Sonntag, 2. Oktober 2011
Bagatelle 126 - Musikalischer Grenzübergang
In einer früheren Bagatelle habe ich Ihnen wohl mal erzählt, daß ich mehr oder weniger in zwei Welten aufgewachsen bin. Geographisch meine ich. Bis auf den heutigen Tag verläuft die Staatsgrenze zwischen Deutschland und den Niederlanden quer durch das Dorf das mich hat aufwachsen sehen. Man kann ohne Mühe Untertan der Königin Beatrix sein und mit einem Bein (sagen wir das linke) auf ihrem Territorium stehen, während sich das andere rechte Bein freut im Lande Angela Merkels festen Boden unter den Fuß bekommen zu haben. Der Hellweg heißt die Straße welche offiziell die Grenze bildet. Der Weg selber ist niederländisches Staatsgebiet, der Bürgersteig nebenan ist Deutsch. Bei uns heißt die Straße Heelweg, aber er ist derselbe.

Jetzt sind die Grenzen offen. Und manchmal hat der Besucher Mühe herauszufinden ob er sich in Holland oder in Deutschland befindet. Man sieht es an den Bauweisen der Häuser, an den komischen Verkehrsschildern, und man hört es an den leicht verschiedenen Dialekten die dies und jenseits der Grenze gesprochen werden. Aber im großen und ganzen versteht man sich. Sehr gut sogar: deutsche Kinder gehen in den holländischen Kindergarten, der deutsche Notarztwagen bringt das niederländische Verkehrsopfer zügig in ein deutsches Krankenhaus, Deutsche kaufen ihre Pillen beim niederländischen Apotheker und der öffentliche Verkehr benimmt sich zweistaatlich: Busse fahren vom Zentrum der einen deutschen Stadt (Bocholt) ins niederländische Dorfszentrum. Und kein Passagier wird stehen gelassen, ungeachtet welcher Staatsangehörigkeit.

Nicht immer verlief alles so freundschaftlich und nachbarschaftlich. Es gab Zeiten wo ein Streifen Niemandsland und hohe Stacheldrahtzäune jeden grenzüberschreitenden Kontakt zu unterbinden versuchten. Zöllner wurden beauftragt zu verhindern daß deutsche und holländische Nachbarsfrauen sich trafen und Familiengeschichten austauschten. In Kriegsjahren, aber auch in den Jahren danach. Ein kleines Grenzlandmuseum in unserem Dorf erinnert daran. Mit Bildern, Gegenständen und Geschichten. Jeder der in einer Grenzgemeinde gewohnt hat, weiß es: wo es Stacheldraht und Zöllner gibt, gibt es auch Schmuggler und Schmuggelgeschichten. Auch davon kann das Grenzlandmuseum ein Lied singen.

Über Lieder und Musik gesprochen, eines der schönsten Schmuggelgeschichten ist die nachfolgende.
Sie wissen, daß die besten und schönsten Drehorgel aus den Niederlanden und Belgien stammen. Das sind überhaupt keine kleinen Leierkasten, aber vollwertige Musikinstrumente. Mit prächtig bewegenden Figuren die auf Trommeln und Glöcklein schlagen. Mit einer geheimnisvollen Mechanik, wobei die Musik aus gestanzten und gelöcherten Büchern irgendwo im Inneren des Wagens produziert wird. Wie? Das weiß kein Mensch. Wie oft habe ich als kleiner Junge nicht staunend zugesehen, wie der Drehorgelmann durchs Rad drehen (links und rechts abwechselnd, und im passendem Tempo) die schönsten Melodien hervorzauberte! Operetten, Schlager, den Radetzkymarsch, aber auch klassische Töne! Niemals wurde Nabuccos Sklavenchor besser vertont als von einer großen Drehorgel vor unserer Haustür! Verdi hätte sich mächtig gefreut! Und wie neidisch war ich auf die Drehorgelkinder die, von Haus zu Haus gehend, um eine kleine geldliche Gabe baten, damit sie auch heute Abend wieder etwas zum Essen kaufen konnten. Sie, die Kinder, konnten sich den ganzen Tag die schönsten Melodien anhören!

Herbst 1919, nach dem ersten Weltkrieg, kam mal wieder eine Amsterdammer Drehorgel in unser Dorf. Das passierte oft. So eine große Drehorgel kam per Zug, blieb eine Woche oder so, und reiste hier bei uns von Dorf zu Dorf in der Gegend umher.
Groß war die Aufregung als die Douaniers, die Kommiesen wie wir sagten, die Zöllner also, bemerkten daß das Innere der Drehorgel zu einer geheimen Verschlußsache umgebaut worden war. Wo nur möglich hatte man in der Orgel Kilos der besten Bohnenkaffee versteckt. Man fuhr mit der Orgel über den Hellweg, überquerte die Staatsgrenze und verkaufte den Kaffee für einen guten Preis drüben in Preußen. Das war der gewinnbringende Plan, der aber scheiterte.

