Donnerstag, 20. Dezember 2012
Bagatelle 174 - Grün
Zufälligerweise - ach, was heißt hier denn 'zufällig', wenn Sie und ich wissen wie bedachtsam und bedacht der Zufall manchmal agiert - hörte ich kurz nach Mitternacht wie im WDR-3 ein Adventsfenster geöffnet und ein Weihnachtslied gesungen wurde. Es war das wohlbekannte und erhabene Lied 'O Tannenbaum'. Der Moderator erklärte, daß es - wie viele andere Kirchenlieder - ursprünglich ein ziemlich ordinäres Volkslied war. Der Tannenbaum wurde deshalb gepriesen, weil seine Nadeln das ganze Jahr hindurch grün gefärbt waren und er nicht dauernd seine Farbe wechselte. Sogar im Winter, wenn es zu schneien anfängt, höre die Tanne nicht auf zu 'grünen'. Diese Beharrlichkeit wurde - im Vergleich mit den launenhaften Tücken eines jungen Mädchens - gelobt. Nicht umsonst hieß es: wie grün sind deine Blätter. Daß die ursprüngliche Bedeutung verloren gegangen ist, und daß man später sang: wie schön sind deine Blätter, dafür kann die alte Tanne nichts.
Übrigens, die Farbe 'grün' spielt in mehreren deutschen Volksliedern eine bedeutende Rolle. So wie bei Schuberts unendlich Schönen Müllerin, wo der Liebhaber und Dichter abwechselnd die Farbe grün als 'lieb' bezeichnet und dann wieder als 'häßlich' und gar 'böse'. Sei es drum.

Schon als sehr kleiner Junge kannte ich das Lied. Das heißt: die Melodie. Und wir, die wir aufwuchsen in einem kleinen Dorf wo die deutsch-holländische Grenze quer hindurch verlief, sangen bei diesen hochmusikalischen Tönen den folgenden Text den ich für Sie kaum zu übersetzen brauche, so vermute ich.

O Dinxperlo, o Dinxperlo, (Name des Dorfes)
wat heb i-j mooie straoten! (schöne Straßen)
En a-j dan deur den Hellweg gaot,
dan scheur i-j ow de boks an 't prikkeldraod! (zerreißen; Hose; Stacheldraht)
O Dinxperlo, o Dinxperlo,
wat heb i-j mooie straoten!




So ein Text haftet, kann ich Ihnen sagen. Den vergißt man nie. Und daß die Möglichkeit, daß man sich die Hose wegen des Stacheldrahtes zerriß, tatsächlich bestand, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Selber bin ich - in den ersten Jahren nach dem Krieg - wohl mal durch ein Loch im Stacheldrahtzaun gekrochen um unseren Verwandten drüben eine Tüte richtiger Bohnenkaffee zu besorgen.

Lang ist's her. Fast so lange her wie die Zeit wo ein gewisser Lehrer Zarnack 1820 das frohe Lied von der immer grünen Tanne dichtete. (Die Melodie ist noch viel älter.) Aber nicht so lange daß ich nicht allen Bagatell-leserinnen und -Leser eine gute, frohe Weihnacht wünschen könnte. Das tue ich gerne und von Herzen mit einem Bild worauf Sie, wenn Sie gut schauen, im Hintergrund unseren kleinen, immer grünenden, Tannenbaum sehen.


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Samstag, 8. Dezember 2012
Bagatelle 173 - Reptilienparade
Keiner von uns - der alte Leibnitz ausgenommen, der wußte ja alles wissensmögliche - ist zu alt um zu lernen. So habe ich erst vor kurzem erfahren und gelernt, daß Reptilien gerne ihre Runden drehen wie Sechstagerennfahrer und kaum bereit sind aus der Reihe zu tanzen. (Ich dachte: Reptilien seien pure Individualisten, aber dem ist offenbar nicht so.) Bestätigung bekam ich dann nach einigen Tagen.

Beim lesen eines ziemlich uninteressanten Buches über den ebenfalls ziemlich berühmt gebliebenen niederländischen Grafikers M.C. Escher (siehe auch Bagatelle 124) erinnerte ich mich daran, daß zum Gesamtwerk des besagten Maurits Escher eine Reptilienlithographie gehört. Und noch besser: auf meinem Dachboden, wußte ich plötzlich, hielt sich eine Reproduktion dieser Lithographie irgendwo verborgen. Worauf ich nach oben zog und zwischen allem Kunst und Krempel tatsächlich die Reptilienlithographie Eschers entdeckte. Ein Blatt in ausgezeichnetem Zustand. Und beim näheren Betrachten staunte ich nicht schlecht. Sehen Sie selbst.




Auf der Lithographie sieht man, wie sich die Reptilien, eins nach dem anderen, losreißen vom dem Papier das sie gefangen hält. In einer langen Reihe wandern sie, immer linksumdrehend wie genannten Sechtstagerennfahrer oder 400-Meterläufer in einem Athletikstadion, von einem Objekt zum anderen. Über Berg und Tal: ein brehmsches Tierkundebuch, ein dreieckiges Brettchen, eine vielflächige Kugel, ein kupfernes Gefäß mit Zigarren und Streichholzschachtel mit der schwedischen Aufschrift "Säkerhets Tandstickör" zurück zu dem Papier das sie liebevoll wie einen verlorenen Sohn empfängt. Worauf nach kurzer Zeit sich die Zeremonie wiederholt. Immer in Bewegung, immer linksum der Reihe nach: so, sagt Escher, ist halt der Lauf der Zeit.





Ich staunte aber noch schlechter als ich sah, daß ein anderes kleines, zierliches Reptil (Eidechse, Salamander?) versuchte in Eschers Lithographie hinein zu kriechen. Es tat große Mühe sich einen Platz in der Reihe zu erobern. Offenbar wollte es erfahren wie es ist Teil einer immer bewegenden Gemeinschaft zu sein. Für einmal oder für ewig: darüber war ich mit mir selber nicht einig. Aber sicher weiß ich daß die folgenden drei Möglichkeiten sich anboten.
(1) Ein Reptil aus der Reihe hält an, macht dadurch einen Platz in der Reihe frei und sagt: "Bitte schön!"
(2) Die Reptilien weigern sich den fremden Gast Eintritt zu verschaffen weil sie geschworen haben das niemals zu tun. Aus welchen Gründen auch immer.
(3) Die besuchende Eidechse wartet ruhig auf ihre Chance bis ein Reptil aus der Reihe fällt, nicht aufpaßt, und dadurch eine Lücke freigibt.

