Freitag, 20. Juli 2018
Bagatelle 318 - Hitze und Durst
Ganz Europa leidet jetzt unter der trocknenden Hitze. Und das schon so lange! Was schlimmer ist: das Ende, sagen die allwissenden Meteorologen, ist noch nicht in Sicht.


Wir denken schon an den heißen und dürren Sommer 1976. Sie wissen es vielleicht noch: Wochen lange konnten unsere beiden Söhne, damals noch jung und unbesorgt, unbekleidet rundum unseren Bauernhof umher laufen und spielen was das Zeug hielt. Und die Wetterfahne drehte sich erst als die Schulferien zu Ende waren.


Heute sieht’s ähnlich aus. Die Natur rings herum smachtet nach Wasser (so singt Haydns Jahreszeiten Tenor), die Wiesen verdürren zunehmend, der Mais versäumt zu wachsen, die Kartoffel- und Rübenernte droht zu misslingen, die Kühe kehren am liebsten zurück in den Schatten bringenden Stall, wo sie von ihren Landwirten mit Futter versorgt werden das eigentlich für den Winter gedacht war.


Aber es sind nicht alles Bekümmernisse und Qualen. Die Urlauber und Schwimmbadbetreiber freuen sich übers Wetter und Recht haben sie. Aber für uns zurückgebliebene Nicht-urlauber, die wir zu Hause vergebens eine kühles Plätzchen suchen, bleibt die Frage und Bitte: wie lange dauert das alles noch? Wir freuen uns schon auf den ersten Regentag der bestimmt kommt und hoffen zugleich dass es dann auch nicht wieder zu viel vom Guten ist.


Bis es so weit ist, müssen wir uns mit Worten und gutem Rat helfen. Wir können uns natürlich zurückziehen in die nahe gelegenen schattigen Laubwälder. Wir können auch, was ich uns raten würde, uns hinsetzen und eine verkühlende Bagatelle schreiben. Zusammen mit Bildern von Wasserfluten Babylons welche von Wasserkanonen abgefeuert werden. Wir schauen so lange hin bis wir uns verkühlt haben.



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Dienstag, 26. Juni 2018
Bagatelle 317 - Hochspannung
Günther, der Vorarbeiter, auch wohl neudeutsch Boss genannt, bittet seinen Kollegen Hans in den Hochspannungsmast in Anbau zu klettern um dort oben notwendige Arbeiten zu verrichten. So soll er dort oben die Daumenschrauben anziehen und mittels einigen Blätter Sandpapier einige jetzt schon sichtbaren Rostfleckchen entfernen. Sein Kollege und Kumpel Bernd wird ihm dabei begleitend unterstützen.

Beide Männer setzen ihre Sicherheitshelme gerade, gürten sich den Sicherheitsgurt um und schnallen sich mit der Sicherheitsleine fest. Nein, Sicherheit geht vor allem.
Dann klettern sie hinauf und auf vierzig Meter Höhe entspinnt sich der folgende Dialog.


Hans: "Bernd, bring mir bitte mal deinen Kreuzschlitzschraubenzieher. Meinen hab‘ ich unten liegen lassen."

Bernd: "Wie oft soll ich es dir sagen: denk an dein wichtigstes Instrumentarium; vergiss es nicht! Die Wasserpumpenzange hast sicherlich auch vergessen! Das sieht dir ähnlich!"

Hans: "Das musst du mir sagen! Du bist selber zu blöd daran zu denken! Mach mal tüchtig voran mit deiner scheisse Schleiferei. Ich möchte heute früh nach Hause."

Bernd: "Man hat dich wohl befohlen auf dem Heimweg zuerst bei der Lidl Einkäufe zu machen? Erdnüsse und Spaghetti vielleicht?"

Hans: "Heut Abend auf der WM spielt die Mannschaft wieder. Diesmal gegen Albanien, glaub ich. Oder gegen die Shetland Insel, aber auch da bin ich mir nicht sicher. Jedenfalls will ich die Fahne draußen aufhängen. Nein, ich möchte das Spiel nicht verpassen, wir heben keine Zeit zu verlieren. Mach mal voran mit deinem Schleifgetue."

Bernd: "Da geb ich dir recht. Nichts schöneres als so ein Tor in der vierten Spielminute der Nachspielzeit! Mensch, was haben wir uns gefreut! Jetzt also gegen Albanien. Und dann schließlich am Schluss die Finale gegen die Holländer. Ich freue mich schon im Voraus!
Doch, wir werden Flagge zeigen. Wenn nichts anderes vorhanden: wo nötig nehmen wir die alte Kriegsfahne! Doch, das wird schon klappen!"




Dieser Dialog wurde von mir gehört, gesehen, ausgezeichnet aufgezeichnet, notiert und interpretiert. Zu Isselburg (NRW) bei der Hochspannungsleitung i. A. (im Anbau) am 27. Juni 2018 gegen 16.30 Uhr.


Nachschrift: Einen Tag später schied die Mannschaft in der Vorrunde ruhmlos aus. Das hat man davon.








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Montag, 28. Mai 2018
Bagatelle 316 - Wasserohr (mit nur éinem r)
Als kleiner, fünfjähriger Junge wird man (ich jedenfalls) oft mit Ausdrücken und Wörtern konfrontiert deren Bedeutung ganz und gar unklar bleibt. Entweder weil man (der erwachsene Sprecher) nicht so freundlich ist sie dir zu erklären, oder weil man selber so dumm und ungeschickt ist das nicht zu fragen. Folge: bis Lebensende läuft man mit Gefühlen von Bedauern, Verdruss, Leid und Ärger umher. Manchmal erwacht man (ich jedenfalls wiederum) mitten in der Nacht weil einem die Frage quält: was, um Himmelwillen, ist ein PLARK?

