Montag, 4. Februar 2019
Bagatelle 329 - Zufällige Lehrsätze
Wie es bei Ihnen üblich ist, weiß ich nicht, aber bei uns in den Niederlanden ist es Sitte dass man einer Dissertation an einer Universität ein Blatt beifügt mit einigen diskussionsträchtigen Behauptungen oder Lehrsätzen. Die Prüfungskommission, aus Professoren, Lektoren und sonstigen Sachverständigen bestehend, kann dem angehenden Doktor auf ihre oder seine Kenntnisse der Doktorarbeit betreffend befragen. Sie kann auch einen der vorgestellten Lehrsätze auf seine Haltbarkeit überprüfen.

Im Jahre 1930 verfasste eine Dame an der Universität zu Amsterdam eine Doktorarbeit unter dem Titel:
Hermann Löns, der Mensch und der Dichter in seiner volklichen Gebundenheit. Die Dame war damals Deutschlehrerin an einem berühmten Amsterdamer Gymnasium.
Einer ihrer beigefügten Lehrsätze lautete, frei übersetzt:

Nebst allen unschätzbaren Verdienste der Brüder Grimm ist es aber zu bedauern, dass ihre Sagen und Märchen ins Hochdeutsch verfasst sind und nicht in der plattdeutschen Sprache in der sie erzählt wurden.

Sie mögen, wie ich, diesem Lehrsatz zustimmen, aber es geht mir um etwas anderes. Es kann doch kein Zufall sein dass ich dieses Büchlein, in deutscher Sprache und gedruckt in gotischen Schriftzeichen, wo der Autor, von der ich niemals gehört hatte, die aber denselben Nachnamen wie ich trägt – und dennoch nicht mit mir verwandt ist - und die geboren ist in demselben kleinen Grenzdorf wo ich aufgewachsen bin? Ich sah das Buch als ich auf einem Kunst-und-Krempel Markt zufälligerweise durch einen Stapel alte Schriften blätterte.
Was meinen Sie: Zufall oder nicht?








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Mittwoch, 21. Januar 2015
Bagatelle 250 - Matthäus
Wenn man (a) seit einigen Jahren hier in dieser angenehmen blogger.de-Gemeinschaft ein Blog führt, (b) sich langweilt und (c) nichts Besseres zu tun weiß, kann sich immer noch auf seinem Blog anschauen ob und welche seiner Schreibprodukte gelesen werden. Das nun habe ich gemacht und dabei fiel mir etwas Besonderes auf. Sehen Sie selbst.

Hier unten sehen Sie eine Tabelle. Von den zwanzig meist gelesenen Bagatellen sehen wir auf einem Blick welche das sind und was ihre Rangposition innerhalb der zwanzig Auserwählten ist. Die Bagatelle 105 zum Beispiel, geschrieben am 17. Mai 2011 (wie die Zeit vergeht …) mit dem Titel: Hören und Sehen, war laut Angabe am 1. Januar 2013 559 Mal gelesen worden. Das war an diesem Datum die Rangposition 7. Am ersten Januari 2014 gestiegen auf 878 Leser(innen) wieder auf Platz 7. Dann am 1.1. diesen Jahres 2015 hochgeklettert auf die Zahl 1190 mit Rangposition 9 als Folge.
Von links: Bagatellennummer, Datum Veröffentlichung, Anzahl Leser(innen) am 1.1.2013 plus (Rangposition), Anzahl Leser(innen) am 1.1.2014 plus (Rangposition), Anzahl Leser(innen) am 1.1.2015 plus (Rangposition.