Wie die Sache ausläuft, kann ich Ihnen leider nicht sagen. Ich hätte es wohl tun können, aber bei jedem Escherkunstwerk muß etwas zum raten übrigbleiben.


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Freitag, 30. November 2012
Bagatelle 172 - Vorher, nachher
Die Situation ist uns allen bekannt: rechts steht der bekannte Sachverständige Dr. Dr. Klaus Kannstmichmal, anerkannter Uhrenkenner; daneben Frau Dr. Hannelore Kärstener, die das Programm für uns moderiert und die durch manchen pointierten Fachausdruck zeigt, daß sie dem eingeladenen Sachverständigen fachfräulich im nichts nachsteht. Ganz links Frau Vonderhandgewiesen geborene Schubert, die stolz und erwartungsvoll vieles Wissenswertes über das Objekt in der Mitte über sich ergehen läßt. Das Objekt selbst ist eine bieder anmutende Rokoko-Uhr und die Sendung heißt Kunst und Krempel.

Freilich, ich sehe wenig fern, aber solche Sendungen lasse ich mir nicht nehmen. Wie herrlich, dieser Gesichtsausdruck bei der Frau V. geborene S., wenn sie aus dem Munde des sachverständigen Doppeldoktoren erfährt, daß ihre Uhr um 1832 in Lours-sur-Seine zusammengebaut worden ist. Und daß das Blattgold auf der Pendelscheibe tatsächlich echt ist. Sie aber hat eigentlich nur diesen éinen Wunsch: zu wissen wieviel Euro die Uhr wert ist. Nach fünf Minuten und virtuell 1200 Euro reicher verläßt sie - die Uhr feste in den Armen geschlossen - glücklich die Fernsehbühne. Ihr folgt der Herr Augenstern aus Lauen an der Luhre der eine herrliche Spitzweg-Kopie mitgebracht hat und deshalb einen anderen Sachverständigen braucht. (Nebenbei: in der Bagatelle LVIII konnten Sie übrigens schon etwas mehr von der Spannung erfahren welche diese Sendungen umgeben.)

Bei uns heißt die Sendung Kunst & Kitsch. Aber wie sich die Bilder gleichen! Beim ersten Betrachten eines Ölgemäldes rät unser Sachkenner Hubert van Scheveningen immer eines: zuerst wird gesäubert! Er nimmt sich ein Wattenstäbchen, feuchtet es ein wenig in Alkohol an - wenn kein Alkohol da ist nimmt er seine eigene Spucke - und putzt sehr behutsam und vorsichtig über Firnis und Farbe, und wenn das Reinemachen sein Ende gefunden hat, strahlt uns das Bild im neuen Glanz entgegen!

Der Fall will, daß mein junger Bruder sich vor Jahren auf einer Auktion ein altes Gemälde schenkte. Für viel zu viel Geld, denn fast alles Materielle was ein richtiges Bild braucht, fehlte förmlich. Es gab keinen Rahmen und hier und da hatte sich auch schon die Farbe von der Leinwand gelöst. Dennoch zeigten viele Details eine Meisterhand. Sehen Sie selbst wie schön die Laube mit der Kletterrose gemalt worden ist. Wie fein das Mädchen dasitzt in der Abendsonne um ihre Arbeit (das Abziehen der Bohnen für die Abendmahlzeit) nachzugehen. Und wie selten gut getroffen ist der Hahn und seine Gefolgschaft! Nein, wir können uns gut vorstellen wie gerne mein Bruder das Bild haben wollte. So geht uns das eben auch. Hier unten sehen Sie das Bild in der Originalfassung. Über Herkunft und Zeit wußte man nichts. Es ist unsigniert, so daß mein Bruder seine Vermutung: das Bild sei englischer Herkunft, nicht beweisen konnte. Für eines brauchte man keinen Beweis: das Bild war total verschmutzt.



Da nahm ich mir die Worte des K&K-Sachverständigen zu Herzen. Ich bot meinem Bruder an das Bild zuerst gründlich zu reinigen. Aber wie und womit?
Manche schwören in solch einem Fall bei einem ungekochten aber geschälten und halbwegs durchgeschnittenen Kartoffel; andere bevorzugen am liebsten geknetetes und selbstgekautes Roggenbrot. Wieder andere verwenden 96%-Industriealkohol und einige Unverbesserlichen tun es mit ihrer Spucke oder was auch immer die Speicheldrüse hergibt. Weil ich gerne ein Gläschen trinke und mich daher mit der Ware auskenne fiel meine Wahl auf den Alkohol. Mit einem in Alkohol getränkten Wattenstäbchen wurde Zentimeter für Zentimeter gereinigt. Als diese Sisyphusarbeit getan war, bedeckte ich das Bild mit einer neuen, dünnen Firnisschicht. Das Resultat folgt auf dem Fuße. Die Bilder sind so naturgetreu möglich dargestellt; nichts ist wie wir es nennen 'gephotoshopt', künstlich verschönert also.



Ist 'nachher' besser als 'vorher'? Hat sich die Mühe gelohnt? Urteilen Sie selbst. Mein Bruder beurteilte die Reinigung als 'ziemlich zufriedenstellend, sei es daß die Atmosphäre ein wenig gelitten habe'. Er bedankte sich indem er mir das Bild schenkte. Jetzt hängt das Mädchen in der Rosenlaube, von Huhn und Hahn umgeben, in meinem Arbeitszimmer. Mit Freuden seh' ich es mir an, jeden Tag wohl ein Mal.

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Montag, 19. November 2012
Bagatelle 171 - Frans, Franzl, Francois
Genug Grund zur Freude: wir haben eine neue Regierung! Die Sozial-Demokraten und die Rechts-Liberalen, beide Gewinner der letzen Wahlen, haben sich zusammen getan und bilden jetzt so gut wie's geht ein neues Kabinett. Premier-Minister ist wie zuvor uns aller Mark Rutte1), Liberaler bis in den Fingerspitzen; Vize ist ein Neuling-im-Geschäft: der Herr Lodewijk (Ludwig) Ascher, ein Mann der Arbeiterpartei obwohl man es ihm nicht ansieht. Vor seiner Ernennung als Minister war er Senator in Amsterdam.