Wasserohr (mit éinem r) ist auch solch ein Fall. Das kommt so:
Mein Vater hatte seit Lebens immer Schwierigkeiten mit den Beinen. Sie taten ihm weh und er mochte auch nicht gerne über die Straße gehen. Nachts konnte er oft nicht schlafen und der befreundete Arzt sagte dass es eine Form von Thrombose sei. Was das Problem jedoch auch nicht löste. Bis ein ebenfalls befreundeter Bekannter eines Tages zu ihm sagte: Es ist ein Wasserohr, dás ist es! Ehrlich, ich stand daneben und hörte es ihm sagen, aber mir fehlte der Mut um zu fragen: was, bitte schön, ist ein Wasserohr? Weil niemand antwortete fuhr der Bekannte weiter: Weißt du, was hilft? Ich weiß es. Es ist ein Kästchen, eine Art pappkartonfarbige geschossene Kiste, welches du unter deinem Bett schiebst. Du wirst sehen: nach einigen Wochen ist das Problem aufgehoben und sind die Qualen und Schmerzen vorbei.

So gesagt, so überlegt, so getan. "Hilft’s nicht," sagte der Vater, "schaden tut’s auch nicht. Wir probieren ’s mal aus." Ein geheimnisvolles Kistchen kam unters eheliche Bett. Nach vier Wochen in denen die Schmerzen keineswegs minderten, nahm mein Vater das Kistchen, brachte es dem Bekannten zurück. "Erzähl mir bitte keine Märchen. Das Ding ist zu nichts Gute imstande."

Viel später, nach vielen Jahren, habe ich endlich zwei Sachen entdeckt. Erstens die Bedeutung des rätselhaftes Wortes. Jemand erläuterte mir: gemeint wird nicht ein Ohr (zum Hören also) voller Wasser (oder so etwas), sondern eine Wasserader. Ein Wasserstrom, ein Bach, ein Fluss, so etwas. Ader wie Blutader. In diesem Fall mit Wasser gefüllt. Es gäbe tiefe, unterirdische Wasserströme, umgeben von magnetischen Strahlungen welche manchmal an die Erdoberfläche auftauchen und dort ihren Einfluss ausüben. Zum Beispiel in der Form von Beinschmerzen.
Zweitens weiß ich nun auch warum der Schwiegervater, wenn auf dem Hof, irgendwo im Gemüsegarten zum Beispiel, eine neue Wasserpumpe geschlagen werden sollte, immer einen Wechselrutenläufer kommen ließ, der mit einem gebogenen Weidenzweig rund ums Haus lief um zu erfahren wo sich Wasser unter der Erde befindet, und wo nicht.

Doch, es gibt einiges auf der Erde was wir nicht verstehen. Obwohl uns die Bedeutung des Wortes endlich klar ist.


Nachschrift 1: In unserem Dialekt wird das niederländische Wort ader immer gesprochen und geschrieben als oor. (Auf Deutsch klingt das wie ohr).
Nachschrift 2: der Plark, von dem hier oben die Rede war, ist ein fürchterliches, niemals gesehenes, Ungeheuer, das sich im Wasser aufhält um Kinder davon abzuhalten zu nahe am Wasser zu kommen.
Nachschrift 3: Das pappkartonfarbiges Kistchen enthielt laut mehreren Aussagen nur eine Rolle Draht. Sonst nichts als Luft.


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Donnerstag, 10. Mai 2018
Bagatelle 315 - Montagmorgen Vers
Jede Religion braucht ihre Rituale; ohne die kommt man offenbar nicht aus. Ich meine nicht nur die offiziellen kirchlichen Rituale und Sakramente wie die Eucharistie oder die Taufe, entweder Kindes- oder Erwachsene, ich meine auch die weniger oder mehr christlichen häuslichen Gewohn- und Gepflogenheiten. Wie zum Beispiel die Tradition bei uns früher im Elternhaus um bei jeder Mahlzeit, welcher von allen Mitgliedern der Familie beigewohnt wurde, vor und nach dem Essen ein Gebet zu sprechen.

Das nun machte bei uns meistens der Vater. Der sprach ein selbst angefertigtes passendes kurzes (etwa eine halbe Minute dauerndes) Gebet das er schnell, halblaut und ziemlich unverständlich aussprach. Das war überhaupt nicht schlimm, denn wir übrige, Mutter und Geschwister, kannten das Gebet schon. Auch jetzt, nach so vielen Jahren, könnte ich Ihnen Teile meines Vaters Gebet laut aufsagen. Die Worte sind feste in meinem Gedächtnis verankert.

Wenn alle das Essen beendet hatten, satt waren und sogar méin Teller beinahe leer war, wurde gelesen aus dem Buch der Bücher, aus der Bibel. Wir hatten zwei davon: der Vater benutzte ein dünneres Exemplar (nur das Neue Testament) und las eine spannende Kurzgeschichte von Jesus der auf dem Wasser lief. Wenn die Mutter las, nahm sie vorzugsweise den alten, dicken Bibel und las mit ihrer sanften Stimme einen Psalm von David, zum Beispiel den 23. Psalm. Von dem Herrn der mein Hirte ist. (Siehe unten.) Ich schließe die Augen und höre gleichsam ihre Worte. Auch jetzt noch kenne ich den Wortlaut.