121 26-08-2011 1092 (01) 1830 (01) 2628 (01)
075 09-10-2010 0768 (03) 1302 (03) 2230 (02)
093 27-02-2011 0752 (04) 1287 (04) 2117 (03)
033 24-12-2009 0623 (05) 0975 (05) 2014 (04)
119 12-08-2011 0810 (02) 1386 (02) 1949 (05)
053 27-04-2010 0555 (08) 0887 (06) 1298 (06)
124 17-09-2011 0531 (11) 0839 (08) 1244 (07)
122 03-09-2011 0562 (06) 0790 (09) 1207 (08)
105 17-05-2011 0559 (07) 0878 (07) 1190 (09)
074 04-10-2010 0509 (13) 0775 (11) 1113 (10)
115 18-07-2011 0458 (14) 0724 (13) 1106 (11)
137 17-12-2011 0000 (18) 0664 (16) 1089 (12)
101 22-04-2011 0538 (10) 0788 (10) 1088 (13)
049 30-03-2010 0548 (09) 0682 (14) 1076 (14)
110 17-06-2011 0432 (16) 0618 (18) 1047 (15)
116 25-07-2011 0452 (15) 0634 (17) 1026 (16)
102 29-04-2011 0510 (12) 0765 (12) 1022 (17)
003 26-06-2009 0408 (17) 0675 (15) 0951 (18)
151 11-03-2012 0000 (20) 0000 (20) 0938 (19)
184 18-04-2013 0000 (19) 0617 (19) 0926 (20)

Eigentlich hasse ich diese Sorte von Informationen weil sie nichts aussagt über die eigentlich wichtigen Fragen. Wie: Wer waren diese Leser und Leserinnen? Was hat ihnen an der Bagatelle wohl oder nicht gefallen? Wurden Sie vielleicht von dieser Bagatelle überredet auch noch mal eine andere zu lesen oder hat man sich schwer enttäuscht zurückgezogen? Diese Sorte Fragen meine ich.

Lassen Sie mich dennoch zu der Tabelle zurückkehren. Mir fällt auf, dass es zwar Bagatellen gibt mit einer sowohl gemütlichen als auch rasanten Zunahme in den Leserzahlen. Drei Sachen finde ich sehr bemerkenswert. Erstens ist bei jeder Bagatelle die Rede von Zunahme. Es gibt keine Bagatelle die sozusagen von einem auf den anderen Tag aufhört Leser zu empfangen. (Ich stelle mich dann immer eine Frau Käthe Himmelfahrt aus Kreiden-auf-der-Heide vor, die sich unbemerkt und unverhofft in diesem Bagatellenblog verirrt hat und schnellstens wieder den Weg nach Hause sucht unter dem Ausruf: "Wo bin ich denn hier gelandet!")
Zweitens zeigt sich, dass die Rangpositionänderungen sich die Jahre über in Grenzen halten. Die Bagatellen die im Januar 2013 entweder vorne in der Reihe oder hinten standen (siehe die Zahlen zwischen Klammern) sind das am ersten Januar diesen Jahres meistens auch noch.
Drittens sehen wir, dass im allgemeinen die meist gelesenen Bagatellen mehr zunehmen als ihre Kolleginnen hinten auf der Skala. Der Abstand in nominalen Zahlen zwischen Platz 1 und Platz 20 wird immer größer. Die Bagatelle 102 (irgendwo hinten auf der Liste) zum Beispiel stieg von 510 Leser(innen) Anfang 2013 nach 1022 in Januar 2015. Die Bagatelle LXXV dagegen (oben auf Platz 4) stieg ums dreifache: von 768 auf 2230.

Was schließen wir daraus? Die unteren Bagatellen werden in der Regel ihre oben stehenden Kolleginnen niemals einholen, geschweige denn überholen. Die Kluft zwischen den meistgelesenen und den weniger gelesenen Bagatellen wird mit den Jahren größer und tiefer.

Nun etwas anderes, aber vergleichbares. Vor Jahren, wo ich an einer niederländischen Universität als Forscher mein trockenes Brot verdiente, hab ich in einer Stichprobe von 398 Grundschülern aus 24 Schulen untersucht wie sich ihre Lesefähigkeit entwickelt. Hier zeige ich Ihnen die Daten aus den Jahren 1978, 1981 und 1984. Die (immer dieselben) Kinder besuchten damals die respektiven Lehrjahre 1, 4 und 6 der Grundschule (jetzt Gruppe 3, 6 und 8 genannt).