Auch haben wir einen neuen Außenminister. Doch, weil unser Land klein ist und zwangsweise viel Ausland besitzt, ist das eine wichtige Stelle. Unser neuer heißt mit Nachname Timmermans, was Sie unschwer etymologisch deuten werden als Sohn eines Zimmermannes (war nicht je ein Zimmermann Außenminister in Deutschland? Einer von der CSU?) und wenn er seine Sache ordentlich macht wird er wahrscheinlich zum Tischler- und später zu Drechselmeister befördert werden und somit zu Ehren kommen.
Von vorne heißt unser neuer Außen schlicht Frans. Sie würden ihn Franz heißen und vielleicht Franzl. In den Gefilden die Loire entlang würde man ihn mit François begrüßen.

Wie auch immer, Frans, Franz oder François, unser neuer Außenminister ist ein lupenreiner Europäer. Er war Euro-Parlementarier und reiste den ganzen Tag von Brüssel über Luxemburg nach Straßburg und vice versa.
Nein, unser neuer Außen wird noch von sich hören lassen.

Was sag' ich denn! Er hat sich schon geäußert! In seiner ersten Rede mahnte der neue Außenminister uns allen - vor allem an die Schüler in der Sekundarstufe wandte er sich - daß wir uns besser um das lernen einer zweiten Fremdsprache bemühen sollten. (In den Niederlanden gibt es neben den Pflichtsprachen im Sekundarbereich: Niederländisch und Englisch, eine oder zwei Wahlsprachen.) Seinem Vornamen wissend würde man glauben, daß das Französisch gemeint war. Der Herr Timmermans aber, so sagte er jedenfalls, sah wie schlecht es bei der niederländischen Jugend um die Deutschkenntnisse stehe und forderte sie darum vehement auf Deutsch zu lernen. Die Sprache des Nachbarn muß man schließlich können! Oder?

Wie recht hat der Mann! Ich kann ein Lied davon singen, wie alle Bagatellleserinnen und -Leser bereits wissen. Der Herr Minister vergaß aber zu sagen wie schwer die deutsche Sprache ist für Nicht-Deutsche!

Nehmen wir als Beispiel die Fälle. Nicht der Fall Timmermans an sich, nein ich meine die grammatikalen Fälle. Auch der Herr Außenminister Franzl Schreinerssohn kann mir nicht erklären warum und weshalb etwa nach diesen Präpositionen

durch, für, ohne um, entlang, bis, gegen, wider

immer der vierte Fall folgt, und niemals der dritte oder der zweite, geschweige denn der erste. So etwas muß in der Tat gelernt sein!

Fazit: der neue Außenminister der Niederlande hat recht. Natürlich ist es ratsam und äußerst wichtig die deutsche Sprache einigermaßen zu beherrschen, mündlich wie schriftlich. Die Schüler sollten sich Herrn Timmermans Worte zu Herzen nehmen und seinem Rat folgen. Anderseits müßte der Herr Minister mir beipflichten, wenn ich behaupte, daß, gerade in Zeiten ökonomischer und kultureller Krise, éine Deutschstunde pro Woche völlig ungeeignet ist die zahllosen Sprachschwierigkeiten zu meistern.


Anmerkungen:
(1) Ein Bild des alten und neuen Minister-Präsidenten Rutte sehen Sie in der Bagatelle 168 wo er den Tisch bewundert an dem ich meine Tafelreden einstudiere.
(2) Hier unten der Herr Außenminister Frans Timmermans. Er schaut nicht gerade selbstsicher in die Kamera, obwohl er sich Mühe gibt, aber er wird 's schon schaffen.

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Mittwoch, 7. November 2012
Bagatelle 170 - Hochachtungsvoll gezeichnet
Mein Vater war ein guter Zeichner, ein sehr guter sogar. Das sagte ein jeder der wohl einmal eine seiner Radierungen gesehen hatte. Das sagten auch die Abiturexaminatoren welche im Jahre 1920 - so lange ist's her - seine Radierung bei der Abschlußprüfung im Zeichnen mit einer Zehn (eine 10: die best denkbare Note) benoteten.
Das mag uns heute fremd und übertrieben vorkommen, aber es besteht immer die Möglichkeit zu einer erneuten Wertschätzung, denn mein Vaters Radierungen sind irgendwo in familiären Schränken aufbewahrt worden, so daß wir auch jetzt noch feststellen können, daß das Examenurteil der damaligen Sachverständigen auch heute noch zutrifft.

Also, mein Vater zeichnete, besser gesagt: er zeichnete nach. Fand er irgendwo ein passendes Bild (eine Photographie, so schrieb man das damals) dann wurde die abgebildete Person von ihm mit Bleistift, in schwarz und weiß mit allen dazwischen liegenden Grautönen (nach)gezeichnet und für die Ewigkeit aufgehoben. Die Abgebildeten (Politiker, Künstler, etc) waren Leute vor denen man aus Ehrfurcht den Hut zieht und die man hochachtungsvoll grüßt. Selbst hab' ich wenig Ahnung und noch weniger Verstand von diesen Sachen, aber mein Auge sagt mir daß es auf dieser Abbildungswelt schlechteres gibt. Manchmal posiert eine Person etwas steif und sichtlich ungemütlich, aber das ist nicht notwendigerweise die Schuld des Künstlers, vermag ich zu behaupten.

Genug der Geschichte, es ist Zeit für Beispiele. Aus der Reihe: niederländische Politiker zwischen zwei Weltkriegen, sehen wir hier unten den damaligen Premier-Minister Hendrik Colijn, ein lupenreiner Christ-Demokrat. Damals, um 1935, bestimmte er so gut er konnte und wollte die Geschicke des Staates.



Weiter blätternd in der Sammlung sehen wir dann einen gewissen Herrn Posthuma. An dieser Stelle zögerte mein Vater wenn er uns, den kleinen, die weiteren Hintergründe erzählte. Die Zeichnung stammte aus 1933, aber der Herr Posthuma war zehn Jahre später, unter der deutschen Besatzung, Landwirtschaftsminister, und wurde 1943 wegen seiner Kollaboration von der hiesigen Resistance liquidiert. Die Ironie will, daß er, wie es der Brauchtum forderte, trotzdem mit allen Ehren von der Nachbarschaft zu Grabe getragen wurde.



