Samstag, 11. Februar 2012
Bagatelle 147 - Die unbekannte Oma
terra40, 13:26h
Wie weit in unserem Leben geht unser Gedächtnis zurück? Einige behaupten daß die frühesten Erinnerungen bis zum 4-jährigen Alter zurückweisen; alles was davor liegt, würdest du nur vom hören sagen kennen. Einige andere, worunter ich selber, meinen daß die Erinnerungskraft, wenn man sich bemüht, noch weiter zurück reicht. Auf einem Familienbild, womit mein Vater seine vier Kinder für die Ewigkeit zu bewahren versuchte, erscheine ich als zwei-jähriger. Aber ich weiß Ort und Stelle noch genau. Auch wie die Nachbarsfrau, seitlich anwesend, mich aufforderte zu winken. Alle sagen: wie kannst du das wissen? Aber ich kann. Ich weiß es eben.
In meiner Erinnerung ist kein Platz für meine Großmutter mütterlicherseits. Die Mutter meiner Mutter starb als ich anderthalb Jahre alt war. 1941. Meine Mutter sagte immer: die Oma ist im Krieg gestorben, obwohl beides nichts mit einander zu tun hatte. Ich kenne meine Oma nur aus den Bildern und aus den Familiengeschichten. Weder ihre Stimme kann ich mir vor Ohren halten, noch kann ich mich daran leiblich, kinetisch also, erinnern daß sie mich trug und daß sie mich auf ihren Schoß sitzen ließ.
Diese meine Oma (die ándere Oma, die Mutter meines Vaters, starb Jahre vor meiner Geburt) wurde 1864 geboren. Das Bild zeigt uns eine junge Frau - schätzungsweise 16 Jahre alt - die etwas argwöhnisch die Handlungen des Fotografen beobachtet. Ich sehe ihr dünnes Haar, nach zwei Seiten gekämmt, und ihre schöne Sonntagstracht. An ihren Händen, ruhig in ihrem Schoß liegend, sieht man, daß diese Bauerstochter die rauhe Landarbeit nicht scheute.
Warum dieses Bild? Vielleicht möchte die Oma beweisen, daß sich hier eine junge, heiratsfähige, selbstbewußte Frau der Welt präsentierte. Selbstbewußt, sicher, aber auch ein wenig schwermütig. Denn das sieht man auch, denke ich.
Wie gesagt, das wenige was ich von meiner Oma weiß, weiß ich aus Geschichten anderer über sie. Aber vieles weiß man nicht. Ich weiß nicht was ihre Lieblingsfarbe war, ich weiß nicht mal ihre Augenfarbe. Kleinigkeiten, die hört man. Daß sie große Angst vor Pferden hatte und sonntags nicht gerne mit Pferd und Kutsche zur Kirche fuhr. Daß sie deshalb heilfroh war als die Möglichkeit kam sich mit einem Fahrrad von einem zum anderen Haus zu bewegen. Da meine Oma in ihrem späteren Leben auch Hebamme war, - sehr geliebt und gepriesen von der ganzen Gegend - war ein Fahrrad fast ein Gottesgeschenk.
Zwei Oma-Geschichten sind mir so oft erzählt worden, daß sie wohl stimmen müssen. Es sind förmlich Tatsachen. Die will ich ihnen nicht vorenthalten.
Man sagte: die Oma sei klug und intelligent gewesen. Sie war auch weise. Viel wichtiger und seltsamer war vielleicht das unerklärliche Vermögen Omas den Tod gewisser Leute aus der Umgebung vorhersagen zu können. Das hat mir meine Mutter in einer vertraulichen Stunde erzählt. Sie, die Oma, sei aber über diese besondere Gabe gar nicht erfreut gewesen. Im Gegenteil, sie habe darunter gelitten.
Die Oma war klug und weise. Sie war auch, wie wir sagen, 'eigenwijs', das heißt: eigensinnig. Sie vertrat ihre eigene Meinung und war schwer davon abzubringen. Was folgendes Beispiel illustriert.
Als der Malermeister einmal das 'beste' Zimmer im Bauernhof tapeziert hatte, den Raum in dem man die wichtigen Gäste empfing, ließ die Oma verbreiten, daß der Maler zwar sein Bestes getan habe, aber daß sie sich an dem Ergebnis nicht erfreuen könne. Deshalb nahm sie selber Pinsel und Farbe zur Hand, verschloß die Tür und malte eigenhändig ein bekanntes Tapetenmuster (die französische Lilie) auf die neue Tapete. Einen ganzen Tag dauerte diese Malerei. Um Fragen wie: warum machst du das, Oma? vorzubeugen, sprach sie, als sie wieder hervor trat, die unvergeßlichen Worte: 'Es war mir einfach zu langweilig: nur diese vertikalen Streifen und Linien.'
