Sonntag, 8. August 2010
Bagatelle LXVI - Um die Ecke
Um die Ecke? Nein, dort wohnt er nicht mehr. Er hat die letzten zehn Jahre im Kellergeschoß eines Amsterdamer Grachtenhaus, vornehm im Zentrum gelegen, gewohnt. Die Rede ist von Dipl. Ingenieur Karl Graßheu, der sich vorgestern mit einem Empfang im Gasthaus “Milch & Honig” von der Arbeitswelt verabschiedete.

Buchstäblich keiner war gekommen, außer mir und meiner imaginären Tante Annie aus Den Haag. Kein Wunder übrigens, denn war es nicht Herr Graßheu persönlich der diesbezüglich gebeten und ungefragt immer behauptet hat, daß ein Abschiedsempfang weitaus das schlechteste sei daß einem in seinem kurzen Leben widerfahren kann? Welcher gebildeter Mensch stellt sich, mit einer Geschenkflasche feinsten Weines in der Festverpackung fest in der Hand, an in einer Reihe von hier bis weit weg, hinter einer wohlriechenden Dame zwar, um in zwei Stunden am Jubilar zu geraten um ihn endlich die Wahrheit sagen zu können? So einer hat sie nicht alle, oder wie?

Weil es also ziemlich ruhig blieb, hatte ich die Gelegenheit den Herrn Graßheu (unter Freunden liebevoll Eselchen genannt) einige Fragen zu stellen über seine in der Tat weltverändernden Erfindungen auf dem Gebiete der soften und härteren Waren. Wir kennen ihn ja als einen Experten auf dem Gebiete der digitalen Fotografie. Weltweit bekannt und ebenso weit herum anerkannt. Wenn es ein Nobelpreis für Digitalität gegeben hätte, wäre unser Karl Graßheu ohne Zweifel der erste Anwärter. Keine Frage. Vor allem sein ubuntu-verwandtes Bildbearbeitungsprogramm Cornerwise erntet breites Interesse. Darüber handelt folgendes.

Cornerwise kann nämlich etwas was kein anderes Programm kann: es kann um die Ecke fotografieren. Bisher konnten wir nur eine Seite eines Objekts in einem Bild festlegen. Entweder die Frontseite eines Hauses oder die Hinterseite, auf keinen Fall aber beide auf ein Mal, niemals zugleicherzeit. Ich kann die unsagbar schöne Elfriede Krauss von vorne porträtieren, aber wenn ich ihre ebenfalls bezauberndes Hinterteil abbilden will, muß ich eine zweite Aufnahme machen und zwar von hinten.

Mit Cornerwise hat sich die Welt total verändert. Ich fotografiere eure Bundeskanzlerin von hinten, aber was erscheint auf meinem kleinen lcd-schirm? Ihr vertrauenweckendes Antlitz. Ich kann den Drachenfels von vorne fotografieren und sehe ihn von hinten. Wie die Leute die an der anderen Seite des Felsens wohnen ihn täglich sehen. Und das von einem Standpunkt aus, und mit einem Knopfdruck. Ich kann auch seitlich fotografieren. Kein Problem und keine Ursache.
Ich kann um die Ecke fotografieren. Sie verstehen wie weltverändernd diese Entwicklung sein wird: beanspruchen Sie ihre Phantasie und Sie wissen es.

Und wenn einer kommt und fragt: was meint er genau? geb’ ich Ihnen stante pede ein Beispiel. Die Fotografie hierunter ist mit Cornerwise gemacht worden. Mit einem einzigen Druck auf einem Knopf wird Der Grübler vom dänischen Künstler Kai Uwe Rodinski verewigt. Aus vier verschiedenen Perspektiven heraus. Das tut mir keiner nach.

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Freitag, 9. Juli 2010
Bagatelle LXII - Prüfstand


Es ist mir eine Ehre Ihnen die aus vier Mitgliedern bestehende Kommisssion zur Prüfung des Hiesigen Wasserqualitäts KPHW vorzustellen. Die Kommission tut was in ihrem Auftrag steht: sie beurteilt einmal in ebenso vielen Monaten die Qualität des örtlichen Trinkwassers rundum und unterhalb unseres Bauernhofes.
Von links nach rechts sehen Sie: HON (Hahn-Ohne-Namen), AlteSchwarze, JungTüütchen und (in einer nachdenklicher Pose) unseren Hahn Habakuk. Das fünfte Huhn, die Tante Eulalia, hat sich der Mitgliedschaft der Kommission entzogen, was ihr gutes Recht ist.

Für die Wasserversorgung innerhalb des Hauses sind wir angewiesen auf die Dienste des Energiebetriebes GoS (Garantiert ohne Störungen) GmbH. Das sorgt dafür, daß der Geschirrspüler läuft, die Waschmaschine wäscht, die Douche wasserfällt und der Wassermesser seine Runden dreht. Für das Wasser draußen verfügen wir über einen künstlichen Brunnen. Eine Elektrosaugpumpe befördert das Grundwasser aus zehn Metern Tiefe nach oberflächlichen Stellen wo wir es dann und wann brauchen. Auch das Trinkwasser für die Hühner erreicht auf diese Weise das steinerne Hühnertrinkgefäß. An unfesten, stichprobentauglichen Augenblicken kommt die Wasserqualitätsbeurteilungskommission. Man prüft Klarheit, Reinheit, Zusammensetzung, Farbe, Härte und vor allem Geschmack.