Zu tiefer Trauer, nicht nur der Drehorgelfamilie, sondern auch der ganzen Hellwegbelegschaft, wurde sowohl Drehorgel als Kaffeeinhalt konfisziert und beschlagnahmt. Der oberste anwesende Zöllner aber hatte ein Einsehen. Er zeigte sein gutes Herz, indem er den Drehorgelmeister noch einmal ein prächtiges Musikwerk spielen ließ, wobei seine Ehefrau noch einmal mit der Mütze in der Hand den Umstehenden um eine kleine Gabe bat. Den Erlaß durften sie behalten. So hatten sie wenigstens diesen Abend einiges zum verzehren. Ich wette, daß sie sich auch noch einen Schnaps gegönnt haben. Guter holländischer Jenever.


Auf dem Bild sehen Sie Hellweganwohner die sich zusammen mit deutschen und holländischen Zöllnern - mehrere haben ihre Uniformmützen einigen Nachbarsfrauen ausgeliehen - vor der Orgel postiert haben.

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Samstag, 10. September 2011
Bagatelle 123 - 9/11/9
Heute ist Samstag, der 10. September. Morgen ist es also in kalten Zahlen ausgedrückt der 11.09.2011. Damals aber haben die aus Europa in das ferne Westen ausgewanderten Angelen und Sachsen die Gewohnheit übernommen zuerst die Jahreszahl, dann den Monat und schließlich die Tageszahl zu nennen. Morgen ist also 2011.09.11; morgen ist es nine/eleven, 9/11. Morgen ist es zehn Jahre nach 9/11. Plötzlich verlieren die Zahlen ihre Kälte.

Viele mögen es bei ihren Freunden und Bekannten nachzufragen: wo warst du in dieser Stunde, an diesem gedenkwürdigen Tag, den 11. September 2001? Weißt du es noch? Erzähl es mir, aber bitte genauestens und präzise.

Ich weiß es noch. Ich saß etwa um 16.00 Uhr in dem intercity Schnellzug der mich von Alkmaar, über Amsterdam und Utrecht nach dem Osten des Landes bringen sollte, wo ich wohne. Damals arbeitete ich berufshalber an einem Projekt wobei lernschwachen Kindern gelehrt wird so gut wie's geht lesen zu lernen. Ich war zu Besuch gewesen bei einer der Projektschulen, wo wir mit Lehrern und Lehrerinnen aus der Praxis mögliche Verbesserungen an diesem Leselernprogramm diskutierten. Voller gute Ratschläge und mit einem aufgeräumten Gemüt fuhr ich nach Hause: nichts gibt einem mehr Befriedigung als sinnvolle Erfahrungen aus der Praxis umsetzen zu können in Vorschlägen und Beispielen mit denen wir vielen anderen Spezialschulen helfen konnten.

Zwischen Utrecht und Arnheim kam eine unbekannte Spannung im Zugabteil auf. Ein junger Student, der zwei Reihen hinter mir saß, war am telefonieren mit seinem Elternhaus und berichtete allen Reisenden in meinem Abteil, daß in New York etwas schreckliches passiert sei. Man wüßte nicht genaueres, aber es wurde jedem im Lande dringend empfohlen sofort das Radio oder das Fernsehen einzuschalten, damit man von Minute zu Minute über die neuesten Entwicklungen bescheid wußte.

Nach dieser ersten Meldung überschlugen sich die Ereignisse. Die eine schreckliche Nachricht folgte der andere. Die Leute im Zug hielt es nicht mehr auf ihren Plätzen. Sie wanderten von vorne nach hinten und wieder nach vorne um nur so viel wie möglich zu erfahren. Als ich meine Endbestimmung erreichte, war der dritte Weltkrieg ausgebrochen, die Landesregierung in äußerster Verwirrung und die Menschen um mich herum quasi gelähmt durch Angst.

Nach einer halben Autostunde erreichte ich meinen vertrauten Wohnsitz auf dem einsamen, platten Lande, wo meine Frau mir erzählte wie sie alles schreckliche in sich aufgenommen hatte. Wie ein böser Traum, unverständlich und unfaßbar. Diese Fernsehbilder mit den Flugzeugen und den brennenden Twin Towers: science fiction oder Realität? Eins war klar, nämlich daß die Welt nach diesem Tag nicht mehr dieselbe sein werde.