Manchmal, an Sonntagabenden nach dem Essen, fragte die Mama mich ob ich denn wohl den Vers für Morgen kannte. Sie meinte den Gesang Vers aus dem kirchlichen Liederbuch. Jede Woche ließ uns der gnädige Herr Dorfschullehrer einen Vers aus dem Liederbuch auswendig lernen. "Etwas auswendig lernen," sagte er munter, "sei nichts verkehrtes. Es schärft das Gedächtnis und hilft auch bei anderen Schularbeiten." Sagte er.

So kam es, dass ich, ein zehnjähriger Knabe aus der vierten Grundschulklasse, dazu dringend aufgefordert vom Lehrer, mit lauter Stimme, und weit weg von jedem Verständnis, monoton aber laut, Ihnen den folgenden Montagmorgen Vers anbiete, das, in einer selbstgemachten Übersetzung, da lautet:


Ruhet meine Seele, dein Gott ist König,
die ganze Welt ist Sein Gebiet;
Alles ändert sich wenn Er’s befiehlt,
aber selber ändert Er sich nicht.

Gesang 179 (Altes Liederbuch)

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Mittwoch, 25. April 2018
Bagatelle 314 - Anholter Bruchbuchen
Früher, ich meine jetzt die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, fuhr ich gerne mit dem Rad durch den Anholter Bruch. Ein Waldgebiet, das zwar in den Niederlanden liegt und deshalb für uns das "Anholtse Broek" ist, aber noch immer im Besitz des Fürsten zu Salm-Salm, dessen Sitz sich noch immer auf der Wasserburg zu Anholt befindet.

Wie damals ist heute während so einer Radtour immer die Kamera dabei. Vorigen Sommer, nach meiner Umsiedlung vom Bauernhof ins Dorf, machte ich wieder solch eine Tour durch den Anholter Bruch um nachzusehen wie alles sich geändert hat. War das übrigens so? Vergleichen Sie selbst.

Die schwarz/weiß Bilder stammen aus etwa 1965; die Farbbilder aus 2017. Sie sind an genau dergleichen Stelle gemacht worden. Nein, vieles hat sich nicht geändert: alles wunderschön wie immer.








Etwas weiter Richtung Grenze standen früher am Rande große Buchen. Wie Torwächter. Vom weiten sehe ich sie. Einige sind offensichtlich abgeholzt worden; die beiden Großen am sogenannten Schwarzen Bach begrüßen mich auf das herzlichste. Sie erkennen mich sofort wieder. So ist das mit Bäumen (insbesondere Buchen): sie vergessen nicht und nichts.




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Dienstag, 20. März 2018
Bagatelle 313 - Willem weiß wo Retto wohnt
höchste zeit für eine kindergeschichte, finden Sie nicht auch?
eine geschichte zum lesen, oder zum vorlesen
eine geschichte für jeden der das lesen liebt
auch für die allerjüngsten die gerade lesen können
und auch für die stock und steinalten die schwer lesen
für jedermann also.





das hier ist Willem
er sucht seinen freund Retto
Willem und Retto haben sich noch nie gesehen
man schreibt sich lange briefe
wer man ist, wo man wohnt, was man so tut
und was man später mal werden wird
besuch mich mal, schreibt Retto
ich lebe in westfalen
an einem see
in einem wald
in einem westfalener Waldsee



Willem macht sich auf die reise
mit seinem rucksack und seinem angel
sein fernglas ist auch dabei
auf die suche nach dem see
dem westfalener waldsee
gehe ostwärts, sagt Ignaz der Igel
und frag’ nach Makke der Maulwurf
der kennt die gegend
er kennt jedes tier, jeden fisch und jeden vogel
und jeden baum und jede pflanze
Makke weiß auch wohl wo Retto wohnt



Ich bin der Makke
offiziell Macke
Aber keiner sagt das zu mir
ich bin Makke der maulwurf
biologe, forscher, fremdenführer
und berater in sachen natur
mein pelz ist samt und weich
ich grabe gräben
ich schaufele sand zur seite
ich baue maulwurfshügel
manchmal maulwurfsberge
mit meinen breiten händen
ich kann gut riechen
ich kann gut fühlen
ich kann gut hören
ich kann nicht gut sehen
nicht schlimm
unter der erde ist es je immer dunkel

Willem trifft Makke
du bist Makke der fremdenführer sagt Willem
du weißt bescheid
du weißt auch wo Retto wohnt
sicher





Makke führt Willem an den see
den westfalener waldsee
hier irgendwo muß es sein
was steht auf dem schild?
Willem liest: OTTER
Makke sagt: du musst andersrum lesen
nicht von vorne, von hinten
von der anderen seite
die hinterseite
von hinten nach vorne
was steht hier?
Willem liest: RETTO

GEFUNDEN!

Hier also wohnt Retto der Otter
Willems schreibfreund
jetzt auch sein sprechfreund
auf wiedersehen Makke, sagt Willem
danke für deine hilfe
gerne, sagt Makke









Quelle: Wie ben jij? Leselernmethode: De Leessleutel, deel A, thema 3.
Original niederländischer Text: Heidi Smits; Zeichnungen: Erik van Schaaik.
Verlag: Malmberg, ꞌs-Hertogenbosch.

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Samstag, 3. März 2018
Bagatelle 312 - Falsche Töne - Teil II
Wie versprochen folgt jetzt der zweite Teil der Vocalise-Geschichte. Den ersten Teil konnten Sie vorige Woche lesen.


