischte er sich den Schweiß vom Gesicht und nahm die volle Zigarettenschachtel in Empfang.

Später gab er zu tausende Ängste gehabt zu haben und tausend Mal gestorben zu sein. Seine Sturheit und Starrköpfigkeit aber ließen ihm keine andere Wahl. Wie es später Terra geschah in dessen leeren Klassenzimmerbücherschrank.

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