Und der 10/11? Einen Tag nach 9/11? Was machten Sie an dem Tag darauf? Wir, meine Kollegen und ich, saßen in meinem Arbeitszimmer zusammen und erzählten uns wo wir waren als das Schreckliche von gestern passierte. Bei uns war das am elften Tage des Septembermonats im Jahre AD 2001. Morgen ist es zehn Jahre her.

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Freitag, 12. August 2011
Bagatelle 119 - Die Brücke am Tay
Früher, damals in der Realschule, hatten wir ein Heft voller Gedichte. Nicht selber gedichtet, wohl aber selbst darein geschrieben. (Ungefähr so wie Sie hier unten sehen.) Es waren nicht nur Gedichte in der Muttersprache, sondern auch welche in anderen (Fremd)sprachen. Beim mündlichen Teil des abschließenden Examens (Fachbereich Deutsch) mußte ich auf Wunsch des Examinators ein deutsches Gedicht aus diesem Heft so gut wie möglich aufsagen. Zwei Dinge sind wichtig, sagte unser Deutschlehrer bei der Vorbereitung. Denkt daran: man sollte das Gedicht auswendig kennen und vor allem: achte auf die Aussprache!

Tand, tand,
ist das Gebilde von Menschenhand.


Zwei Zeilen aus meinem Deutschgedicht. Was das Wort 'Tand' bedeutete, wußte ich nicht. Es war mir auch nicht erklärt worden. Ich meinte, es hätte etwas zu tun mit meinen Zähnen, aber da lag ich völlig daneben. Was ich wohl wußte, war daß dieses Urteil über menschliche Bauwerke von drei fremdartigen Wesen ausgesprochen wurde. Später erfuhr ich, daß es die drei Hexen aus Shakespeares Macbeth waren. Sie wollten es den Menschen zeigen, indem sie eine neu errichtete Brücke über den Tay-Fluß (Dundee, Schottland, 1879) zerstörten, gerade in dem Moment da in einem schweren nachweihnachtlichen Sturm der Schnellzug nach Edinburgh passierte. Es war, so las ich irgendwo, 'eine Mahnung vor technikgläubiger Selbstüberhebung'.



Der Junge auf dem Deutschexamen kennt das Gedicht. Es scheint als hätte der Dichter, ein gewisser Theodor Fontane, es speziell für ihn gedichtet. Er kennt es auswendig. Er versucht spannendes in seiner Stimme zu vermitteln. Und Trauer, weil keiner das Unglück überlebt. Er bildet sich ein, daß er sieht wie der brennende Lokomotiv, hundert Fuß über dem Wasser, sich wie ein Kometenschweif in die dunkele Tiefe stürzt.

Im Jahre 1995 war ich mit einem Freund zu Besuch in Schottland, in Dundee. An einem freien Tag zeigte ein schottischer Kollege uns die Gegend. Plötzlich standen wir vor dem Wasser und sahen die Brücke. Ein Schild wies darauf hin, daß dies der river Tay sei. An dieser Stelle hätte sich vor langer Zeit ein Drama abgespielt. Die erst zwei Jahre alte Eisenbahnbrücke war durch den Sturm in sich zusammengebrochen. Der Edinburgher Zug mit allen Insassen verschwand spurlos in die Tiefe. Daß der berühmte Theodor Fontane davon gedichtet hatte, wurde nicht erwähnt. Auch nicht daß ein gewisser Terra dieses Gedicht bei einem Deutschexamen fehlerfrei aufsagen konnte.




Nachschrift: Erst neulich las ich irgendwo, daß das Wort 'Tand' so etwas bedeutete wie 'Kleinigkeit', 'Etwas unwichtiges'. Eine Bagatelle also.

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Samstag, 23. Oktober 2010
Bagatelle LXXVII - Gasthofbrücke


Das hier ist keine Wirtschaft, keine Gaststätte oder Ausschank. Dennoch kann ich Sie einladen dort mit mir ein frisches Bier zu trinken. Es ist auch keine Kneipe, Schenke oder Bar. Aber man schenkt uns (gegen Zahlung) gerne ein Glas reinen Rheinwein ein. Tee oder Kaffee mit Kuchen gibt es auch. Aber es ist noch immer kein Wirtshaus.