Sowohl die Kollaboration als die Liquidierung sind gewiß nicht zu verzeihende Tatsachen. Und mein Vater schämte sich förmlich daß er die Zeichnung noch immer aufbewahrt hatte.

Schließen wir ab mit etwas fröhlicherem. Sie zeigen eine andere Seite meines Vaters. Erstens war er manchmal sehr humorvoll und zweitens liebte er Kinder, wenn er auch zögerte es zuzugeben. Davon zeugen diese zwei Zeichnungen welche ich Ihnen hierbei ehrfurchtsvoll und mit aller Hochachtung vorlege.






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Mittwoch, 17. Oktober 2012
Bagatelle 169 - Lautlose Kunst
Anlaß
In der Tat, manchmal liest man etwas völlig unverständliches. So sitze ich eines Abends seelenruhig in meiner Leseecke, da fallen meine Augen auf den hier unten abgebildeten Text.
Also, hier steht meines Erachtens geschrieben: Man solle bitte schön warten mit dem umschlagen der Seite bis das Lied zu Ende gesungen ist. Oder irre ich mich?



Fragen über Fragen
- Ist das hier eine sanfte Bitte, eine gutgemeinte Aufforderung, ein guter Rat oder sogar ein schroffer Befehl?
- Welche Seite welches Buches ist hier gemeint? Und um welches Lied geht es?
- Vor allem: wieso darf ich selber nicht entscheiden wann und wo ich meine Buchseite umschlage? Wer würde etwas dagegen haben und wer würde es mir verbieten wollen? Ist nun auch der Rest meines freien Willens dahin? Flöten vielleicht?





Liedcontext
Oberhalb meines angesprochenen Satzes steht ein Liedtext. Und zwar ein berühmtes Lied. Nicht wegen seines läppischen Textes (vom Herrn Carl Lappe höchstpersönlich), sondern eher wegen seiner himmlischen Musik (von Franz Schubert). Oben die deutsche Urfassung und darunter die englische Übersetzung.




Lied und Gesang
Das Lied wird gesungen von Dietrich Fischer-Dieskau. Das weiß ich, weil es auf der Gegenüberseite geschrieben steht. Ich sehe auch sein Bild. Und wenn ich die dazugehörende alte Langspielplatte spiele, höre ich seine unverkennbare schöne Stimme. Mein Gott, wie sang dieser Mensch unmenschlich schön! Wenn Sie mich fragen sang er manchmal gar zú schön.
Dietrich Fischer-Dieskau starb in diesem Jahr, 2012. Auf dem Bild ist er um die vierzig. Die Aufnahme stammt aus 1967 und das Geburtsjahr Fischer-Dieskaus war 1925.

Liedtext und Buchtext
Das erste Rätsel ist gelöst. Wir kennen den Sänger und wir kennen das Lied. Die Seite (welche nicht umgeschlagen werden darf) des Buches enthält höchstwahrscheinlich den Liedtext. Der Sänger singt. Und wenn wir wollen, lesen wir in Deutsch oder in der englischen Übersetzung was es bedeutet was wir zu hören meinen. Welches Buch, so lautet dennoch die Frage, halte ich in meinen Händen?

Musik und andere Geräusche
Jeder Konzertbesucher kennt sie: die Keucher, die Hustenden, die Dame die das ganze Konzert hindurch mit ihrem Taschentuch fummelt so daß es ununterbrochen knistert. Der Nachbar dessen Nasenjucken sich gerade bei der leisesten Symphoniestelle (ppp!) aufmacht in einer Nieserei auszumünden. Die liebevollen Damen die nur aus Verlegenheit oder aus einer anderen unerklärlichen Grund meinen sich dann und wann die Kehle räuspern zu müssen. Die Besucher die viel Lärm um nichts machen weil sie unentwegt in ihren Programmheften hin und her blättern. Freunde, nicht diese Töne!

Programm und Programmheft
Das ist die Lösung! Wir sollen bitte schön nicht die Seite unseres Programmheftes umschlagen bevor das Lied zu Ende gesungen ist. Es gilt aber nicht uns die daheim lesen und zuhören, es gilt den Besuchern eines öffentlichen Konzertes, wobei Dietrich Fischer-Dieskau singt und der nicht weniger berühmte Begleiter Gerald Moore die Klaviertasten berührt. Er, der Bariton, singt Im Abendrot. Und er, der Pianist, begleitet so schön daß wir förmlich das Rot, das in der Wolke blinkt in unser stilles Fenster sinken sehen.

Schall und Platte
Es war am 20. Februar 1967 in der Londoner Royal Festival Hall wo das Konzert der beiden life aufgenommen wurde. Daher die Bitte an die Besucher das verbreiten von Nebengeräuschen so gut wie möglich zu unterlassen.
Jetzt hab' ich mir das Programmheft und die Schallplatte (richtiges, feines Vinyl) in die Hand genommen. Ich setze mich in meine Leseecke, lege die Schallplatte auf den Drehteller und schalte ein. Höre genauestens und vergnügungsvoll zu. Und warte bis das Lied vollendet ist, bis ich es wage die Seite des Heftes umzuschlagen. Denn ich möchte nicht stören.

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Montag, 8. Oktober 2012
Bagatelle 168 - Politisches Tafelinteresse
Seit nunmehr einem Jahr steht in unserem Wohnzimmer ein neuer Tisch. Nichts besonderes also, es sei denn, daß auch, wie wir selber, sehr hohe politische Hochwürdigkeitsträger diesen Tisch bewundern und lobpreisen.

Die Geschichte fängt vor etwa sechzig Jahren an, als mein Schwiegervater beschloß einen Baum der im Wege stand zu fällen und zu Möbelholz verarbeiten zu lassen. Es war ein besonderer Baum: eine Esche, und das ist, wie wir alle wissen, seit germanischer Zeit ein heiliger Baum. Die Sägerei hat ihn vorsichtig in acht bis zehn Zentimeter dicke Scheiben verarbeitet (Länge 4 Meter und etwa 40 Zentimeter breit). Diese Bretter lagen dann jahrelang in einer unserer Scheunen wo sie bis voriges Jahr so trockneten, daß weder Wetter- noch Temperaturänderung sie noch berührt.

