Mittwoch, 17. Oktober 2012
Bagatelle 169 - Lautlose Kunst
Anlaß
In der Tat, manchmal liest man etwas völlig unverständliches. So sitze ich eines Abends seelenruhig in meiner Leseecke, da fallen meine Augen auf den hier unten abgebildeten Text.
Also, hier steht meines Erachtens geschrieben: Man solle bitte schön warten mit dem umschlagen der Seite bis das Lied zu Ende gesungen ist. Oder irre ich mich?



Fragen über Fragen
- Ist das hier eine sanfte Bitte, eine gutgemeinte Aufforderung, ein guter Rat oder sogar ein schroffer Befehl?
- Welche Seite welches Buches ist hier gemeint? Und um welches Lied geht es?
- Vor allem: wieso darf ich selber nicht entscheiden wann und wo ich meine Buchseite umschlage? Wer würde etwas dagegen haben und wer würde es mir verbieten wollen? Ist nun auch der Rest meines freien Willens dahin? Flöten vielleicht?





Liedcontext
Oberhalb meines angesprochenen Satzes steht ein Liedtext. Und zwar ein berühmtes Lied. Nicht wegen seines läppischen Textes (vom Herrn Carl Lappe höchstpersönlich), sondern eher wegen seiner himmlischen Musik (von Franz Schubert). Oben die deutsche Urfassung und darunter die englische Übersetzung.




Lied und Gesang
Das Lied wird gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Das weiß ich, weil es auf der Gegenüberseite geschrieben steht. Ich sehe auch sein Bild. Und wenn ich die dazugehörende alte Langspielplatte spiele, höre ich seine unverkennbare schöne Stimme. Mein Gott, wie sang dieser Mensch unmenschlich schön! Wenn Sie mich fragen sang er manchmal gar zú schön.
Dietrich Fischer-Dieskau starb in diesem Jahr, 2012. Auf dem Bild ist er um die vierzig. Die Aufnahme stammt aus 1967 und das Geburtsjahr Fischer-Dieskaus war 1925.

Liedtext und Buchtext
Das erste Rätsel ist gelöst. Wir kennen den Sänger und wir kennen das Lied. Die Seite (welche nicht umgeschlagen werden darf) des Buches enthält höchstwahrscheinlich den Liedtext. Der Sänger singt. Und wenn wir wollen, lesen wir in Deutsch oder in der englischen Übersetzung was es bedeutet was wir zu hören meinen. Welches Buch, so lautet dennoch die Frage, halte ich in meinen Händen?

Musik und andere Geräusche
Jeder Konzertbesucher kennt sie: die Keucher, die Hustenden, die Dame die das ganze Konzert hindurch mit ihrem Taschentuch fummelt so daß es ununterbrochen knistert. Der Nachbar dessen Nasenjucken sich gerade bei der leisesten Symphoniestelle (ppp!) aufmacht in einer Nieserei auszumünden. Die liebevollen Damen die nur aus Verlegenheit oder aus einer anderen unerklärlichen Grund meinen sich dann und wann die Kehle räuspern zu müssen. Die Besucher die viel Lärm um nichts machen weil sie unentwegt in ihren Programmheften hin und her blättern. Freunde, nicht diese Töne!

Programm und Programmheft
Das ist die Lösung! Wir sollen bitte schön nicht die Seite unseres Programmheftes umschlagen bevor das Lied zu Ende gesungen ist. Es gilt aber nicht uns die daheim lesen und zuhören, es gilt den Besuchern eines öffentlichen Konzertes, wobei Dietrich Fischer-Dieskau singt und der nicht weniger berühmte Begleiter Gerald Moore die Klaviertasten berührt. Er, der Bariton, singt Im Abendrot. Und er, der Pianist, begleitet so schön daß wir förmlich das Rot, das in der Wolke blinkt in unser stilles Fenster sinken sehen.

Schall und Platte
Es war am 20. Februar 1967 in der Londoner Royal Festival Hall wo das Konzert der beiden life aufgenommen wurde. Daher die Bitte an die Besucher das verbreiten von Nebengeräuschen so gut wie möglich zu unterlassen.
Jetzt hab' ich mir das Programmheft und die Schallplatte (richtiges, feines Vinyl) in die Hand genommen. Ich setze mich in meine Leseecke, lege die Schallplatte auf den Drehteller und schalte ein. Höre genauestens und vergnügungsvoll zu. Und warte bis das Lied vollendet ist, bis ich es wage die Seite des Heftes umzuschlagen. Denn ich möchte nicht stören.

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