Es ist eine Taverne. Abgeleitet vom mitteldeutschen taberna und vom niederländischen taveerne. Sie liegt weder in Holland, noch in Deutschland. Sie liegt – und das ist das besondere – oberhalb der Straße welche hier die Staatsgrenze zwischen der Bundesrepublik und den Niederlanden bildet. Sie befindet sich hoch über den Hellweg, in der Verbindung zwischen einem niederländischen Zentrum für ältere Landsleute denen es (gesundheitlich oder psychisch) nicht so gut geht wie Ihnen oder mir, und die deshalb in einem Sorgezentrum ihre Tage verbringen. Am anderen Ende gibt es eine vergleichbare deutsche Einrichtung. Dort wohnen Menschen in einer Wohngemeinschaft wo sie von sachverständigen Hilfskräften Tag und Nacht betreut werden.



Interessant ist auch daß beide Einrichtungen von denselben Vorkehrungen gebrauch machen. So geht die niederländische Nachtschwester auch zu deutschen Pazienten an der anderen Seite des Korridors. Und der Sanitätswagen bringt holländische Unfallpazienten zum Krankenhaus in der zehn Km weiter gelegenen Stadt Bocholt (Westfalen). Es funktioniert prächtig.
Die Leute an beiden Seiten der Grenze sind es von Jugend auf gewohnt sich als gute Nachbarn zu verhalten. Sie sagen: jeder spricht über europäische Zusammenarbeit. Wir praktizieren es. Und recht haben sie.

Darum treffen wir uns in kürze in der Taverne. Ich lade Sie ein. Wir genießen dort den Kaffee mit Kuchen (mit oder ohne Umlaut), oder bevorzugen Sie ein köstliches Täßchen Tee? Wir freuen uns über die grenzenlose Aussicht und sagen uns, daß es sich hier an der unsichtbaren Grenze gut leben läßt.

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Sonntag, 10. Oktober 2010
Bagatelle LXXV - Eine unmögliche Figur
Was mag der wohl meinen? Einen Damenseufzer beim Blick im Badewannenspiegel? Das Benehmen des geehrten Gatten beim diesjährigen Jahresempfang des OB? (Nachdem er nur zwei Wodkas zu sich genommen hatte, konnte er kein vernünftiges, geschweige denn ordentliches Gespräch mehr führen.) Oder ist es eine rätselhafte Figur aus dem Schachspiel? Ein unbeweglicher Springer vielleicht, der sich benimmt wie ein Läufer?

Nein, es ist das Kalenderblatt das einer meiner Neffen mir zu Liebe mir hat zukommen lassen. Sie wissen wie das geht. Da, manchmal am kleinsten Örtchen im Hause, hängt der Abreißkalender. Und mit einem Griff verschieben wir das Datum von gestern auf heute, den 25. September.
Was zeigt uns heute wieder mal der Abreißer? Welche Überraschung hat er für uns in petto? Am 25. September ist es eine unmögliche Figur. Bestehend aus neun Würfeln die auf eine unmögliche Art und Weise an einander verknüpft sind. Ein berühmtes Bild des schwedischen Designers und Grafikers Oscar Reutersvärd. So berühmt, daß aus ihm eine 25cents Briefmarke geworden ist. Wir sehen ein Dreieck und können mit einiger Phantasie von dem einen auf den nächsten Kubus springen oder klettern, bis wir die Ausgangslage wieder erreicht haben.



Diese Mischung zwischen zwei- und dreidimensional befremdet. Wir fühlen uns übergangen und auf den Arm genommen. Einer versucht uns reinzulegen. Mit nur wenigen Linien zeigt der Graphiker uns eine anormale, verschwommene und verworrene Welt in der es keinen normalen Weg gibt der uns aufatmen läßt. Jedoch, die Figur ist schlichtweg schön. Interessant auf jedem Fall.

Vor geraumer Zeit brauchte ich diese unmögliche Figur (in einer gering abgeänderten Form) für den Umschlag eines Buches. Worauf ich dem Herrn Reutersvärd, irgendwo in Schweden wohnhaft, einen Brief schrieb mit der Bitte um Zustimmung. Sie mögen sich meine Glückseligkeit vorstellen, als bald darauf ein sehr freundlicher Brief aus Schweden eintraf mit Herrn Reutersvärds Bewilligung. Der Graphiker hatte noch eine kostbare Überraschung hinzugefügt: eine neue, speziell für mich entworfene, unmögliche Figur, oder ‘perspectives japonaise’ wie Reutersvärd seine Unmöglichkeiten nannte. Meine Figur ist die perspective japonaise No. 482, für die ich den Entwerfer und Schenker noch jeden Tag dankbar bin.




Herr Reutersvärds Interesse galt nicht nur geometrischen Figuren. Haben Sie je solch einen unmöglichen Elefanten gesehen? Das meine ich.