Schon vor Jahren hatten wir den Plan einen Tischler zu bitten von diesem Eschenholz einen großen Tisch bauen zu lassen. So einer wo wir beide morgens, meine Frau und ich, beim Frühstück unsere breit ausgeschlagenen Zeitungen lesen könnten ohne uns beim anderen beklagen zu müssen über zu wenig Raum. Und so einer wo man an Sonn- und Festtagen mit mindestens acht Personen die Festmahlzeiten zu sich nehmen kann. Aber nur das Vorhaben blieb. Zu einer Verwirklichung war es nie gekommen.

Bis ein Freund meines jüngsten Sohnes vor einem Jahr von dem Vorhaben erfuhr und meldete daß er, begnadeter Freizeittischler und Schreinermeister, bereit war uns aus dem Eschenholz einen Tisch zu bauen.
Worauf wir mit Mühe und Not die schweren Bretter auf einem Transporter schafften und sie in die Werkstatt des Meisters brachten. Worauf der wiederum in zwei Monaten einen wunderbaren Tisch tischlerte. Sehen Sie selbst.



Später wurde der Tisch dann demontiert und mit dem selben Transporter wieder in unser Haus zurückbefördert, dort zurückmontiert und an seinem verordneten Platz gestellt und von allen Seiten aufs tiefste bewundert und gepriesen. Zuletzt trank der Tischlermeister zusammen mit meinem Sohn einen guten Kaffee. Achten Sie bitte genau auf das Gesicht des Meisters, rechts auf dem Bild.



Denn dasselbe Gesicht sehen Sie hier wieder. Er, links stehend, zeigt einigen sehr hochwürdigen Herren etwas sehr schönes: höchstwahrscheinlich unseren neuen Tisch. Es sind der niederländische Minister-Präsident Mark Rutte und rechts der Rector-Magnificus der Wageninger Universität. (Der Ort wo unser Amateur-Tischlermeister sonst sein Brot verdient.)
Auch die politischen Hochwürden staunen und bewundern die Art und Weise mit der die Arbeit vollendet worden ist. Ob der Tischlermeister auch ein Kabinett zusammen basteln kann? fragen sie sich.
Natürlich, sage ich darauf.

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Sonntag, 23. September 2012
Bagatelle 167 - Zufallsgeburtstag
Einige Male habe ich Ihnen hier von einem Phänomen erzählt, das ich mittlerweise zu verdrängen versuche, das mich aber immer wieder vor die Füße tritt. Ich meine die Geschichten und Zustände um die Synchronizität. Sie wissen, daß es sich hierbei handelt um das gleichzeitig auftreten zweier Ereignisse, beide in völlig verschiedenen Kontexten, die jedoch undank aller Unterschiede zusammen passen.

So dachte ich vorige Woche Donnerstagabend daran, es war der 20. September, daß ich um Gottes Willen nicht vergessen sollte den nächsten Morgen, den 21. also, meinen Sohn Michiel zu gratulieren zu seinem Geburtstag. (Darüber, über das Vergessen eines Geburtstages, kann ich mich eben in schwarz kleiden und drei Wochen trauern, so schlimm finde ich das.)

Wie vorgenommen, so getan. Am 21. September, morgens um zehn, setze ich mich hinter dem Monitor, gebe dem uralten Windows XP-Desktop Gelegenheit knurrend und quietschend zu starten, und da erscheinen schon die ersten vertrauten Bilder. Eines davon ist eine Werbung eines großen Internetkaufhauses, denn wie Sie wissen, erhalten Sie wenn Sie je einmal etwas unwichtiges gekauft haben, immer wieder gefragt und ungefragt Werbetexten ins Haus geliefert. Diesmal ist es eine Werbung für ein neues i-pad das man mit Rabatt kaufen kann. Und was sehe ich auf dem beigelieferten Bild wo das i-pad als Notizbuch verwendet wird? Sehen Sie selbst. (Korting = Rabatt; verjaardag = Geburtstag)





Die Internetfirma erinnert mich daran in ihrer i-padwerbung, daß ich heute bloß nicht vergessen soll Michiel zu seinem Geburtstag zu gratulieren! Wieso wissen die das? Wieso wissen die wie mein Sohn heißt? Wieso wissen die überhaupt daß ich Kinder habe? Wissen die Apple-leute denn alles über mich? Und woher weiß die Internetfirma, bei der ich einmal ein winziges kleines Buch gekauft habe, daß mein Sohn Geburtstag hat? Und gerade heute sind die so frei mich daran zu erinnern!

Entscheiden Sie selbst: Sein oder Nicht-Sein, Zufall oder Kein-Zufall?

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Samstag, 1. September 2012
Bagatelle 166 - Der Tod und das Mädchen
"Da haben Sie sich, lieber Terra, für eine neue Bagatelle ziemlich viel Zeit genommen," mögen einige meiner lieben Leserinnen oder Leser gedacht haben. Andere gehen in ihrem Ton vielleicht noch einen Schritt weiter: "Das wurde aber auch höchste Zeit, lieber Terracidus! Denn wir hatten uns schon so daran gewöhnt am Ende jeder Woche eine neue Bagatelle lesen zu können." Noch andere - mit denen ich mich am meisten verwandt fühle - werden gedacht haben: "Sicher, es ist schon so lange still um ihn herum. Aber wenn der Terra etwas zu berichten hat, wird er sich schon melden. Warten wir's ab."

Wer sagt denn, daß eine Bagatelle immer eine Spur von Ironie, Scharfsinn, Humor oder sogar Freude und Heiterkeit vermitteln soll? Die Bagatelle die ich Ihnen hierbei vorlege, handelt über Trauer. An wichtigen Lebensmomenten wird alles an bedachter Ironie, Scharfsinn oder humorvoller Heiterkeit völlig unwichtig. Wichtig ist nur die Wirklichkeit und die Wahrheit, die Liebe und das Leiden, die Trauer und die Freude, das Leben und der Tod.

Der Tod ist an allem schuld. Mitte Juli diesen Jahres kam er und holte mir meine große Liebe und meinen Kindern ihre Mutter. Obwohl wir nicht ganz unvorbereitet waren, kam er plötzlich und leise. Meine Frau litt seit 2003 an Lymphknotenkrebs - und zwar die nicht-aggressive Variante (Non-Hodgkin Lymphome) - welche man einigermaßen unter Kontrolle halten, aber nicht heilen kann. Nach etlichen Chemo-Therapien und Bestrahlungen war jetzt die Zeit gekommen, daß die Medizin mit leeren Händen stand. Und von dem Moment daß Madame Terra - wie ich sie in meinen Bagatelltexten liebevoll nannte - wußte daß sie am letzten Abschnitt ihres Leben angekommen war, ging alles sehr schnell.