Die doppelten grünen Linien stellen etwa die Untergrenze da; die doppelten Roten die Obergrenze. Alle Schüler finden irgendwo einen Platz zwischen den beiden Linien: die schwachen Leser an der Unterseite, die guten und hervorragenden Leser(innen) nahe der roten Linie.
Sie haben es natürlich bemerkt: álle Kinder, die schwache Leser(innen), die Mittelmaß und die guten Leser: alle zeigen über die Jahre eine Zunahme in ihrer Lesefähigkeit. (Die Messungen in den verschiedenen Jahren sind vergleichbar.) Nur: die Zunahme des Leseverständnisses und der Lesefähigkeit im allgemeinen ist bei den eh schon guten Schülern größer als bei den schwachen Schülern. Auch hier wird die Kluft zwischen guten und schwachen Lesern tiefer und mehr ausgeprägt. Man kann auch sagen und ich tue es auch, dass gute Schüler vielleicht mehr und besser profitieren vom Leseunterricht als schwache Leser.

Das bringt mich bei Matthäus. (Vielleicht haben Sie sich schon Gedanken gemacht über den Bagatellentitel. Was haben Bagatellenleserzahlen und Lesefähigkeitsdaten mit Matthäus zu tun?) Nun, der Evangelist Matthäus zitiert in seinem Bibelbuch (Kapittel 25) Jesus, der in Bezug auf das Nützen von Talenten folgendes gesagt haben will. "Denn wer da hat, dem wird gegeben werden und (er) wird die Fülle haben. Wer aber nichts hat, dem wird auch das er hat genommen werden." Mit Folge dass die Reichen immer reicher und die Armen immer ärmer werden. Über die Jahre wird der Abstand zwischen (bildlich) reich und arm immer größer.

Dieser sogenannte Matthäuseffekt tritt auch hervor in den neuesten Publikationen zum Beispiel von der OECD oder von der Oxfam-Novib Stiftung, wo gewarnt wird für die andauernde sich vertiefende Spaltung in der Gesellschaft. Vor allem in unserer kapitalorientierten westlichen Welt, aber nicht nur dort, wird die Trennung zwischen den haveꞌs und den have-notꞌs immer größer. Wir werden davor gewarnt und aufgerufen daran etwas zu tun. Denn es kann natürlich nicht sein, dass früh oder spät die Erde bevölkert wird von einer kleinen überreichen Elite, die 90% aller Reichtum, Kenntnis und Macht inne hat, während der große Rest in materieller und geistlicher Armut dahin vegetiert.
Oder?

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Sonntag, 20. Januar 2013
Bagatelle 176 - Hindenburg
Ich bin ein schlechter Fernseher. Damit meine ich, daß ich ziemlich wenig, in den Augen mancher medialen Mitbürger víel zu wenig fernsehe. Es ist wahr: außer meinen Lieblingssendungen: Kunst & Krempel wie auch Lieb & Teuer - die bei uns übrigens Kunst & Kitsch heißen - welche ich mir selten nehmen lasse, sehe ich wenig fern. Die Ursachen liegen auf der Hand. Einerseits liegt es an mir, an meiner innerlichen Unruhe, die es mir kaum möglich macht mich länger als fünf Minuten auf eine Sendung wie 'Verstehen Sie Spaß' zu konzentrieren. Anderseits liegt es an dem zu üppigen Programmangebot - inzwischen Hunderte von Fernsehkanälen und ebenso viele larmoyante soaps - die es mir unmöglich machen zu wählen.

Meine besten Fernsehmomente entstehen zufälligerweise. So landete ich neulich unerwartet und ungeplant in eine ARTE-Sendung, wo einige Historiker und Zeitzeugen das Ende der Weimarer Republik mit Bildern und Analysen erläuterten. Die Hauptperson war Hindenburg. Der ehemalige General- Feldmarschall und Reichspräsident Paul von Hindenburg. Sie kennen ihn viel besser als ich.