Ich habe meine Oma nicht gekannt. Sie hat mich sicherlich getragen und ich hab' sie gesehen, ihre sanfte Stimme gehört und ihren Körper gefühlt. Meine Oma hieß mit Vornamen Dora Berendina. Und wenn Sie meinen richtigen Vornamen kennen würden, wüßten Sie, daß ich nach ihr benannt worden bin. Wie es damals so üblich war. Auch darum hab' ich was mit ihr.
Auf dem unteren Bild sehen Sie meine Großeltern. Die Oma trägt nicht mich, sondern meine Kusine. Ein Bild mit uns beiden zusammen gibt es nicht.
Und wenn Sie mögen: von meinem Großvater erzähl ich Ihnen ein anderes Mal.
In meiner Erinnerung ist kein Platz für meine Großmutter mütterlicherseits. Die Mutter meiner Mutter starb als ich anderthalb Jahre alt war. 1941. Meine Mutter sagte immer: die Oma ist im Krieg gestorben, obwohl beides nichts mit einander zu tun hatte. Ich kenne meine Oma nur aus den Bildern und aus den Familiengeschichten. Weder ihre Stimme kann ich mir vor Ohren halten, noch kann ich mich daran leiblich, kinetisch also, erinnern daß sie mich trug und daß sie mich auf ihren Schoß sitzen ließ.
Diese meine Oma (die ándere Oma, die Mutter meines Vaters, starb Jahre vor meiner Geburt) wurde 1864 geboren. Das Bild zeigt uns eine junge Frau - schätzungsweise 16 Jahre alt - die etwas argwöhnisch die Handlungen des Fotografen beobachtet. Ich sehe ihr dünnes Haar, nach zwei Seiten gekämmt, und ihre schöne Sonntagstracht. An ihren Händen, ruhig in ihrem Schoß liegend, sieht man, daß diese Bauerstochter die rauhe Landarbeit nicht scheute.
Warum dieses Bild? Vielleicht möchte die Oma beweisen, daß sich hier eine junge, heiratsfähige, selbstbewußte Frau der Welt präsentierte. Selbstbewußt, sicher, aber auch ein wenig schwermütig. Denn das sieht man auch, denke ich.
Wie gesagt, das wenige was ich von meiner Oma weiß, weiß ich aus Geschichten anderer über sie. Aber vieles weiß man nicht. Ich weiß nicht was ihre Lieblingsfarbe war, ich weiß nicht mal ihre Augenfarbe. Kleinigkeiten, die hört man. Daß sie große Angst vor Pferden hatte und sonntags nicht gerne mit Pferd und Kutsche zur Kirche fuhr. Daß sie deshalb heilfroh war als die Möglichkeit kam sich mit einem Fahrrad von einem zum anderen Haus zu bewegen. Da meine Oma in ihrem späteren Leben auch Hebamme war, - sehr geliebt und gepriesen von der ganzen Gegend - war ein Fahrrad fast ein Gottesgeschenk.
Zwei Oma-Geschichten sind mir so oft erzählt worden, daß sie wohl stimmen müssen. Es sind förmlich Tatsachen. Die will ich ihnen nicht vorenthalten.
Man sagte: die Oma sei klug und intelligent gewesen. Sie war auch weise. Viel wichtiger und seltsamer war vielleicht das unerklärliche Vermögen Omas den Tod gewisser Leute aus der Umgebung vorhersagen zu können. Das hat mir meine Mutter in einer vertraulichen Stunde erzählt. Sie, die Oma, sei aber über diese besondere Gabe gar nicht erfreut gewesen. Im Gegenteil, sie habe darunter gelitten.
Die Oma war klug und weise. Sie war auch, wie wir sagen, 'eigenwijs', das heißt: eigensinnig. Sie vertrat ihre eigene Meinung und war schwer davon abzubringen. Was folgendes Beispiel illustriert.
Als der Malermeister einmal das 'beste' Zimmer im Bauernhof tapeziert hatte, den Raum in dem man die wichtigen Gäste empfing, ließ die Oma verbreiten, daß der Maler zwar sein Bestes getan habe, aber daß sie sich an dem Ergebnis nicht erfreuen könne. Deshalb nahm sie selber Pinsel und Farbe zur Hand, verschloß die Tür und malte eigenhändig ein bekanntes Tapetenmuster (die französische Lilie) auf die neue Tapete. Einen ganzen Tag dauerte diese Malerei. Um Fragen wie: warum machst du das, Oma? vorzubeugen, sprach sie, als sie wieder hervor trat, die unvergeßlichen Worte: 'Es war mir einfach zu langweilig: nur diese vertikalen Streifen und Linien.'