Wenn geredet wird – sei es in der örtlichen Presse, sei es unter Fachleuten - über Vocalise, dieses imposante, weltberühmte Männergesangsquartett, so dringt sich jetzt die Frage auf: wàs wird gesungen und vor allem wíe wird gesungen?

Nun, Vocalise hat ein weites und breites Repertoire. Man singt sowohl Madrigale aus der Bayerischen Renaissance als auch Chorwerke von Robert und Clara Schumann. (Und wenn es überhaupt nicht anders geht und Sie darauf beharren sogar Liebesliedchen von einem gewissen Johannes Brahms.)
Auch das moderne Quartettrepertoire wird nicht gescheut. So sang man neulich in Tübingen sowie in Launen an der Ruhre eine Komposition des ungarischen Minimalisten Sandor Höchstselten. Wobei aufgemerkt werden soll, dass der Bariton Evergrijs in nur 15 von den 385 Takten einen Laut von sich geben konnte. Eine Klage deswegen beim Komponisten wurde abgelehnt, weil alle Klagen laut Protokoll schriftlich und in Vielfalt angemeldet werden müssen.

Um Ihnen einen Eindruck zu vermitteln wie das Quartett singt, fehlt mir jede Superlative. Wundervoll, faszinierend, entzückend, meisterhaft: alles ist wahr und trotzdem ist es nicht genug. Schon wenn das Quartett beim Anfang des Konzertes das Podium betritt, der Herr Freiholz, der Begleiter also, seinen Klaviersessel auf die passende Höhe geschraubt hat, und die Partiturseitenumschlägerin Frau Antje ihren Platz eingenommen hat, steigt aus dem Saal ein gewisses Fluidum empor. Und wann der erste Tenor Kowalski seine herrliche Stimme erhebt, geht ein solches Zittern durch die Reihen das einem gleichsam das Atmen vergeht und dessen Intensität (das Zittern meine ich) während des Konzertes nur noch wächst. Ich sollte lieber nicht versuchen diese Erfahrungen in Worten auszudrücken, denn es ist unbeschreiblich.

Zur Illustration ein Beispiel. Unlängst trat das Quartett – anlässlich der 400 Jahre Erinnerung an die Drohung das Belfort könnte einstürzen - in Leuven (B) auf. Der Saal war proppenvoll. Viele Besucher gerieten während des Konzertes so von ihren Gefühlen und Emotionen überwältigt, dass sie von liebevollen Rote Kreuz Helfern behandelt werden mussten. Es wurde auch erzählt, dass eine Generalswitwe aus der dritten Reihe so in Ekstase geriet, dass sie von einem spontanen Orgasmus befallen wurde. (Letzteres habe ich nur von Hörensagen.) Wenn ich wollte könnte ich zahllose andere Beispiele nennen.

Um mich über den wirklichen Zustand des Quartetts zu erkundigen, hatte ich beim Impresario von Vocalise, der Wiener Taschenfüller Berthold Schikaneder, um ein Interview gebeten. Darauf wurde ich in die Vocalise-Residenz in Luzern eingeladen. Ich werde Ihnen genauestens den Ablauf der Ereignisse schildern.

Sofort beim Eintreten in die geräumige Villa spürte ich eine bedrückte Stimmung. Der Begleiter Freiholz, der sich auch jetzt wieder zu Unrecht als Sprechrohr des Quartetts aufwarf, sagte dass etwas mit der physischen Verfassung des ersten Tenors nicht in Ordnung sei. Weil ich mich in derartigen Sachen auskenne, sagte er, bat er mich mich um die Sache zu kümmern.
Man begleitete mir in ein separates Zimmer wo der Tenor Kowalski sich aufhielt. Der war sichtlich ermuntert als er mich sah. "Boris“," sprach ich, "Würden Sie bitte schön so freundlich sein und ihren Mund öffnen?" Der Kowalski öffnete dann sein berühmtes Sprachorgan von woraus sonst die herrlichsten Klänge hervortraten. Ich legte mein elfenbeinernes Stäbchen - das ich immer bei mir trage – auf seine Zunge und sagte: "Boris, sagen Sie jetzt bitte ein A auf Russisch.". Ich brauchte seine Reaktion nicht einmal abzuwarten, denn schon wusste ich die Ursache. Meine Diagnose kannte keinen Zweifel: der Boris Kowalski hatte endlich nach 43 Jahren seinen Stimmwechsel. Oder wie wir sagen: er hatte jetzt einen Bart in seiner Kehle.

Post Scriptum:

Der Herr Franz Keine-Ahnung, ehemaliger Musikrezenzent bei den Launischen Ruhrnachrichten, hat mich, aufmerksam wie er ist, gebeten zu melden, dass in der Partitur der Toffe Jungens Laudatio (Siehe Teil I) zu Unrecht die Bezeichnung ff (Fortissimo) fehlt.

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Dienstag, 27. Februar 2018
Bagatelle 311 - Falsche Töne, Teil I
Heute der erste Teil, in einer Woche der abschließende und alles erklärende zweite Teil. Ein Bericht aus erster Hand. Auf den ersten Blick ziemlich unwahrscheinlich, aber dennoch bis auf das Letzte passend informativ. Eine Geschichte für klassisch-musikalische Kenner und Liebhaber.


Aus der gesamten West-europäischen Musikwelt hört man sonderbare Berichte über Vocalise. Sie wissen was ich meine: doch, es handelt sich über das weltberühmte Mannergesangsquartett. Bevor ich Ihnen das Wesentliche der ganzen Geschichte – ich war immer dabei und bin vollends auf der Höhe – erzähle, stelle ich Ihnen noch einmal die Mitglieder des Ensembles vor.