Die historische Person Hindenburg wurde - anders als bei Ihnen - in unseren schulischen Geschichtsbüchern nur kurz und knapp erwähnt. Nicht aus Mangel an Ehrfurcht und Respekt, sondern einfach durch die Tatsache, daß es um einen deutschen Reichspräsidenten handelte und nicht über einen niederländischen. Gott, Kaiser und Armee sollen die drei Stützen gewesen sein worauf er sich das Deutsche Reich gebaut zu sein hoffte, so sprach mein Lehrer feierlich. Der Titel "Reichspräsident" sagte uns auch nicht viel, denn wir hatten etwas viel bedeutsameres: nämlich eine Königin.

Als Schuljunge machte ich mir von jeder historischen Figur ein innerliches Bild das ich immer beibehalten habe. So war Hindenburg in meiner Vorstellung ein weiser, alter, gebrechlicher Greis, im grauen Mantel fast bis auf die Füße, komplett mit Ritterorden und einer Haarmode die der haarigen Kopfbedeckung meines eigenen Vaters sehr ähnelte. Er litt sehr unter die Tatsache daß er den kommenden NS-Staat nicht verhindern konnte und das war ihm anzusehen. So dachte ich.

Die Sachverständigen in der Fernsehsendung haben mein Hindenburgbild ziemlich geändert. Wieso weise, alt und gebrechlich? Er konnte sehr wohl mit der Faust auf den Tisch hauen. Und im hohen Alter war er sehr auf der Höhe, physisch sowohl als psychisch. Einer der Historiker sagte, als es 1932 um die Wahl eines neuen Reichstagspräsidenten handelte: Hindenburg pokerte mit Hitler und verlor. Und ein Enkel Hindenburgs erzählte daß sein Großvater mit 84 noch ruhig vier Glas Wein trank ohne daß man es ihm ansah.

So eine Hindenburg-Sendung mag ich. Wegen der historischen Thematik die mich schon immer interessiert hat. Und wegen der multimedialen Möglichkeiten die es jetzt gibt solch eine Geschichtsanalyse interessant zu gestalten. Und natürlich lernt man. Man erobert neue Kenntnisse, man lernt was neues und man lernt obendrein, daß vieles was man früher in der Schule gelernt hat falsch war. Aber man ist ja nie zu alt um zu lernen.

Sehr gern mag ich die kleinen Anekdoten am Rande. So erzählte der Enkel Hindenburgs, daß Adolf H., Hindenburgs Nachfolger, wenn der auf Gut Neudeck zu Besuch kam, kein Fleisch vorgesetzt bekam, weil der Adolf H. bekanntlich Vegetarier war. Statt Fleisch gab es Käse. Und dás war etwas was die kleinen Kinder in der Weimarer hochbürgerlichen Gesellschaft nur selten auf den Tischen sahen.

Da erinnere ich mich plötzlich an ein Hindenburg-Bild das mein Bruder in seiner Amsterdamer Zeit bei Aufräumarbeiten des Verlagsarchivs vom Untergang in die städtischen Mülltonne gerettet hat. Das Bild, eine Zeitungsphotographie aus einer bedeutenden holländischen Tageszeitung, zeigt den Reichspräsidenten von Hindenburg bei einem munteren Spaziergang an seinem 70. Geburtstag. Wir schreiben das Jahr 1915, mitten im ersten Weltkrieg. Hintendrauf steht geschrieben: der General-Feldmarschall mit seiner Familie. Von links: eine Hofdame die sich mit einer Dienstbotin unterhält, der General-Feldmarschall. seine Gattin Frau von Hindenburg, Frau von Pentz (die Tochter) und Rittmeister von Pentz (Schwiegersohn und persönlicher Adjutant).


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Sonntag, 11. März 2012
Bagatelle 151 - Lesen-lernen-lehren
Viele Wörter haben nur éinen Konsonanten am Ende. Einige schwierige aber sogar drei. Zum Beispiel 'Herbst' oder 'Markt'. Hier unten sehen Sie wie die jungen Grundschulkinder in den Niederlanden diese Lesebesonderheiten kennen lernen und üben. Die Frau Lehrerin hilft ihnen dabei mit dieser Seite aus einer Leselernmethode. Die Kinder lernen einige Basis-/k/v/k/k/k/-Wörter (k wie Konsonant und v wie Vokal). Kleine Geschichten und Zeichnungen helfen weiter. Hoffentlich können die Kinder am Ende der Lesestunde die unterstehenden Fragen (Wie klimt het hoogst? Wer klettert am höchsten?) lesen und richtig beantworten.