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Freitag, 17. September 2010
Bagatelle LXXII - Doppelter Aron
Aronsstäbe: in Süd-Afrika hab ich die oft gesehen. Grünblättrig und weißblumig sind sie. Sie wachsen dort im Süden verwildert an Straßenrändern. Ich kann Ihnen auch zeigen wie die Stäbe bei uns zu Hause leben und gedeihen. Sie stehen hinterm Hof, links die Scheune und rechts die Garage mit Fahrradparkplatz. Der steinerne Pfad führt zum Hühnerstall und anderen Gebäuden. Wir lassen die Aronsstäbe gedeihen. Nur einen Eimer Wasser in Trockenzeiten bekommen sie.



Diese Bagatelle, werden Sie besorgt fragen, handelt doch nicht über so etwas Banales wie ein Aronsstab? Nein, der Aronsstab ist nur der Anlaß. Es kommt so und daher.

Oft steh’ ich vor meinem Bücherschrank und lasse meinen Zeigefinger die Buchrücken streicheln. Manchmal sogar nehme ich ein Buch aus der Reihe, entferne durch blasen den Staub, schlage es auf und fange an zu lesen. Oft frage ich mich wie es denn möglich sein kann, daß ich dieses köstliche Buch so lange alleine, geschlossen, in den Schrank habe stehen lassen.

Gestern war es wieder so weit. Ich nehme ein Buch in A4-Format aus dem Schrank und stelle fest daß ich Stories op Rym, een keur van vroeë Afrikaanse verhalende verse (Geschichten auf Reim, eine Auswahl früherer (Süd)Afrikanischer Verse) in Händen habe. Der Editor Pieter Grobbelaar hat einige klassischen, epischen Gedichte aus der südafrikanischen Literatur gesammelt und wieder zum Vorschein gebracht. Die (schönen) Illustrationen sind van einer gewissen Annette Stork gemacht worden. Ich rieche die Seiten, und genieße von den alten, schönen Geschichten. Die blumenreiche afrikanische Sprache ist nicht nur die Sprache der Apartheid, stelle ich wiederum fest. Bis ein Schrecken über mich fällt.



Er hat sich auf eine steinerne Treppe gesetzt. In seinen Armen ein kleiner Strauß Aronsstäbe. Mit geschlossenen Augen, der Kopf etwas nach hinten gelehnt, läßt er in Ekstase Glücksgefühle über sich herein tröpfeln. Die Annette hat ihn auf Seite 9 neben dem Vorwort des Pieter Grobbelaar postiert. Ich seh’ mir den Jungen an und denke sofort: Bürschen, dich kenne ich! Ich hab’ dich schon mal gesehen! Und ich weiß auch wo.

Ohne nachzudenken begebe ich mich zu einem anderen Bücherschrank in einem Zimmer anderswo im Hause und hole mir vom zweiten Regal von oben Het Beste uit LIFE hervor. Aus 36 Jahrgängen (1936 bis ‘72) dieser berühmten amerikanischen Zeitschrift haben einige Redakteure die 780 schönsten und bekanntesten Fotos selektiert. Ich blättere zehn Sekunden und dort, auf Seite 190, steht er: Aron (so nenne ich ihn) in Ekstase. Um 1948 ist Aron ein Wiener Waisenknabe der vom amerikanischen Roten Kreuz ein Paar neue Schuhe bekommen hat.



Überhaupt kein Zweifel daß es hier um denselben Aron handelt. Die Annette Stork hat den Wiener Aron benutzt als Vorbild für den südafrikanischem Aron mit seinen grünweißen Aronsstäben. Eigentlich eine Form von Plagiat, möchte ich meinen. Die Annette hätte wenigstens die Quelle angeben sollen wo sie ihren Aron entdeckt hat...

Aber so streng wollen wir nicht sein. Und schon gar nicht wenn wir noch einmal das Gesicht des Wiener Arons auf uns einwirken lassen. Diese Freude! Da bekommt man gute Laune. Da wird der heutige Tag ein schöner Tag. Da bin ich sicher.


Quellenangabe:

- Pieter W. Grobbelaar (Ed.) Stories op Rym. Keur van vroeë Afrikaanse verhalende verse. Pretoria: LAPA Uitgewers, 2000.
- David E. Scherman (Ed.). Het Beste uit LIFE. Time-Life International (Nederland), 1974.