• Was denn wäre Vocalise ohne seinen Ersten Tenor Boris Kowalski? Er besitzt eine meisterhafte, stentorartige Stimme, die mühelos auch die entfernsteten Ecken eines Konzertsaales erreicht. Lange bevor der kleine Oskar Mathzerath in der Blechtrommel versuchte mit seiner Stimme die Fensterscheiben zu brechen und die Gläser zu entsorgen, hatte der Boris dies schon längst bewiesen. Aber der Kowalski war und ist ein zu großer Künstler um darauf zu pochen. Boris kann nicht nur laut seine Stimme erheben, sein delikates Pianissimo zum Beispiel in Schuberts Ständchen ist von einer unwirklichen Schönheit. Wir alle kennen den merkwürdigen Sound der italienischen Kastraten. Kowalski übertrifft sie alle. Was seine Stimme an Höhe, Tiefgang, Reinheit und Schönheit beinhaltet, ist von nichts zu übertreffen. Es scheint als sei der Stimmbruch an ihm vorbeigegangen.

• Greg Stein (UK) ist der zweite Tenor. Er stammt aus der englische Sängertradition und hatte seine Ausbildung an der School-of-Simple-Music in Orchestrashare. (An der E-345, bei Lofton gerade aus, dann zwei Mal links und Sie sind wo Sie hin wollten.) Greg singt wie es einem zweiten Tenor passt: er singt immer zu Diensten des Anderen. Zu Diensten des ersten Tenors und mehr noch zu Diensten des ganzen Quartetts. Merkwürdig scheint es uns, dass er seinen leichten Sprachfehler (er lispelt einigermaßen) vergisst beim Singen von englischen Madrigalen und sonstigen Schumann-Liedern.

• Der einzige Niederländer in der Runde ist der Bariton Harmen Evergrijs. Er wurde am Amsterdamer Konservatorium ausgebildet von der früher so berühmten Sopranin Annie Klopstock, welche ihn beschrieb als eine Mischung aus Kaufmann und Fischer-Dieskau. (Was uns überigens sehr übertrieben vorkommt.) Der Evergreis ist der versöhnende Faktor im Quartett. Er gleicht aufkommende und passierende Unbequemlichkeiten zwischen Mitgliedern aus. Durch sein taktvolles Benehmen ist gerade er der Gerufene für alle PR-Aktivitäten. Nebenbei vermerkt: er zweifelt immer noch ob er doch lieber Tenor als vielleicht besser Bass singen soll, aber das ist wohl die Qual aller Baritone.

• Schließlich der Bass Pjotr Levius. Bekannt und berühmt von wegen seiner immens tiefen Stimme. Weil dieser vehement weigerte seine Privacy umsonst her zu geben, begnügen wir uns mit der Mittelung dass er gerne mit alten russischen Volga-autos handelt. Das muss er natürlich selber wissen. Es wird uns nicht weiter stören.

• Als fünftes Rad am Wagen muss William Freiholz genannt werden, der ständige Begleiter der Vocalise-Quartettmänner. Auf seiner Steinway spielt er die meist fantastischen Vor- und Nachspiele. Aber auch seine innere Begleitung kann sich hören lassen. Schade allerdings dass er unseres Erachtens zu viel eine Rolle spielt als Sprecher und Vertreter. Eine Rolle die ihm als Begleiter nicht zusteht.

• Der Vollständigkeit wegen nennen wir auch noch Frau Antje Sorgenfalter. Sie hilft dem Pianisten Freiholz wenn der zuviel zu tun hat beim Begleiten indem sie für ihn die Partitur Seiten wenn es dann so weit ist umschlägt.

So weit, so gut. Zum krönenden Abschluss jetzt noch ein Bild des Pianisten Freiholz (fehlendes Copyright verhindert mir das Abbilden der Quartett Mitglieder). Als Zugabe eine Kopie der Toffe Jungens Laudatio, vom nord-dänischen Komponisten Alex von Fütters, das Vocalise gerne und vielmals singt.





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Sonntag, 28. Januar 2018
Bagatelle 310 - Höhere Mathematik
Neulich, beim Durchstöbern einer meiner Büchersammlungen, hielt ich vors erste Mal nach vielen Jahren wieder einmal ein altes Mathematikbuch in der Hand. Gleich kamen mir die alten Geschichten und Begebenheiten ins Gedächtnis. Was war der Fall?

Um 1975 etwa beschloss ich eine Studie der Psychologie anzufangen. Und zwar an der Uni zu Nimwegen. Man erlaubte mir Eintritt, obschon ich keinen Abschluss mit Abitur besaß, sondern schon ein Studium an einer Pädagogischen Hochschule erfolgreich abgeschlossen hatte. Nur die Fakultät der Sozialen Wissenschaften (Psychologie, Soziologie und Pädagogik) kam in Frage.



"Bedenk, bitte, welche Schwierigkeiten dir auf deinem Studienweg begegnen werden!" sagte man mir. Und zwar so oft und so dringend, dass es man es schon für wahr halten musste. "Weißt du, um nur éine Schwierigkeit zu nennen, dass das Fach Statistik als Form der Höheren Mathematik – innerhalb der Psychologie offenbar unentbehrlich - für viele Studenten ein echter Stolperstein bedeutet?" Das sagte auch ein freundlicher Professor während des ersten Hörkolleg dem ich zusammen mit 220 Studenten – Frau und Mann - beiwohnte. "Für Studenten mit einer unzureichender Mathematikvorbildung gibt es allerdings sogenannte Auffrischkurse" sagte er auch noch. "Das ist etwas für mich!" dachte ich.

