Samstag, 30. August 2014
Bagatelle 237 - Jahrhundertgesang
Vor einigen Tagen brachte eine alte Bekannte mir ein ebenso altes Foto mit dem Bildnis einer jungen Frau. Das Bild kam, so sagte die Bekannte, aus dem Nachlass verstorbener gegenseitiger Verwandten. Es wurde vermutet, immer noch laut der Bekannten, dass es jemand aus meiner eigenen Verwandtschaft sein könnte. Meine Mutter vielleicht?



Sicher, das ist sie. Unverkennbar. Meine Mutter. An diesem Tag hat sie sich, in schönen Stücken gekleidet, dem Fotografen und somit auch uns allen bildlich preisgegeben. Sie zeigt sich uns wie sie ist und auch wie sie von uns gesehen werden möchte, denn offenbar ist ihrer Meinung nach dem Fotografen eine schöne Aufnahme gelungen, was wir sehr bejahen. Sicherlich hat die ganze Verwandtschaft und die Freundinnenschar solch ein Bild bekommen. Damit sie nicht vergessen werde, nun nicht und später auch nicht. So wie sie selber auch Fotos hat von allen Tanten, Kusinen und Freundinnen, wenn vorrätig vielleicht mit Ehemann.

Als die liebe Bekannte und ich uns über dieses Foto unterhielten, fiel mir ein anderes Bild ein. Ein gemischter Gesangsverein ist zu sehen. Meine Mutter war Mitglied dieses Vereins und wenn Sie gut schauen, könnten Sie sie irgendwo in der ersten Reihe finden. Wenn die Töne ebenso geklungen haben wie die Gesichter und Anzüge der geschätzten Mitglieder aussehen, muss es wohl eine ziemlich feierliche und wenig fröhliche Angelegenheit gewesen sein.



Beide Fotos stammen in etwa aus denselben Jahren, so um 1916, mitten im ersten Weltkrieg. Sie sind also fast einhundert Jahre alt. Mich interessiert nun auch, wás der Chor damals gesungen hat. Welches Repertoire? Waren es wirklich klassische Schubertlieder oder mehr heitere Frühlingsgesänge? Aus dem Chornamen lässt sich ableiten dass die Chormitglieder aus evangelischen/christlichen Häusern kamen. Der Chor hieß nämlich: SDG, eine Abkürzung von Soli Deo Gloria. Und für alle die das Lateinische verlernt haben gibt es sofort die Übersetzung: Allein Gott sei geehrt. Es war allerdings kein Kirchenchor.



Der Zufall will, dass von einigen Chordarbietungen aus jenen Zeiten das Programm erhalten ist. So auch vom Konzert am Neujahrstag, den 1. Januar 1916, das in der Dorfkirche zu D. zu hören war. Wie ein solches Konzertprogramm allerhand und unerwartete neue Einsichten in der damaligen Chorpraxis bietet! Zuerst nenne und übersetze ich Ihnen die diversen Chorbeiträge.

1. Kirchenlied
2. Werkmannslied
3. Vaterlandsgruß (von den männlichen Chormitgliedern gesungen)
4. Des Seemannes Los (solo)
5. (Mozarts) Ave Verum
6. Hört ihr die wilden Wellen?
7. Sommerabendlied
8. O, als ich noch ein Kind war
9. Wenn die Schwalbe uns verlässt (solo)
10. Wanderlied
11. Abendstimmen (Quartett)
12. Die Nachtigall
13. Volkshymne (Männerchor)

Offenbar wurde der Gesangsreigen kurz vor der Pause von einer Rede unterbrochen. Das Thema des geschätzten Redners war: das Schöne in der Verherrlichung Gottes. (Ich sehe es schon vor mir: Dutzende von Zuhörer(innen) welche die teuren Worte über sich her gehen lassen und die sich prustend und hustend nach der kommenden Pause sehnen, wo sie sich mit alten Bekannten unterhalten können.)




Was wir auch sagen mögen: das Konzert war sehr abwechslungsreich. Interessant ist auch die Mitteilung dass eine Eintrittskarte im Vorverkauf 25 Cents kostete; wenn ein Sitzplatz reserviert werden sollte immerhin 50 Cents.
Was wir auch gerne hören ist die strenge Anweisung auf dem Programm, dass das Rauchen in der Kirche zu unterlassen sei.

Vieles was so ein altes Bild hervorruft! Wir wissen jetzt wie der Chor aussah und was man sang. Fehlt noch die Beantwortung der Frage: und wie wurde das alles gesungen? Mühsam, grob und falsch oder hell, klar und sauber?

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