Oft, aber nicht immer ist das Lesenlernen ernst und schwer. Mit Wörtern kann man auch schön spielen, zum Beispiel wenn ein dummer Autor unabsichtlicht die Buchstaben mit Ziffern verwechselt. Dann liest man: "Ich habe ged8: es sei halb acht, aber es war erst halb 7!" Man kann auch Unsinn-Sätze schreiben und lesen, so wie: "Der Schwan liest die Zeitung und im Wasser schwimmt eine Krähe!" Kannst du auch selber solche lustige Sätze machen? fragt die Leselernmethode.



Zum Lesenlernen gehören sicherlich auch das Vorlesen, das Schreiben, das Erzählen, das Theater spielen und sogar das Singen. Das hier unten ist eine Seite aus einem Bilderbuch das auch zur Leselernmethode gehört. Wir sehen wie die Lotte und ihr Großvater zusammen Vorbereitungen treffen um einen Kuchen (das Rezept stammt von der Oma) zu backen. Die Lehrerin liest den Text (links unten) vor und erklärt den Kindern was die fremden Wörter auf den Verpackungen uns sagen wollen. Was ist: "1 Liter", oder was heißt denn 'zelfrijzend bakmeel' (selbstaufgehendes Backpulver) auf der Tüte?
Vielleicht kommen nachher einige Eltern und helfen der Klasse beim richtigen Kuchen backen! Wer weiß!



Zu den schönsten Ereignissen meines Berufslebens gehören ohne Zweifel die Momente wo es uns gelang Theorie und Praxis so zu verbinden, daß Menschen - in diesem Falle Lehrer(innen) und Schüler - davon profitierten. So ging ich (Leselerntheoretiker) abends glücklich nach Hause, wenn am Nachmittag, in einem Treffen mit Lehrerinnen aus den erste Jahren der Grundschule, diese zu mir sagten, daß sie sich sehr freuten mit der neuen Leselernmethode, mit welcher sie seit Beginn dieses Schuljahres versuchten ihren Erstkläßlern die edle Kunst des Lesens und Schreibens beizubringen. "Doch, lieber Herr Terra, wenn Sie wüßten, wie sehr uns diese neue Methode weiterhilft!" Da konnte ich (einer der Autoren und Mitbedenker der Leselernmethode) natürlich nur bestätigend nicken und mich, vor Stolz und Verlegenheit errötend, in eine Ecke zurückziehen.

Die Frage: "Was sollen die Kinder in der Schule lernen?" wurde einst von einem ziemlich bekannten niederländischen Pädagogen beantwortet mit: "Lesen, Schreiben und dann noch einige wenige Winzigkeiten". Bis heute bin ich geneigt ihm zu folgen. (Zu den Winzigkeiten gehören aber meiner Meinung nach auch täglich eine Stunde Kunst und eine Stunde Sport, aber das ist eine andere Diskussion.) Auch in dieser Zeit, wo alles offenbar visualisiert werden muß, öffnet die Lesefähigkeit jedem von uns das wirkliche Tor zur fiktiven und faktischen Welt rundum.
Nur, das Problem ist zweierlei. Wir wissen nicht genau was sich in den Köpfen der jungen Kinder abspielt wenn sie versuchen zu verstehen was es denn heißt wenn sie auf einem Blatt Papier gedruckt oder geschrieben sehen: "Diese Katze und diese Maus waren aber gute Freunde!" Einigen Kindern genügt ein halber Satz oder sogar ein halbes Wort. Einige anderen lernen nur mit großer Mühe und oft nach langer Übung die Bedeutung des Geschriebene erkennen. Oder sie lernen es nie.
Aus dem vorhergegangenen läßt sich das zweite Problem leicht ableiten. Wenn wir nicht gut wissen wie Kinder lernen zu lesen und zu schreiben, wie sollen wir ihnen es dann lehren? Darüber schreib' ich ein anderes Mal.