"Was hast du überhaupt an Mathematik gelernt während deiner früheren Ausbildung?" fragte mich der Student-Assistent der von dem Mathematikprofessor beauftragt war für zwanzig Studenten einen Auffrischkurs zu organisieren. Munter antwortete ich dass ich ungefähr wusste was ꞌZerlegen in Faktorenꞌ heisse und was eine Gleichung sei. Ebenso munter erwiderte der Kursleiter dann: "Herr Terra, ich gebe Ihnen einen guten Rat: bitte, fangen Sie nicht mit diesem Studium an. Denn das wird nix. Ich bedauere das sehr, und ich teile Ihre Enttäuschung, aber so ist es halt eben."

Diesen Nachmittag, unterwegs nach Hause in meiner treuen Ente (ein Citroën 2CV wie Sie wissen,) überlegte ich was zu tun. "Das wäre doch gelacht," hielt ich mir selber vor, "wie viele Studenten gibt es nicht, die diese mathematischen Anforderungen ohne Schwierigkeit erfüllen? Warum sollte ich nicht einer derjenigen sein?" Das sagte ich auch meiner Frau, als ich zu Hause war. Aber das Unbehagen blieb.



Bitte, fragen Sie mich nicht wie ich in diesem ersten Universitätsjahr die statistischen Mathematikprüfungen bestanden habe. Sehen Sie nur auf die Blut- und Schweißflecken auf dem Teppichboden meines Arbeitszimmer. Aber das Schlussexamen Statistik nach einem Jahr Psychologiestudium bestand ich mit der Note: ꞌgenügendꞌ. Der Student-Assistent zugleich Auffrischkursleiter Mathematik war sehr erstaunt. Er gratulierte jedoch von Herzen.

Später habe ich die Angst vor der mathematischen Psychologie verloren. Im Gegenteil, ich bekam Freude daran. Nicht wegen der Zahlenspielerei oder um die Anwendung mathematischer Formel. Sondern wegen der Möglichkeit menschliches Verhalten kreativ zu analysieren. Denn, wie der Mathematikprofessor in seiner ersten Vorlesung in etwa sagte: es geht in der Psychologie um menschliches Verhalten, um Gefühle und Gedanken, nicht um Mathematik.

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Freitag, 19. Januar 2018
Bagatelle 309 - Nationalhymne
Dann und wann, ab und zu, aber unvermeidlich jedes so vielte Jahr, bricht in meinen Niederlanden eine Diskussion aus über die Meinung, dass es höchste Zeit für eine Erneuerung unserer alten Nationalhymne sei, vielleicht besser noch eine definitive und komplette Abschaffung und Ersetzung durch eine zeitgerechtes, modernes Nationallied. Wieso und weshalb?

Unsere Nationalhymne, (im Übrigen und nebenbei die älteste der Welt,) vor vierhundert Jahren gedichtet von einem gewissen Marnix von Sint Aldegonde, ist quasi ein Loblied auf Willem von Nassau, später Willem von Oranje-Nassau genannt. Dieser Willem, geboren 1533 auf der Dillenburg in Hessen, ist einer der Gründer der späteren Niederlande. Er war der Vertreter und Anführer der Holländer welche den Aufstand gegen den spanischen König Philipp probten. Was, wie wir heute wissen, nach 80 Jahren voller Kriege, mit dem Frieden von Münster 1648, wie auch der 30-Jährige Krieg, zu einem guten Ende kam.

Der Dichter erfand zu Ehren Willems ein Namensgedicht: sein Loblied umfasst gleich viel Strophen als Willems Namen Buchstaben hat, nämlich fünfzehn. Es entstand das Wilhelmus, seit eh und je unsere Nationalhymne, oder wie wir sagen und singen unser ꞌVolksꞌlied. Von den fünfzehn Strophen wird meistens nur die erste und selten auch noch die sechste gesungen. Die Melodie ist vielleicht noch älter als der Text: es ist ein uraltes volkstümliches Lied wovon die profanen Worte verloren gegangen sind. Anders als wie bei anderen Nationalhymnen, wie die Spanische, wird das Wilhelmus Lied, wenn es dann mal gespielt wird, im allgemeinen laut und deutlich mitgesungen. Jedenfalls von Leuten die den Text noch kennen.

Bis vor nicht allzu langer Zeit war es bei uns die Gewohnheit sogar ein profanes Hochzeitsfest mit dem Wilhelmus zu schließen. Wenn es abends zwölf hieß im Festsaal und die Musik den letzten Tanz beendete, blieben alle Anwesende auf der Tanzfläche stehen, wendeten sich noch einmal dem Brautpaar zu und als die Musik anfing die Nationalhymne zu spielen sangen all frisch und fröhlich mit. Auch die weniger Tanzlustigen erhoben sich von ihren Sitzen und taten ihr Bestes. Manche Leute waren um diese Uhrzeit nicht mehr im Stande richtig sauber und maßgerecht zu singen. Aber keiner meldete einiges Missfallen und alles im allen ging alles seinen ordentlichen Gang. Vor allem weil man wusste dass nach der Hymne die traditionelle Kaffee-mit-Brötchen Mahlzeit wartete.

