Sonntag, 27. Mai 2012
Bagatelle 161 - Text und Bild
Heute ein kleiner Beitrag aus der Reihe Literarische Telepathie, oder wie es mein Bruder je formulierte: "Ein historisch-literarisches Unikat, unverständlich unbegreiflich, aber trotzdem historisch validiert," womit er eine Ereignis meinte, welches nach menschlichem Ermessen niemals stattgefunden haben könnte, aber das undank dessen in Wirklichkeit tatsächlich so passiert sei. Und zu mir fast immer den Satz hinzufügend: "Es geschieht so viel mehr zwischen Himmel und Erde, aber das wirst du, mit deinen nur auf Empirie gerichteten Augen, niemals sehen."

Es ist die Geschichte von Leo Tolstoi und Pasternak. (Nicht der Boris P., sondern der Illustrator M. Pasternak.) Wichtig ist zu wissen, daß im 19. Jahrhundert die Romane der europäischen Spitzenkategorie (die Schriftsteller meine ich) mit realistisch-expressionistischen Bildern illustriert wurden, weil sie dann, laut Meinung der Verleger, der Leserschaft attraktiver und zugänglicher vorgestellt werden konnten. Tolstois Verleger hatte hierzu mit dem damals berühmten Illustrator M. Pasternak einen Kontrakt geschlossen. Anhand der Druckproben des neuen Romanes entwarf der Herr Pasternak attraktive Zeichnungen. Vor Erscheinen des Buches war der Illustrator laut kontraktueller Absprache verpflichtet die Bewilligung des Autors einzuholen. So auch geschehen mit Tolstois 1899 vollendeten Roman Auferstehung. Es war übrigens Tolstois letzter Roman.



Dies hier ist der schwer dekadente Prinz Nechljudow (Dimitri Iwanowitsch, genannt Mitja) eine der Hauptpersonen in Tolstois Roman. Tolstoi fragte den Illustrator Pasternak ob dieser den Prinzen N. gekannt habe. Er, Tolstoi, hätte den tatsächlich existierenden Prinzen N. als Vorbild genommen für seine Romanfigur. "Sie müssen ihn gekannt haben!", sagte Tolstoi zu Pasternak. "Sonst hätten Sie ihn nicht so nach dem Leben zeichnen können. Er ist es: kein Zweifel darüber."

Das ist es was mein Bruder in Erregung versetzte. Daß eine Zeichnung, die schließlich nur mit Hilfe der Texte eines Korrekturbogens zu Stande gekommen ist, so lebensecht sein kann. Da muß die Telepathie mitgespielt haben.

Daß die Geschichte sich wirklich so abgespielt hat, ergibt sich aus dem Anhang in der französischen Übersetzung. Hier unten zu lesen. Ohne telepatische Beigedanken.

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Das ist eine sehr interessante Begebenheit, die sie da beschreiben. Und an der Begebenheit wird der Unterscheid zwischen Kunst und Wissenschaft sehr gut deutlich. Letztere kann immer alles erklären, bzw. gibt vor dies zu können, während Kunst den anmaßenden Anspruch des Allwissens ja gar nicht erhebt. Kunst ist Verbindung von Intuition und Authentizität. Und anscheinend haben sich da zwei Künstler gefunden und ergänzt. Wenn Tolstoi in seinem Buch den besagten Prinzen so gekonnt zum Leben erweckt, dann ist jemand wie Pasternak offenbar seinerseits in der Lage, diesen Eindruck voll und ganz wahrzunehmen und somit auch wiedergeben zu können. Trotzdem bleibt etwas Unerklärliches. Und das ist auch gut so, denn es erinnert uns daran, dass der menschliche Verstand seine Grenzen hat, weil – wie ihr Bruder formuliert - „nicht alles, was zwischen Himmel und Erde geschieht“ von uns erkannt werden kann.

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Ein wenig
schwingt hier die Sehnsucht nach der Abbildung von Wirklichkeit mit, die zweifellos im 19. Jahrhundert als einer der oberen Leitsätze galt. Mit dem Aufkommen der Moderne hieß es dann, hier nur als Beispiel und mit Paul Klee: Kunst bilde nicht die Wirklichkeit ab, sie mache sichtbar.

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