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Donnerstag, 16. Dezember 2010
Bagatelle LXXXIV - Eine thymotische Kakophonie
In diesen turbolenzvollen Zeiten, wo nichts mehr ist wie es aussieht, bauen wir auf die vertrauten, temporären Strukturen. Diese, hoffen wir jedenfalls, sind unveränderlich und unantastbar. Weihnachten ist immer am 25. 12. Und genau eine Woche später nimmt das neue Jahr seinen (unbestimmten) Lauf. Vier Adventswochen gibt es und ebenso viele Kerzen. Und komme was wolle, der Sankt Nikolaus kommt immer: abends, am 5. Dezember. Auch immer in diéser Periode unterwerfen wir uns dem Diktat.

Doch, in dieser vorweihnachtlicher Zeit prüfen wir in unserem Lande alljährlich unsere Kenntnisse der hiesigen Orthographie. Das heißt: wir setzen uns feierlich vor den Fernsehkasten und beteiligen uns am Nationalen Orthographiekundewettbewerb. Wie früher in der Schule lassen wir uns treffen von einem äußerst schwierigen Diktat. Ein Herr Lehrer (aus den Niederlanden) und eine Frau Lehrerin (aus Flandern) sagen laut und deutlich die Übersetzung des Satzes: “Wir haben es schließlich vergessen”. Und wir, die das Gehorchen noch immer nicht verlernt haben, schreiben es in unsere Heften: wir haben es schlieslich vergessen. Später bekommen wir eine mündliche Ohrfeige, weil wir das Wort “schließlich” fälschlicherweise falsch geschrieben haben. Die Orthographieschreibreform ist an uns vorbeigezogen.

Das nationale Niederländischdiktat wird jedes Jahr von einem anderen, angesehenen Autor(in) geschrieben. Jeder versucht, beim benutzen der schwierigsten Wörter, eine sinnvolle Kurzgeschichte zu verfassen. Hundert Versuchspersonen (im Studio) und Hunderttausende (im Lande) - alle vertraut mit den Regeln der Orthographieschreiberei und allesamt Sprachliebhaber - tun ihr bestes. Im Durchschnitt machen die Teilnehmer im Studio etwa 32 Fehler. Das mag ihnen sehr viel erscheinen, aber auch nach 25 Jahren ist dieser Wert nicht außergewöhnlich. Das Diktat ist in der Tat sehr schwer. Jedes Jahr das gleiche Übel.

Das für mich schwierigste Wort diesmal war das Adjektiv thymotisch. Nicht nur schwierig zu schreiben, aber auch schwierig zu verstehen. Ich, jedenfalls, kannte es nicht. Nachher erfuhr ich, das es von dem auch bei uns berühmt werdende deutschen Philosoph Peter Sloterdijk höchstpersönlich erfunden ist. Es scheint, es hat etwas mit Multikulturalität und Wut zu tun. Aber genaueres weiß man nicht.

Ein anderes, schwierig zu schreibendes Wort war kakophonisch. Die Bedeutung dieses Wortes war mir zwar bekannt, aber das hat mich nicht bewegen können es fehlerfrei zu schreiben.
Auf dem ersten Platz im Wettbewerb der schwierigsten Wörter aller Zeiten befindet sich unangefochten das Wort Przewalskipferd. Im Holländischen noch viel schwieriger als in Deutsch.

Um 22.00 Uhr kam dann der Juryvorsitzende – ein Ex-Kultusminister – um uns die Ergebnisse mitzuteilen. Der Sieger 2010 hieß Herr So-und-So mit Wohnsitz Leiden (Niederlande). Das letztere ist nicht unwichtig, weil meistens die niederländisch-sprachlichen Flamingen gewinnen. Der Sieger hatte nicht weniger als 9 (in Worten neun) Fehler. Aber auch nicht mehr.