Meine Frau starb dort wo sie geboren wurde und aufwuchs: in dem elterlichen Bauernhof. Nach unserer Heirat (die 43 Jahre dauerte) waren wir zwar für einige Jahre in eine andere Stadt gezogen, dann aber wieder nach dem Heimatort auf dem ostniederländischen Plattelande zurückgekehrt. Es war ihr Wunsch dort zu sterben wo sie fast ihr ganzes Leben verbrachte. Dort auch wurde sie nach ihrem Tode aufgebahrt. Sehr viele kamen um sich an diesem Ort von ihr zu verabschieden.
Der Gottesdienst der ihrer Bestattung vorherging, war eher ein Danksagung als eine Trauerfeier. So hatte sie das gewollt: einen Dankesgottesdienst für ihr Leben und so wurde das auch von den sehr vielen Anwesenden gesehen. Der Pfarrer dankte für dieses Leben das anderen so viel gutes hat zukommen lassen. Und der Frauenchor, dem die Frau Terra angehörte, sang ein trostreiches Frühlingslied von Robert Schumann.

Zu den Bagatellen hatte die Madame Terra ein besonderes Verhältnis. Sie war die erste und einzige die eine neue Bagatelle zuerst zu lesen bekam. Manchmal fand sie eine Behauptung unfreundlich oder übertrieben; manchmal lächelte sie beim Lesen der geschilderten oder bedachten Ungereimtheiten.

April 2011 saßen wir an einem Sonntagnachmittag zum Teetrinken draußen in der Frühjahrssonne. Auf dem ersten Bild hier unten sehen Sie meine Frau, seitlich von der niedrig stehenden Sonne beschienen, die ihr die Augen fast schließen läßt. Bescheiden wie sie ist, scheint sie den Fotografen zu bitten nicht zu viel Zeit an ihr zu verwenden. Sie lächelt dabei in derselben Weise wie sie über eine geglückte Bagatelle lächeln würde. Auf dem zweiten Bild liest sie beim allmorgendlichen Kaffeetrinken die neuesten Bagatellgeschichten aus der Tageszeitung.



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Sonntag, 24. Juni 2012
Bagatelle 165 - Einzeln oder doppelt
Natürlich wissen Sie noch aus der Schule daß das komische Zeichen > nichts wichtigeres bedeutet als: größer als. Wir schreiben 6.7 > 2.4, weil es klar ist daß die erste Zahl etwas größer ist als die zweite. (Man merkt es wenn man auf Staatsanleihen statt 2.4% nun 6.7% Zinsen zahlt, wie die Spanier es uns heute vormachen.)

Wie auch immer, einzeln oder doppelt, Unterschiede müssen sein. Es gibt double-blind research und früher das doppelte Lottchen wenn ich mich gut entsinne. Es gibt Einzelhaft und doppelten Whiskey. Es gibt einzelne Sünden und Sünder und Doppelfehler. Übrigens, Doppelfehler: die sollte man, jetzt wo Wimbledon vor der Tür steht, schnellstens und für immer ausrotten und verbieten. Im Tennis meine ich. In welcher Sportart sonst bekommt man zwei Gelegenheiten aufzuschlagen? Nicht beim Rugby und auch nicht im Wasserball.

Ein Fall für sich ist die einzeln/doppelt-Diskussion bei Blumen. Ich bin zwar und überhaupt kein Kenner, aber ein großer Liebhaber. Oft sind mir die Doppelblumigen (oder wie sie heißen) zu viel vom guten: diese unnötige und übertriebene Üppigkeit! Und sagt nicht das Sprichwort: nicht das Viele ist gut, sondern das Gute ist viel?

Nehmen wir die Klatschrose (oder den Klatschmohn) die jetzt in diesen Tagen überall rundum erscheint und uns sehr erfreut. Sehen Sie selber wie unendlich viel schöner die Einzelklatschrose ist als der doppelte Klatschmohn! Hier gilt: einzeln > doppelt. Da sind wir uns einig.







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Samstag, 16. Juni 2012
Bagatelle 164 - Geheimschrift
Wir lieben alle die Geheimniskrämerei, geben wir's doch zu. Das fing schon an in der Grundschule wo wir uns gegenseitig scheinbar unlesbare Briefe schrieben. Manchmal mit einer Tinte die erst nach einer Spezialbehandlung lesbar wurde, manchmal in einer Sprache welche für Nichteingeweihte völlig unverständlich war. Ein Brief zum Beispiel in lauter Zahlen und Ziffern, wobei man eine Art Geheimniskode brauchte um alles in leserlicher Sprache dekodieren zu können.



Was Sie hier oben sehen mag Ihnen vorkommen als sei es so eine Art Geheimschrift: Zahlen in einer ziemlich komischen Notenpartitur, mit Haken und Ösen so zu sehen. Der aus fünf Linien bestehende Notenbalken kommt uns bekannt vor, ebenso wie die Noten selber und die Maßeinteilung. Aber, bitte schön, was soll die Zahl 982 im ersten Takt? Wichtigtuerei, oder wie?

Nein, meine lieben unmusikalischen Bagatellenleserinnen und -Leser, das hier ist ein wunderbares, klangvolles musikalisches Meisterwerk. Es ist ein Rheinländer, und zwar der von Basel über Köln beziehungsweise Düsseldorf bis zu Kleve berühmte Brummbär Rheinländer. (Damit wird der unwiderlegbare Beweis geliefert daß im Rheinland von eh und je Braun- und Schwarzbären ihr Zuhause hatten.)



Das habe ich mir gedacht: jetzt fordern Sie von mir daß ich Ihnen die Lösung des Geheimkodes verrate. Ich werde mich aber hüten. Nur zwei kleine Hinweisen gebe ich Ihnen mit auf dem Weg zur endgültigen Aufklärung.