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Dienstag, 8. Juni 2010
Bagatelle LIX - Vorspiel


Dieser Tage beginnen die Fußballweltmeisterschaften in Süd-Afrika. Die meisten Mannschaften sind schon angereist, vor allem um nachzusehen ob die Landschaft wirklich so schön und die Umgebung echt so gefährlich ist wie die Prospekte uns glauben machen wollen. Im Lande wo ich wohne schmücken sich inzwischen die Häuser und Straßen mit orangefarbigen Krimskrams, weil die darin wohnende Landsleute in ihrer Ungereimtheit anfangen die Fußballgeister damit gnädig stimmen zu wollen. Alle Supermärkte und sonstige mehr oder weniger Delikatessengeschäfte bemühen sich mittels kleine Gaben für die fußballbegeisterten Kinder den Eltern solche Güter zu vermitteln die sie kaum brauchen. Ein Beispiel: was so ein Fußballspielchen mit Toilettenreiniger zu tun hat, kann ihr Werbefachmann Ihnen genau erklären. Wenn in der Halbzeitpause die eigene Mannschaft führt, muß jeder auf die Toilette, weil man unsicher ist ob sich das Schicksal nicht wendet. Und wenn die Mannschaft mit 1-2 zurückliegt, muß auch jeder müssen, weil nicht sicher ist ob die Zurücklage in einem Gleichstand oder sogar in einen Sieg verwandelt werden kann. In jedem dieser Fälle wird der Toilettenreiniger an seine Pflicht erinnert.

Manche hassen Fußball in diesen Tagen und ich kann es ihnen nicht übelnehmen. Aber, denken wir doch bitte schön an das vorhersehende Wort eines Realpolitikers der mal etwas gesagt hat was ich selber hätte sagen können, wenn ich nur etwas gescheiter geboren wäre. Er sagte: Fußball ist im Grunde sehr einfach. Zwei Mannschaften mit je elf Spieler kämpfen anderthalb Stunden lang unter Leitung eines in schwarz gekleideten Menschen mit Trillerpfeife um Ball und Tore. Und am Ende stellt man fest daß Deutschland gewonnen hat.

Auch diesmal? Wir kommen allmählig in Stimmung und freuen uns im voraus auf schöne, spannende Spiele die wir uns alleine, oder in Gesellschaft von Freunden und Mitleidenden mit Hilfe eines beamers auf einer Großwand ansehen. Ich habe schon eine Ahnung wie es dort in Süd-Afrika zugehen wird. Denn ich hab’ es schon einmal am eigenen Leibe erfahren.

Ich zeige Ihnen ein Bild des riesigen Stadions in Durban, die Hauptstadt Kwazulu Natals, eine der Spielstätten. Und zwar das wichtigste: das Innere. Hier auf dem (jawohl, selbstgemachten) Bild spielt Bafana, Bafana, die Fußballelf von Süd-Afrika, gegen die Nachbarelven von Malawi um den Südlich Afrika-Cup. Wir schreiben den 28. September 2002. Noch vor dem Umbau des Stadions also.



Dieses Stadion ist an diesem herrlich lauwarmen Nachmittag gefüllt mit sage und schreibe 21.887 schwarzen und 11 (elf) weißen Zuschauern. (Höchstpersönlich und selber nachgezählt.) Unter den letzteren befindet sich ein gewisser Terra der mit drei weißen europäischen und vier scharzafrikanischen Kollegen von der Aussicht genießt und sich das Länderspiel ansieht. Fußball ist in Süd-Afrika übrigens der Sport des schwarzen Mannes. Weiße spielen meist rugby und cricket. Fußball, ins besondere wenn gespielt in einer Afrika- oder Weltmeisterschaft, verbindet aber die Nation. Das hat der erste schwarze Präsident, Nelson Mandela, gut verstanden und weise berücksichtigt. Aber kehren wir zurück zu dem was das Bild uns zeigt.

Die Qualität des sportlichen Getue ist nicht von dem Niveau das man einer Bagatelle zumuten kann. Aber die Stimmung unter den tausenden Fans ist glänzend. Jede Passierbewegung, gelungen oder nicht, erfreut sich der lauten Zustimmung des Publikums. Der Sound der Vuvuzela’s, das sind lange, dünne Blashörner-aus-Plastik, auch wohl treffend Lärmtrompeten genannt, macht kritische Kommentare unsererseits unmöglich. Das Fest erreicht seinen Höhepunkt als tief in der zweiten Halbzeit die Süd-Afrika-Vertretung das Siegtor schießt. Ein fröhlicher Orkan bricht herein.

Nach Beendigung des Spieles kehren alle frohen Herzens heimwärts. Wir haben gewonnen, und auch wenn nicht: es war ein immerhin ein schöner Nachmittag an dem man sich gerne erinnert. Undank zweier Tage mit Gehörproblemen wegen des lauten Getute in den Ohren mit den roten Hörnern. Auch jetzt bei den Weltmeisterschaften werden die Vuvuzela’s ihren Sound vermitteln. Auch bei uns, die zu Hause gebliebenen. Wir sind ihnen überliefert.

