Mittwoch, 24. März 2010
Bagatelle XLVIII - Maßlos taktvoll
Es handelte sich um ein kleines Malheur, sagte der Vorstandsvorsitzende, ein bedauerlicher Zwischenfall, sonst nichts der Rede wert. Aber wir, treue Konzertbesucher, jenen Abend zwar nicht leiblich anwesend, aber vollends auf der Höhe, wissen besser: es war der ewige Streit zwischen den Mitgliedern unserer berühmten Städtischen Philharmonie einerseits, und seinem Dirigent-im-Probejahr, dem Herrn Fresco Baldi jr., dessen Schwierigkeiten beim praktischen Handwerk wieder einmal sehr deutlich wurden, indem er den Anführer der zweiten Geigen mit der Spitze seines Taktstocks dermaßen an der Augenbraue traf, daß der gute Mann in der Pause ersetzt werden mußte.
Worüber gestritten wurde, wissen wir auch. Der Herr Baldi jr. forderte das Orchester im 2. Satz der Griegschen Symphonietta zu mehr Tempo auf, (vivace stand geschrieben,) während sich das Orchester noch mehr Zeit gönnen wollte um von den selbst hervorgebrachten Klängen so lange wie möglich genießen zu können.

Da trifft es sich, daß ich neulich in den Besitz eines kleinen Büchleins kam mit dem vielversprechenden Titel Der Orchester-Dirigent – Eine Anleitung. Der Autor ist ein gewisser H. Berlioz, und das Druckwerkchen wurde schon 1864 ins Deutsche übersetzt, weil der Herr Berlioz es anfänglich auf Französisch geschrieben hatte. Einige treffende Passagen aus diesem Dünndruck möchte ich Ihnen nicht vorenthalten. Über die zu spielende Komposition schreibt der Autor zum Beispiel folgendes:



Was das auszuführende Werk betrifft, möchte ich recht gehen in der Annahme, daß der Dirigent einigermaßen Bescheid weiß über das Tempo des Stückes. Er sollte jetzt versuchen dieses rhythmische Gefühl dem Orchester zu vermitteln. Er hat zu entscheiden wie lange ein Takt dauert. Er entscheidet wann angefangen und wann aufgehört wird. Er hat vor allem dafür zu sorgen, daß sich álle Musiker auf einer Linie befinden und sich demselben Tempolimit unterwerfen. Das tut er indem er maßvolle und maßgebende Zeichen setzt mit seinem Dirigierstock.

Glänzend erörtert und erklärt! Nein, dieser Herr Berlioz trifft gleich am Anfang den richtigen Ton. Nur weiter so!

Nur indem er mit seinem Stock bedeutungsvolle Zeichen gibt, kann der Dirigent seine Musiker samt Solisten und Choristen mit notwendiger, äußerster Präzision spielen und singen lassen. Das Bedeutungsvolle aus dem vorigen Satz bezieht sich vor allem auf die Art und Weise in der die Musiknoten organisiert sind, nämlich in Takten und zwar maßgerecht.

So ist es eben! Wie prägnant und wie wahr! Davon kann sich der gute Herr Fresco Baldi jr. gerne eine Scheibe abschneiden. Der wirkliche Dirigent hat nichts weiteres zu tun als den Takt zu schlagen. Drei-viertel oder neun-achtel, das tut vorläufig nicht zur Sache. Womit schlägt man am besten? Dazu der Autor:

Der Orchesterdirigent ist gut beraten wenn er einen kleinen, leichten Taktstock (Länge etwa einen halben Meter, in heller Farbe) benutzt. Den hält er vorzugsweise in der rechten Hand. Die Bewegungen sollen von dem Pulse ausgehen und nicht von dem Arm als ganzes. Die Gewohnheit älterer Konzertmeister mit dem Geigenbogen dirigieren zu wollen, sollte man schnellstens fallen lassen. Dieses Geschwappe mit den Pferdehaaren bewirkt ungewollte Unebenheiten im Orchesterzusammenspiel.

Auf diese Weise, Seite für Seite, wird uns trefflich die edle Dirigierkunst vorgeführt. Uns bleibt nichts besseres als zu üben, immer üben! Bis wir unsere Weihnachts-cd mit der unsterblichen Eroica fehlerfrei mit Maestro Abbado mitdirigieren können. Vor oder hinter dem Spiegel, wie es uns gefällt.



Nachlese: Natürlich konnte der gute Berlioz anno 1864 noch nicht wissen, daß, mehr als hundert Jahre später, es Dirigenten geben würde wie Pierre Boulez, Valery Gergiev und selbstverständlich Kurt Masur, die sich auch ohne Taktstock glänzend zu behaupten wissen. Auch an ihnen sollte sich Herr Baldi jr. ein Beispiel nehmen.

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