Hier unten der erste Diktatsatz:

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Donnerstag, 9. Dezember 2010
Bagatelle LXXXIII - Schieflage


Zugegeben, das worüber diese Bagatelle handelt, kann man in der Tat nicht bagatellarisch nennen. Aber só wichtig ist alles auch wieder nicht, obwohl in meinem Land der Mann und die Frau in der Straße - ihrer pessimistischen Linie treu bleibend - ausriefen: wir haben wieder an Boden eingebüßt. Worauf die Bildungsministerin sofort Maßnahmen ankündigte. Gemeint ist die Position auf der Pisa-Skala.

In einem internationalen Vergleich werden die Leistungen in Lesen, Mathematik und Naturwissenschaften der 15jährigen Schüler aus vielen Ländern mit einander verglichen. Wer schneidet am besten ab? Welches Land kann sich berühmen über das beste Bildungs- und Unterrichtssystem verfügen zu können? Wo wohnen die besten Lehrer? Wo und was lernen die Schüler wo und was die Lehrer ihnen versuchen zu lehren? Wo auf dieser Welt wird überhaupt noch etwas gelernt in der Schule? Gibt es noch Länder, wo die Schule versucht ihren Schülern außer soziales lernen, Gemüse-Anbau-Projekte, eine Apfeltorte backen, Internet besuchen, auch noch Lesen, Schreiben und Mathematik beizubringen?



Ich zeige ihnen die Top-15 für den Lesebereich. Aus früheren Jahren weiß ich einiges über die Art und Weise wie man die Lesefähigkeit der Schüler messen kann. Und wie das in den Pisa-Projekten geschieht. Ich weiß deshalb auch, daß man in den Pisa-Studien nur diejenigen Leseaspekte berücksichtigt, die man (schriftlich) messen kann. Viele wichtige Teilbereiche des Lesens (im allgemeinen für die verbale Intelligenz) bleiben außen vor. Das gilt für alle Bereiche. Nur das meßbare zählt.
Ich weiß auch, daß die Umstände unter denen die Pisa-Tests stattfinden, manchmal sehr unterschiedlich sind. Die Lesedaten in meinem Lande sind ein wirklicher und getreuer Durchschnitt der Schüler. Die Daten aus China zum Beispiel – die Nummer Eins im Pisa Leseland! – scheinen aus einer selektiven Shanghai Stichprobe zu stammen.

Das wichtigste Argument gegen die unkritische Anbetung der Pisa-Daten ist das Fehlen einer Beziehung zwischen (unterschiedlichen) Bildungszielen und den hier vorliegenden Meßergebnissen. Nach meinem Verständnis ist die Schule weit mehr als eine Lehr- und Lernfabrik. (Bitte, verzeihen Sie mir die unzutreffende Übertreibung.) Wenn die Schule erreicht daß Kinder zum Beispiel lernen was es denn heißt sozial und respektvoll mit anderen umzugehen (wir nehmen an daß dies eins der wichtigen Ziele der Schule ist), dann sind Pisa-Daten völlig ungeeignet über den Erfolg oder Mißerfolg des Lehrens und Lernens etwas vernünftiges auszusagen. Wenn es aber ein überragendes Ziel der Schule ist, dafür zu sorgen daß die Schüler sich auf dem Gebiete des Lesens und Schreibens, der Mathematik und der Naturwissenschaften behaupten können im internationalen Vergleich, dann sind die Pisa-Daten hilfreich und interessant, aber auch nicht mehr als das.

Was können wir – mit allen Vorbehalten – dennoch aus den Pisa-Daten lernen?
(1) Seit eh und je ist Finnland das beste europäische land.
(2) Die Ost-asiatischen Länder spielen eine Hauptrolle. Aber Sie wollen ihr Kind bitte doch nicht dem japanischen Bildungssystem anvertrauen?
(3) Mein Land (Niederlande) schneidet relativ gut ab. Aber der Trend ist leicht zurückgehend. Machen Sie sich sorgen, Frau Ministerin? Ich nicht. Nicht über diese Daten; wohl über andere Entwicklungen in Bildung und Unterricht.
(4) Deutschland oder Holland auf einen Platz im Top5 bringen wollen? Das hieße: den Pisa-Dom gerade biegen wollen.