Ich war selber nicht dabei, aber bei uns erzählt man heute noch die Geschichte von den Hochzeitsgästen die eine halbe Stunde vor Mitternacht an einem Hochzeitsfest beim Nachbarn eine Ziege aus dem Stall holten. Man wollte sie (die Ziege also) in orangenfarbigem Papier - orange ist die Nationalfarbe - einwickeln. Weil aber kein orange Papier vorhanden war, begnügte man sich mit kristallweißem Toilettenpapier. Beim Spielen der Nationalhymne um zwölf Uhr stellte man die Ziege mitten im Saal. Alle umringten die köstlich eingepackte Ziege und brüllten laut mit. Manche konnten vor Lachen gar nicht singen. Aber das schmälerte die feierliche Vorstellung keinesfalls.


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Mittwoch, 27. Dezember 2017
Bagatelle 308 - Terras Tierwelt
Hoffentlich haben Sie noch in Erinnerung dass ich Ihnen mal erzählt habe von meiner Pfauenfamilie. Es ist zwar kompliziert aber keine unmögliche Geschichte. Was ist geschehen?

Vor sechs Jahren war es, als auf einmal beim Bauernhof wo wir damals wohnten, ein Pfau angelaufen kam der mitteilte, dass er von Sinnen war zu bleiben. Als Andenken an eine berühmte niederländischen TV-Persönlichkeit gaben wir ihn den Namen Jeroen. (Der gute Fernsehmann heißt Jeroen Pauw, daher.)
Binnen kurzer Zeit war er gleichsam ein Mitglied der Familie. Er ließ sich nicht anfassen, aber er fraß mir die Brotstückchen aus der Hand.

Ein halbes Jahr ging vorbei, als wir beschlossen unserem Jeroen eine Gattin zu schenken. Mit einer Bekannten zog ich über die Landesgrenze nach Deutschland wo wir für zwanzig lumpige Euro eine weibliche Pfauensperson namens Jetta kauften. Nach zwei Tagen, wo die Jetta und der Jeroen getrennt lebend sich mit einander vertraut machen konnten, zogen die beiden zusammen durch die Lande. Sie wurden so eng befreundet dass ich eines Tages zufällig ein Pfauennest mit sechs Eiern entdeckte. Vier davon liess ich der Jetta, Groß war die Freude als eines Morgens die Jetta uns zwei Pfauenküken zeigte. (Die anderen zwei hatten es leider nicht zur Geburt geschafft.) Die beiden Kinder, beide Söhne, Zwillinge, tauften wir Sokke und Fucke.

Die zwei folgenden Jahre verliefen einigermaßen ruhig und gemütlich sei es dass die Mutter Jetta ein Unglück passierte: sie wurde auf dem Landweg von einem Laster überfahren. Worauf ich sie mit allen Ehren hinter dem Hof begrub. Die restlichen drei, Vater und Söhne, ließen sich die Tatsache merkwürdiger Weise kaum anmerken.

Da kam der Tag als ich den Hof verkaufte und in ein bequemeres Haus im Dorf umzog. Das Problem war nun: was zu tun mit der Pfauenfamilie? Glücklicherweise war die Nachbarsfrau so gut um die Sorge für die Pfauen auf sich zu nehmen. Fast jeden Tag besorgte sie nebst Gesellschaft Essen und Trinken.

Neulich aber, nun das Haus wieder bewohnt ist, kam die traurige Nachricht dass zuerst der Vater, Jeroen also, und nun auch einer der Söhne verschwunden sei. Die wahrscheinliche Ursache des Verschwindens wissen wir jetzt auch. Der neue Bewohner behauptet: er habe Reintje de Vos (für nicht wissende: Reinaert der Fuchs) gesehen. Ein schlauer Fuchs ist schuld. Wir wussten wohl das bei uns in der Gegend manchmal Füchse umher laufen. Aber jetzt geht es den Pfauen offenbar richtig an den Kragen. Vor einigen Wochen verschwand Jeroen. Und jetzt auch einer der Söhne. Sokke oder Fucke, das vermag ich nicht zu sagen. Traurig aber sind wir schon.

Bei den Bildern: 1) Jetta und die beiden Söhne, einige Tage alt; 2) Sokke und Fucke unterwegs.






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Donnerstag, 21. Dezember 2017
Bagatelle 307 - Sonntagschulweihnachtsbuch
Mit dem ersten Schnee, der übrigens dieses Jahr außerordentlich früh kam, kommen auch die Erinnerungen an früheren Weihnachtstagen. Besonders und voller Dankbarkeit denke ich dabei an die Weihnachtsfeier welche die örtliche Sonntagsschule hier im Dorf veranstaltete.

Doch, so war es. Wir gingen damals nicht nur von montags bis freitags in die dörfliche (Grund)schule, wir gingen auch sonntags. Wir saßen im selben Gebäude, in derselben Klasse, im selben Raum mit rings um uns her alle vertrauten Gesichter die wir sonst in der Woche auch sahen.
Der große aber wichtige Unterschied waren jedoch die Lehrerrinnen und Lehrer. Das Lehrpersonal sozusagen. In der Woche waren das Leute, manche liebevoll, einige weniger, die einen Beruf ausübten: das Lehramt. Am Sonntag dagegen waren es Laien welche uns Geschichten aus mehr oder weniger heiligen Büchern erzählten und fromme und fröhliche Lieder mit uns sangen. Es war die Bäckerstochter die uns von Josef erzählte der so schrecklich von seinen Brüdern behandelt wurde –während des Erzählens erschrak sie noch mehr als wir von den Missetaten der Brüder. Oder es war der Herr Lammers der sonst in einer Fabrik für eine pünktliche Handhabung der Buchhaltung sorgte, der uns von einem gewissen Daniel erzählte der unschuldig zwischen den Löwen landete. (Ich mochte die gruseligen Geschichten sehr, vor allem weil ich von vorne den guten Ablauf kannte: wir hatten in vorhergehenden Jahren alle Geschichten schon gehört.)