(1) In der Tat: es ist eine Art Notenschrift und zwar eine Griffschrift. Die Zahlen und Ziffern bei den Noten zeigen Ihnen welche Knöpfe Sie auf einem bestimmten Musikinstrument berühren sollen damit eine ordentliche rheinländische Melodie zu hören ist.
(2) Das Musikinstrument für das diese Griffschrift entworfen ist, sehen Sie hier unten. Die Finger beider Hände, sowohl die linke für die Begleitstimmen als die rechte für die Hauptmelodie, können, wenn Sie mögen, Knöpfe (ein Knopf oder auch einige zusammen) eindrücken und wieder loslassen. Ein Blasebalgen sorgt für die erforderliche Luftströmungen wie bei einer Mundharmonika. Die gewünschten Töne erreichen Sie, wenn Sie die den korrekten Knopf bei der angegebenen Ziffer erkennen und drücken. Man kann Ihnen nur raten: üben und nochmals üben! Und wenn die Übung eine Meisterin oder einen Meister aus Ihnen gemacht hat, wird das rheinische Gebromm des Bären unglaublich schön innerhalb ihren vier Wänden zu hören sein!



Nachklang: wie ich das alles weiß? Ich habe mir vor Jahren das Spielen auf solch einem Instrument versucht eigen zu machen. Das ist einigermaßen gelungen. Und wenn Sie einmal bei uns vorbeikommen, werde ich es Ihnen beweisen.

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Sonntag, 10. Juni 2012
Bagatelle 163 - Cello
Vieles sagen sie aus, die alten Schulzeugnisse die ich mir aufgehoben habe. Vieles, aber einiges sehr interessantes nicht. Das erzähl ich Ihnen hier. Die Geschichte spielt in meiner glücklichen Jugend. In der Zeit wo ich, sieben/acht Jahre alt, mit vollen Zügen die Kenntnisse aufsog die mir die Schule damals zu vermitteln versuchte.




Das Schulzeugnis der zweiten Klasse meiner Grundschule, das Sie hier sehen, bietet in der Tat vieles zum lesen und vieles um sich darüber im Nachhinein zu wundern. Dreimal im Jahr - im August, beim Anfang der Sommerferien; im Dezember, zu Weihnachten; und März/April, zu Ostern - bekamen wir von unseren Klassenlehrern und -Lehrerinnen ein Zeugnis mit nach Hause um den Eltern klar zu machen wie gut oder wie schlecht es um unseren Schulleistungen stehe. Links die Sachgebiete: Religionsunterricht, Lesen, Schreiben, Mathematik, Muttersprache (Niederländisch), Vaterlandsgeschichte, Geographie, Naturwissen, Musik (vor allem Singen), Zeichnen, Nützliche Handarbeiten (für die Mädchen) und Auswendig Lernen. Unter dem Strich die drei für meine Eltern wichtigsten Zeugnisdaten: das Benehmen (dem Lehrer gegenüber), der Fleiß, und schließlich die Sauberkeit. Für einige Fächer gab es nur in den höheren Klassen eine Benotung.
Übrigens lief/läuft diese Benotung bei uns von eins (1) = völlig ungenügend, über die fünf (5) = so zwischen ungenügend und genügend, zweifelhaft also, bis zu zehn (10) ausgezeichnet!
Ganz rechts von oben nach unten gab der Klassenlehrer am Ende der zweiten Klasse den Eltern das Fazit bekannt: Gaat over! und das heißt einfach aber schwerwiegend: der Schüler wird in die nächste Klasse versetzt!
Links unten sehen Sie die zierliche und dennoch kräftige Unterschriften meines Vaters, Terra Senior, der hiermit der Schule bekannt gab, daß er nicht weniger als drei Mal das Zeugnis gesehen und begutachtet hat (und sich vielleicht auf passende Maßnahmen besann, was bei meinem Vater niemals der Fall war. Warum auch.)
Rechts unter die Unterschrift des Klassenlehrers. In diesem Fall der Klassenlehrer. Es sind nämlich zwei.

Der erste Lehrer in der zweiten Klasse hieß Herr Bannink. Von ihm weiß ich nicht viel, aber einiges werde ich niemals vergessen. Wenn Sie mich abends bitte Ihnen am Sternenhimmel den Großen Bären zu zeigen, so kann ich das. Auch der Kleine Bär ist kein Problem. Das hat uns der Herr Lehrer Bannink beigebracht.
Im Laufe der zweiten Klasse kam plötzlich ein neuer Lehrer. Warum der Lehrer Bannink verschwunden ist, weiß ich bis heute nicht, aber eines Tages stand der Herr Lehrer Stockhuyzen vor uns. Mit vornamen J. F., vielleicht Johannes Franciscus, oder Jacob Fritz, wer weiß. Die Lehrer wurden damals nicht, wie heute wohl, bei ihren Vornamen angesprochen. Der Gedanke daran schon war äußerst gefährlich. Der Herr Lehrer J.F. Stockhuyzen (bitte nicht zu verwechseln mit Herr K. Stockhausen) übernahm also die Klasse. Und die achtunddreißig Zweitklässler staunten nicht wenig.

Sie staunten noch mehr als der Lehrer Stockhuyzen eines Tages mit einer ziemlich großen Geige vor die Klasse trat. Er sagte: es sei ein Cello. Dann schraubte er ein dünnes metallenes Stehbein in das Instrument, setzte sich auf einen Stuhl, nahm die Cello zwischen die Knie sodaß die nicht weglaufen konnte, nahm weiterhin einen Streichstock aus einem Koffer, legte die linke Hand auf die Saiten neben seinem Ohr und fing an mit dem Streichstock in der rechten Hand die Saiten zu berühren. Der Lehrer Stockhuyzen spielte. Er spielte Cello.

Ein vollkommen neues Gefühl kam über uns. Niemals hatten wir so etwas gehört, gewöhnt als wir waren an das was ein Posaunenchor oder etwas ähnliches unseren Ohren zu hören gab. Aber jetzt diese Töne! Manchmal ein wunderbares, hohes Singen; manchmal ein dunkles, dumpfes Brummen. Was auch der Herr Stockhuyzen gespielt haben mag, es war unbeschreiblich imponierend. Wir, die Kinder aus der zweiten Klasse, wußten schon, daß einige Lehrer aus höheren Klassen auf einer Geige herumfiedelten, aber wir hatten einen Lehrer der Cello spielte! Das war von keiner anderen Klasse zu überbieten.



Zu Ostern wurden wir alle versetzt. Nein nicht alle, ein paar Mitschüler mußten die Klasse wiederholen, sagten die Lehrer. Das konnte man auch den Zeugnissen entnehmen. Statt "Gaat over!" stand rechts geschrieben: "Bleibt sitzen!".
Wir dagegen gingen frisch und fröhlich in die nächste Klasse. Schade nur, daß unser Cellist Stockhuyzen in seiner zweiten Klasse blieb. Ich vermißte ihn sehr. Wegen seines Cellospiels.