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Dienstag, 20. April 2010
Bagatelle LII - Spione und Schupser
Jeder, der mal in Süd-Afrika war – oder vielleicht in einigen Monaten dorthin fährt um am eigenen Leibe zu erfahren was es denn heißt zu sehen wie die deutsche Elf unaufhaltsam Weltmeister wird – kommt an einer Safari nicht vorbei. Nein, am Wochenende fährt man in eins der zahllosen game parks um sich an den Anblick der big five zu erfreuen. Die Telelinse an der Singelreflex geschraubt und auf geht’s zu den Antilopen und anderen Schnellvierbeinern die dort frisch und fröhlich im Park umherlaufen um den Touristen einen Gefallen zu tun.

Ende der neunziger Jahre des vorigen Jahrhunderts haben wir – drei Kollegen und meine Wenigkeit – dort unten öfters verkehrt. In der Woche boten wir in einigen Südafrikanischen Provinzen workshops an, die sich dadurch auszeichneten, daß die afrikanischen Studenten, sich noch weiterbildende Lehrer, selber an die Arbeit mußten und nicht nur gemütlich zusehen konnten wie die europäischen Gastdozenten ihnen die Arbeit aus den Händen nahmen. Aber das nebenbei.

Als wir dann im Norden, in der Provinz Limpopo, waren und das Wochenende am Horizont leuchtete, da mieteten wir uns ein feines Häuschen in dem berühmten Krüger Wild Park. Und am Abend als es kühle ward (irgendwo fällt mir immer ein passendes Mathäus-Passions-Rezitativ ein) bestiegen wir einen alten LKW und ließen uns gemächlich und unter Begleitung eines sachverständigen Führers durch die Landschaft fahren.

Die Elefanten sieht man am besten wenn es noch hell ist, aber Leo, der Tiere König, liebt die Dämmerung um sich dem Volke zu zeigen. Und so hat jedes Biest seine Präferenzen. Wie die Touristen, die zu Hause gerne mit Geschichten und Bildern gezeigt haben wollen, wie sie in der Savanne Auge in Auge standen mit den gefährlichsten Kreaturen der Weltgeschichte. Aber Tiere in der Savanne kann man nicht zwingen sich zu outen. Sie erscheinen wenn es ihnen paßt.

Unser Führer (Ranger) ist jung und gescheit. Er wagt es um zehn Minuten lange zu schweigen. Ja, er fordert sogar seinen Gäste auf dasselbe zu tun. Er beantwortet die schwersten Fragen freundlich und ausreichend. Es ist uns ein Vergnügen ihm zuzuhören. Er weiß daß es unsicher ist ob oder welche Tiere wir auf unserer Reise durch den Busch sehen werden. Es hängt von so vielen Faktoren ab, sagt er. Eine Sichtgarantie für Löwen oder Wildebeesten kann auch er nicht geben. Wir verstehen das und verzeihen ihm gerne.

Am Ende unserer Fahrt – es ist inzwischen total dunkel – bittet der Führer den Fahrer anzuhalten. Uns bittet er auszusteigen um uns den Vorgang auf dem Weg anzusehen. Im Licht der Scheinwerfer überquert ein komplettes Ameisenvolk den Weg. Das meist Interessante daran erklärt uns der Führer. Seht ihr daß einige größere Ameisen vorangehen? Das sind Spione die auszufinden versuchen ob der Weg frei ist. Tatsächlich, wir sehen sie. Und seht ihr wie am Ende des Zuges einige Ameisen mit Spezialfunktionen diejenige Ameisen anschupsen die bei jedem Sandkörnchen stehen bleiben, fürchterlich zaudern und so den Kontakt zu ihrem Volke zu verlieren drohen?

Der Prediger sagt: geht zu den Ameisen und werde weise. Recht hat er. Von den Ameisen können wir lernen wie man ein Volk zusammen hält. Man braucht halt vorne Spione und hinten Anschupser.

Bildquelle: M.C. Escher : De Band van Möbius II (1963)

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Mittwoch, 3. Februar 2010
Bagatelle XXXIX - Nur zufällig
Es gibt Umstände die mir so inszeniert vorkommen, dass ich zweifle ob der Begriff ‘Zufall’ überhaupt noch existiert. Sonst glaube ich nicht an Zufall. Ich denke schon dass es Zufallstreffer gibt oder zufällige Begegnungen, Zustände oder Ereignisse, aber die passieren lauter zufällig. Kein Mensch kann behaupten: er habe seine Hand darin.