Ich schrieb: mit voller Dankbarkeit und dabei denke ich vor allem an die Buchbescherung an Weihnachten. Das ging so.
An einem normalen Tag in der Woche, etwa eine Woche bevor Heiligabend, versammelte sich die Sonntagsschulbelegschaft um 18.00 Uhr in der Dorfkirche. Der Küster hatte den ganzen Tag den Ofen geheizt, und weil die Kirche proppenvoll war (die Eltern waren auch eingeladen) war es meistens warm. Es wurde gesungen was das Zeug hielt: frohe Weihnachtslieder aus hellen Kinderstimmen füllten die kirchlichen Gewölbe und den Marktplatz rings herum der Kirche. Dann kam der oberste Sonntagsschullehrer aufs Podest der mit uns betete und das Weihnachtsevangelium aus der Kinderbibel vorlas. Viele Eltern merkten dann erst wie schön Geschichten geschrieben für Kinder sein können.
Nach einer Pause, worin aus von Hause mitgenommenen Bechern Chocoladenmilch getrunken wurde, kam der mehr heitere Teil des Abends. Die Gattin des obersten Sonntagschullehrers erzählte eine Weihnachtsgeschichte, eine Geschichte als wie im echten Leben. Es geschieht irgendwo ein schweres, fürchterliches Unglück aber am Ende kommt alles wieder gut.

Dann kam – für mich der absolute Höhepunkt, manchmal der Höhepunkt eines ganzen Sonntagschuljahres – der Augenblick wo der Sonntagsschullehrer, diesmal der Klassenlehrer, auf einen Stuhl stieg, die Namen der Kinder laut vorlas und jedem feierlich ein Geschenk überreichte. Ein echtes, richtiges Buch! Die jüngsten bekamen oft ein Bilderbuch; die älteren Kinder ein Buch zum Lesen, Überdenken und Genießen. Ein Buch nach meinem Herzen also.

In meiner Büchersammlung zuhause befindet sich eine Reihe solcher Sonntagschulweihnachtsbücher. Sehr gerne gehe ich an ihr vorbei, ab und zu ein Buch herausnehmend und lesend. Ich lese die Jahreszahl und den Namen des damaligen Sonntagsschullehrers der mir das Buch geschenkt hat. Ich wundere mich wie gut ich die Buchgeschichte noch kenne und wie schlecht ich weiß wie es der Klassenlehrerin vergangen ist. Von Frau Jo Dolfing weiß ich nicht ob sie noch lebt und ob sie sich noch an den früheren Weihnachtsfeiern erinnert. Sie schenkte mir im Jahre 1948, lang lang ist ꞌs her, das Buch: ꞌEin Weihnachtsurlaub in Zeelandꞌ. Ein Buch das von mir mit sehr gemischten Gefühlen empfangen wurde. Denn es war ziemlich dünn, hatte kaum sechzig Seiten, und war nie richtig spannend. Und was das allerschlimmste war: es war ein Mädchenbuch. Doch, das gab es damals noch: Mädchenbücher und Jungensbücher. Ins geheim habe ich das Buch trotzdem gelesen, aber bis heute keinem davon erzählt.



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Mittwoch, 20. Dezember 2017
Wunschdenken

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Sonntag, 12. November 2017
Bagatelle 306 - Unfall
Jede (r) die oder der meine Bagatellen dann und wann liest, kann wissen dass ich gerne grenzüberschreitend Rad fahre. Das heißt: ab und zu überquere ich die deutsch-niederländische Landesgrenze (nur einige Hundert Meter von meiner Wohnung entfernt) und genieße der westfälisch-niederrheinische Landschaft. Oft radele ich Richtung Emmerich, Rees oder Wesel und besuche den alten Vater Rhein bevor dieser das holländische Rheindelta erreicht.

Meistens verläuft alles nach Plan. So nicht am Donnerstag, dem 19. Oktober diesen Jahres. So gegen 17.00 Uhr, als ich mich die Kleinstadt Isselburg näherte, und gerade dort wo der Radweg aufhörte, passierte es. Was genau kann ich Ihnen leider nicht erzählen. Denn als ich erwachte – es war inzwischen Freitag der 20. Oktober um 9.00 Uhr morgens – wurde mir allmählich klar dass ich in ein Gelsenkirchener Krankenhaus gelandet war. Und zwar wörtlich: ein Trauma Helikopter kommend aus Rheine hatte mich dorthin in die Intensivstation gebracht.

Heute, den 12. November, bin ich wieder zu Hause. Unglaublich, aber wahr. Vom 1. November an war ich erst noch 10 Tage in einem niederländischen Revalidationskrankenhaus. Und vorgestern sagte mir dort die diensthabende Ärztin, dass meine Kinder mich abholen möchten, damit ich zu Hause weiter revalidieren kann.

Einiges sollte ich allerdings nicht versäumen: nämlich meine tiefe Hochachtung auszudrücken für die Verpflegung und Ärzteschaft in den deutschen und niederländischen Krankenhäusern. Die sich so vortrefflich um mich gekümmert haben, dass ich jetzt schon wieder eine Bagatelle schreiben kann.




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