Ich habe meine Oma nicht gekannt. Sie hat mich sicherlich getragen und ich hab' sie gesehen, ihre sanfte Stimme gehört und ihren Körper gefühlt. Meine Oma hieß mit Vornamen Dora Berendina. Und wenn Sie meinen richtigen Vornamen kennen würden, wüßten Sie, daß ich nach ihr benannt worden bin. Wie es damals so üblich war. Auch darum hab' ich was mit ihr.
Auf dem unteren Bild sehen Sie meine Großeltern. Die Oma trägt nicht mich, sondern meine Kusine. Ein Bild mit uns beiden zusammen gibt es nicht.
Und wenn Sie mögen: von meinem Großvater erzähl ich Ihnen ein anderes Mal.
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sid,
Donnerstag, 16. Februar 2012, 18:25
Ich denke, das hängt von der Person ab. Es gibt sicher Menschen, die sich an Früheres erinnern können, also bevor sie 4 Jahre alt waren.
Danke, daß Sie Ihre Geschichte hier teilen. Eindrucksvolle Bilder.
Danke, daß Sie Ihre Geschichte hier teilen. Eindrucksvolle Bilder.
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sturmfrau,
Donnerstag, 16. Februar 2012, 19:17
Das ist, wenngleich anonym, sehr privat, was sie da schildern. Die Augen, die Stimme, die Art der Oma, sich zu bewegen, leben zum Teil in Ihnen weiter, auch wenn sie sie nicht wirklich kannten. Ich finde das sehr berührend und schließe mich Sids Dank an.
Inzwischen weiß man (wenn ich richtig informiert bin) übrigens über das Gedächtnis von Kindern, dass zwar verbal erst ab dem dritten, vierten Lebensjahr erinnert werden kann, was war. Gefühle, Gerüche, taktile Empfindungen werden aber auch schon früher "abgespeichert". Problematisch ist halt nur, dass man sie nicht wirklich benennen kann. Vertrauen Sie auf Ihre Erinnerung. Es ist ohnehin ihre ganz eigene, die Ihnen niemand nehmen kann.
Inzwischen weiß man (wenn ich richtig informiert bin) übrigens über das Gedächtnis von Kindern, dass zwar verbal erst ab dem dritten, vierten Lebensjahr erinnert werden kann, was war. Gefühle, Gerüche, taktile Empfindungen werden aber auch schon früher "abgespeichert". Problematisch ist halt nur, dass man sie nicht wirklich benennen kann. Vertrauen Sie auf Ihre Erinnerung. Es ist ohnehin ihre ganz eigene, die Ihnen niemand nehmen kann.
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terra40,
Freitag, 17. Februar 2012, 12:23
Privates Gedächtnis
Was das Gedächtnis angeht, ich bin der Auffassung daß es eine Sache von retrieval ist, vom wieder ins Bewußtsein rücken von Inhalten (Erinnerungen), auch die aus der frühesten Kindheit, welche zwar systematisch, das heißt in strukturierten Zusammenhängen, im Gedächtnis gespeichert sind, die man aber - wenn's sein muß - nicht auf der Stelle reproduzieren kann. Die Inhalte sind schon da, aber sie lassen sich nicht so einfach an die Oberfläche bringen.
Diese Bagatelle handelt zwar über private Sachen und Personen, meine Verwandten brauchen sich keine Sorge zu machen. Ich schreib' nur freundliches über sie. Übrigens, auch kein böses Wort über alle anderen.
Gruß, T.
Diese Bagatelle handelt zwar über private Sachen und Personen, meine Verwandten brauchen sich keine Sorge zu machen. Ich schreib' nur freundliches über sie. Übrigens, auch kein böses Wort über alle anderen.
Gruß, T.
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sturmfrau,
Samstag, 18. Februar 2012, 19:13
Nein, ich habe keine Sorge über die Privatsphäre Ihrer Verwandten und traue Ihnen diesbezüglich auch keine Boshaftigkeiten zu. Im Gegenteil, ich finde es einfach sehr schön, dass Sie diese Bilder mit uns teilen. Ich habe selbst von meinen Groß- und Urgroßeltern ganz ähnliche Bilder, die ich aber bislang nicht im Blog veröffentlicht habe.
Ich finde, solch alte Fotos berühren auf eine ganz besondere Weise - der Blick in den Augen der Abgelichteten ist noch ein ganz anderer als bei heutigen Schnappschüssen. Ein Foto war etwas Besonderes, und so wirken auch die Menschen auf den Bildern besonders. Da ist eine andere Haltung und Ausstrahlung, und das ist weniger beliebig und viel persönlicher als manches heutige Foto.
Ich finde, solch alte Fotos berühren auf eine ganz besondere Weise - der Blick in den Augen der Abgelichteten ist noch ein ganz anderer als bei heutigen Schnappschüssen. Ein Foto war etwas Besonderes, und so wirken auch die Menschen auf den Bildern besonders. Da ist eine andere Haltung und Ausstrahlung, und das ist weniger beliebig und viel persönlicher als manches heutige Foto.
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