Aber denken Sie bitte mit mir nach über die folgende Situation die sich heute morgen an unserem Frühstückstisch ereignete. Und behalten Sie bitte in Erinnerung meine letzte Bagatelle über wunderbare weibliche Kopfbedeckungen. Schreib ich doch am 29. Januar eine kleine, feine Sachgeschichte wobei ich, anfangend bei der Frau Antje, über kunstvolle Photographien von Frauen mit seltsamen Kopfbedeckungen, schließlich bei Johannes Vermeers Dame mit der Perle ende. Offeriert mir meine Morgenzeitung auf der Frontseite dieses Bild.



Ein Fotograf namens René Clement präsentiert uns en profil ein Lichtbild einer jungen Dame. Sie ist umhangen von der amerikanischen sterngestreiften Flagge. Auf ihrem Haupte eine weiße, quasi altholländische, Kopfbedeckung mit Stirnband und goldenen Ohrfedern. Zwei Welten treffen sich hier: der Fotograf nennt sein Bild denn auch treffend Dutch Iowa.

Ich denke: dieser geehrte Fotograf hat meine vorherige Bagatelle gelesen und hat gedacht: das kann ich auch. Junge, hübsche Frauen abbilden mit richtigen oder semi-originellen Kopfbedeckungen. Denke ich.
Es kann – wir wollen für einen Moment des Teufels Advokaten spielen – auch Zufall sein. Der Fotograf hatte eine gute Idee und fertig war das Kunstwerk. Das sich meiner Meinung nach nicht an den anderen von mir gezeigten Vorbildern messen lässt. Aber das ist Geschmackssache.

Es ist alles anders. Dieses, schon vor Jahren entstandene Bild, wird dieser Tage zusammen mit anderen berühmten Fotos von ebenso berühmten Fotografen versteigert in einer Internetauktion wobei der Erlass zugunsten der Erdbebungsopfer auf Haiti kommt. Ein sehr guter Zweck also und sicherlich kein Zufall.

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Freitag, 18. Dezember 2009
Bagatelle XXXII - Eine Tracht Zärtlichkeit
Wenn ich Sie bitte mir zu erklären was unter dem Begriff ’Zärtlichkeit’ zu verstehen sei, werden Sie zuerst bemerken, dass so etwas gar nicht so einfach ist wie es den Anschein hat. Aber um es zu verstehen brauchen Sie sich nur das Gesicht dieser Staphorster Mutter anzusehen. Staphorst ist übrigens eins der sehr wenigen Orte in meinem Land wo man (meistens Frauen und Mädchen) noch die traditionelle Kleidertracht trägt. Nicht wegen den Touristen, sondern weil man sich mit der Tradition verbunden fühlt.



Wann und bei welcher Gelegenheit meinen Sie, dass dieses Photo gemacht worden ist? Es wurde, so viel weiß ich noch, jedenfalls mit einer einfachen Kleinbildkamera in schwarz/weiß aufgenommen. Ich weiß auch noch wann. Dieses Bild entstand Sommer 1968. Ich wanderte ruhig durch die Ortschaft mit ihren schönen grün- und blaufarbigen Bauernhöfen, als ich die beiden sah. Das Mädchen etwas verlegen an Mutters Hand. Die Mutter, ebenfalls gekleidet in ihrer schönen Tracht, mit einem Blick voller Zärtlichkeit dem Mädchen zugewandt.

Sie mögen Recht haben wenn Sie behaupten dass dieses Bild einigermaßen manipuliert aussieht. Der Fotograf hat Regie geführt. Ja und nein. Zufälligerweise sah ich sie beiden aus dem Hause kommen, worauf ich die Mutter bat einen Moment dort bei der Scheunetür stehen zu bleiben. Noch immer sehe ich dass das Bild als sehr gelungen an. Hoffentlich sind Sie derselben Meinung, sonst stehe ich mit meiner so einsam und alleine dar.

Als das eigentlich besondere an diesem Bild und an der ganzen Geschichte betrachte ich die Antwort der Mutter auf meine Frage ob es erlaubt sei von ihnen ein Bild zu machen. Darauf sprach sie die historischen Worte (auf mein Ehrenwort: wirklich so geschehen!) : “Das müsste ich denn zuerst im Hause nachfragen.“ Ich vermute dass sie die Zustimmung der Eltern oder der Schwiegereltern meinte. Denn ein Mann, den ich schon gesehen hatte, der aber links außerhalb des Bildes bleiben wollte, von dem ich vermutete dass er der Gatte sei, stimmte schweigend aber mit dem Kopf nickend zu.

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