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Sonntag, 13. September 2009
Bagatelle XV - Doktor im Angebot
Die Sache ist, dass es wieder saure-Gurkenzeit ist. Es ist Urlaub und die wenigen Journalisten die noch da sind, auf der dortigen Redaktion meine ich, bemühen sich schwer um die Seiten ihres Barmherzigerode Tagesanzeigers oder wie die Zeitung auch heißen mag, zu füllen. Denn Zeitungen wollen mit aller Gewalt voll und gefüllt sein: mit Anzeigen, mit Geschichten, mit Klatsch und Tratsch, mit gefundenem Fressen, oder mit was weiß ich. Als einmal Die Bocholter Mittagspost Mitte August 1985 eines Tages erschien mit einer Seite 8 (Auslandsberichte) die völlig leer und glänzend weiß blieb, (es geschah an diesem Tage im gesamten Ausland nichts bedeutsames,) war die Welt zu klein. Die komplette Bocholter Leserschaft forderte sofort den Rücktritt der gesamten Aus- und Inlandsredaktion. (Man bezahle nicht für unbeschriebene Blätter, hieß es.)

Hier bei uns werden dieser Tage hunderte von Spalten vollgeschrieben mit Berichten aus Deutschland über gekaufte Doktoren. Die Rede ist von einer geheimnisvollen Instanz welche jahrelang mit ebenso geheimnisvollen Anzeigen warb, worin man einen Doktortitel anbot, der für einen Apfel und ein Ei zu bekommen sei. Kaufen! Einen Doktortitel kaufen! Man stelle sich vor! Statt jahrelanger, mühevoller wissenschaftlicher Arbeit in kleinen, dunklen Universitätskammern jetzt die Übergabe von 3456,78 Euro und schon hat man die Urkunde, das Doktordiplom, inklusive aller benötigter Unterschriften ins Haus. Die Mafia (oder ist es Maffia?) scheint eingedrungen zu sein in die einst so unabhängige deutsche Wissenschaft, wie soll ich mir das vorstellen?

Die Sache ist, dass ein Doktortitel Ansehen, Ruhm und Ehre verschafft. Und warum eigentlich? Ist ein Herr Doktor es wert dass man ihn auf der Straße mit mehr Ehrfurcht grüßt als andere Menschen die still und schweigend ihre tägliche Arbeit nachgehen? Ist die Frau Doktor Greifvogel attraktiver als Frau Brennholz nebenan, deren Gatte zufälligerweise keinen Doktor gemacht hat und der trotzdem bei der freiwilligen Feuerwehr ausgezeichnete Arbeit leistet? Ist der Herr Dr. Dr. Dr. Flensburg qua Charakter ein besserer Mensch als Herr Karl-Friedrich Ohnetitel?

Und Sie? Ja, Sie selber? werden Sie fragen. Wieso bilden Sie sich ein über eine Sache ein Urteil fällen zu können die ihr Vorstellungsvermögen total übersteigt? Nun, sage ich dazu bescheiden, ich weiß bescheid. Ich bin nämlich selber einer von denen. Aber meinen Doktor (keinen Deutschen übrigens) habe ich mir mit viel Schweiß, Blut und Tränen (das hat es mir gekostet, sonst kein Euro) irgendwo im fremden Ausland redlich verdient. Meinen ziemlich freundlichen Charakter hat er hoffentlich nicht verdorben, dieser unkäufliche Doktor.

Auf dem Bild sehen Sie einen Teil meines Arbeitszimmers. An der Wand hängen einige meine sauer verdienten Zeugnisse, u. a. mein Schwimmdiplom und daneben ein Beweis dass die Universität Nimwegen mir den Doktortitel in den Sozialwissenschaften erteilt hat (das übergroße Plakat).

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