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Montag, 4. Juni 2012
Bagatelle 162 - Ein Mantel aus Eisen
Heute eine Bagatellgeschichte zum lesen und zum vorlesen. Eine Geschichte für jeden, für jung und alt, für Leserinnen und Leser jeden Alters, von drei bis etwa drei-und-neunzig. Vor allem für die jüngsten unter uns.
Die Hauptperson in dieser Geschichte ist ein lieber russischer Bär. Die Geschichte ist in kurzen Sätzen geschrieben, der Autor hat sich extra bemüht, so gut wie möglich - mit hier und dort einigen zu verzeihenden Fehlern - in einfachen Worten, sodaß jedermann sie lesen kann. Und wenn nicht, ist meistens immer einer da der dir hilft beim lesen und verstehen.




das hier ist Bär
ein Braunbär aus Rußland
er heißt Bär und er ist Bär
von Haus aus und von Geburt an -
Bär ist nicht sein echter Name
aber er mag nicht
daß sein richtiger Name in der Zeitung steht
oder im internet

er hat uns seinen Rücken zugewandt
das kommt daher, daß er auch nicht mag
daß die Zeitungsleser sein Gesicht sehen
und jeder sagt: das ist Bär, den kennen wir -
aber wenn du ihn freundlich bittest
sich umzudrehen
tut er das




Bär ist Schumachermeister A D
A D heißt: Außer Dienst
Er schlägt mit einem Holzhammer
Holznägel in die Ledersohlen deiner Schuhe
Bär hat seinen Hammer verloren
darum ist er heute Außer Dienst
gestern ist es passiert
verloren
oder irgendwo liegen gelassen
das kann jedem wohl mal passieren

Bär sitzt voller Haare
wie alle anderen Bären auch
Haare von Kopf bis Fuß
Haare vom Scheitel bis zur Sohle
Haare von oben bis unten
überall Haare
nichts wie Haare

Bärs Haare sind wie ein Mantel
schön warm im Winter
schön kühl im Sommer -
Bär kann etwas
was andere Bären nicht können:
er kann seinen Mantel ausziehen
doch: seinen Haarmantel
Bärs Mantelbauch hat einen langen Reißverschluß
den öffnet er
wenn er abends ins Bett geht
seinen Haarmantel hängt er an den Garderobeständer
an den Mantelhaken

alte Menschen haben oft grauweiße Haare
alte Bären sonst auch
nur unser Bär nicht
dessen Haare bleiben braun
und werden sehr hart
hart wie Eisen
wie eiserne Nägel
seht nur




Bär hat seinen Mantel ausgezogen
der liegt flach auf dem Boden:
Außenseite oben, Innenseite unten
links kannst du sehen wo sein Kopf sitzt
und seine Vorderbeine -
Vorderpfoten, sagt Bär -
weiter nach hinten siehst du seine Hinterpfoten
und sein Schwänzchen
siehst du?

wißt ihr, was lästig ist? fragt Bär
mein Mantel wird sehr schwer
wegen dieser eisernen Nägelhaare
vielleicht wird es einmal besser
besser zu tragen, meint Bär
der Mantel ist eine Last

und morgen?
morgen geht Bär auf der Suche
geht sein Hämmerchen suchen
immer mit Mantel, niemals ohne
so sieht's aus




Nachsatz: dieses künstliche, künstlerische Nägelbärenfell hat der Autor für Sie entdeckt im Atelier von Fritz Russ irgendwo im österreichischen Kärntnen.

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Sonntag, 27. Mai 2012
Bagatelle 161 - Text und Bild
Heute ein kleiner Beitrag aus der Reihe Literarische Telepathie, oder wie es mein Bruder je formulierte: "Ein historisch-literarisches Unikat, unverständlich unbegreiflich, aber trotzdem historisch validiert," womit er eine Ereignis meinte, welches nach menschlichem Ermessen niemals stattgefunden haben könnte, aber das undank dessen in Wirklichkeit tatsächlich so passiert sei. Und zu mir fast immer den Satz hinzufügend: "Es geschieht so viel mehr zwischen Himmel und Erde, aber das wirst du, mit deinen nur auf Empirie gerichteten Augen, niemals sehen."

Es ist die Geschichte von Leo Tolstoi und Pasternak. (Nicht der Boris P., sondern der Illustrator M. Pasternak.) Wichtig ist zu wissen, daß im 19. Jahrhundert die Romane der europäischen Spitzenkategorie (die Schriftsteller meine ich) mit realistisch-expressionistischen Bildern illustriert wurden, weil sie dann, laut Meinung der Verleger, der Leserschaft attraktiver und zugänglicher vorgestellt werden konnten. Tolstois Verleger hatte hierzu mit dem damals berühmten Illustrator M. Pasternak einen Kontrakt geschlossen. Anhand der Druckproben des neuen Romanes entwarf der Herr Pasternak attraktive Zeichnungen. Vor Erscheinen des Buches war der Illustrator laut kontraktueller Absprache verpflichtet die Bewilligung des Autors einzuholen. So auch geschehen mit Tolstois 1899 vollendeten Roman Auferstehung. Es war übrigens Tolstois letzter Roman.



Dies hier ist der schwer dekadente Prinz Nechljudow (Dimitri Iwanowitsch, genannt Mitja) eine der Hauptpersonen in Tolstois Roman. Tolstoi fragte den Illustrator Pasternak ob dieser den Prinzen N. gekannt habe. Er, Tolstoi, hätte den tatsächlich existierenden Prinzen N. als Vorbild genommen für seine Romanfigur. "Sie müssen ihn gekannt haben!", sagte Tolstoi zu Pasternak. "Sonst hätten Sie ihn nicht so nach dem Leben zeichnen können. Er ist es: kein Zweifel darüber."

Das ist es was mein Bruder in Erregung versetzte. Daß eine Zeichnung, die schließlich nur mit Hilfe der Texte eines Korrekturbogens zu Stande gekommen ist, so lebensecht sein kann. Da muß die Telepathie mitgespielt haben.

Daß die Geschichte sich wirklich so abgespielt hat, ergibt sich aus dem Anhang in der französischen Übersetzung. Hier unten zu lesen. Ohne telepatische Beigedanken.

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