Am Mittwoch voriger Woche kam man zum folgenden (notariell beglaubigten) Ergebnis.

Zusammensetzung: H2O, Eisen, Phosphor, Blei, ein unbedeutendes kleines Bißchen Quecksilber, aber kein Jod
Klarheit: ausgezeichnet
Reinheit: könnte besser, vor allem wegen einer der immer mit seinen Schmutzpfoten im Wasser steht
Farbe: genügende Transparantz, keine Rückfälle oder Rückstände und der Rest ist schweigen
Härte: zu viele Kalkreste und Eisenvorkommnisse, dadurch zu hart zum Eier kochen oder um Geschirr zu spülen
Geschmack: frisch, würzig, kühler Nachgeschmack, herzhaft
Fazit: bis zum letzten Tropfen: sehr genießbar

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Mittwoch, 19. Mai 2010
Bagatelle LVI - Kw-wörter
qua quadrat quadratzahl quadragesima quadrangulair
quadrant quadratur quadrieren quadriga quadrillion quæstieus quæstor qualification qualificieren qualität qualiter quantitativ quantität quantum quarantaine quartair quark quarta quartflöte quarto quasi quartett quatertemper quatre-mains querulant queue quelle quinquet quint quintal quintenzirkel quintessens quintett quintfagott quintillion quittieren quitte qui-vive quorum quo quota quotum quotieren quotient




Ein Quilt ist ein Quilt ist kein Kilt. Das wissen wir. Jedenfalls, wir sollten es wissen. Und wenn nicht, wir sollten uns in die Ecke stellen und uns während einer halben Stunde schämen.
Ein Quilt ist eine Decke. Sie besteht aus mindestens drei manchmal edlen Stoffschichten die in feinster Handarbeit zusammengenäht werden. Die Oberseite ist meistens hochkünstlerisch gestaltet. Die Nähte an sich bilden dann wieder wunderschöne Formen und Muster. Entschuldigen Sie bitte diese etwas stümperhafte und ungeschickte Beschreibung, aber etwa so ähnliches habe ich von der Madame Terra erfahren, die auf dem Gebiet der Quilterei eine Meisterin ist. Sagt man, ich selber kann es nicht richtig beurteilen, weil ich alles was ihre Hand verläßt für unsagbar schön halte und deshalb ziemlich undiffentiiert reagiere.

Kilt schreibt man mit k, so viel ist sicher. Ein Kilt ist ein Zwitterkleidungsstück, eine kurze Hose die eigentlich lieber ein Rock sein will. (Oder umgekehrt. So genau weiß ich das nicht.) Von Männern getragen, im schottischem Hochland, dort wo man Robert Schumanns Lieder auf Texten von Robert Burns so wunderbar zu hören bekommt. Bitte halten Sie von dieser Stunde an niemals einen profanen Kilt für einen himmlischen Quilt. Und Quilt schreibt man grundsätzlich mit Q, die 17. Buchstabe des deutschen Alphabetts. Das Q wird meistens gefolgt von dem Buchstaben u. Richtig ist also: Qu, gesprochen als kw. Dadurch daß oft nóch ein Vokal folgt, wird die Aussprache prägnanter und schöner. Quo wird zu kwo und ein Quartett zu vieren wird ein Kwartett.

Am Anfang dieser Bagatelle befindet sich eine Reihe Kw-Wörter die ich aus meiner eigenen Muttersprache und aus eurem Brockhaus geliehen habe. Das eine Wort ist schöner als das andere. Was sie alle bedeuten, ist eine andere Sache. Bitte, keine Gewissensfragen. Eigentlich kann man einer Sprache nur gratulieren daß sie so viele herrliche Kw-Wörter ihr eigen nennt.

Eine kleine, leicht kritische Bemerkung zum Schluß. Es gibt so viele schöne Kw-Wörter. Aber es gibt zwei immens wichtige Kw-Wörter die sowohl in Ihrem als in meinem Lexikon fehlen. Zwei richtige Kw-Wörter. Das eine – Sie hatten es schon vermutet - ist das Wort Quilt. Man sucht es vergebens. Aber irgendwo kann man es den Verfassern der Wörterbücher nicht sehr übel nehmen: das herstellen von Quilts ist (noch) keine Männersache. Das zweite Kw-Wort das ich vergeblich gesucht habe, wurde manchmal von meinem Vater verwendet. Als ich noch ein kleiner Junge war und als ich ihm den Unterschied zwischen einem Quilt und einem Kilt klarzumachen versuchte, sagte er zu mir: Ach Junge, das ist doch alles Quatsch! Quatsch, so ein unsinnig himmliches Kw-Wort!

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Dienstag, 30. März 2010
Bagatelle XLIX - Lieb und teuer
Immer schlechter steht es um die Handhabe der Werte welche unser tägliches Leben begleiten, beschützen und behüten. So wird der gute Brauch sich beim beantworten einer Lehrerfrage von seinem Sitzplatz zu erheben nur noch an fünfzig Prozent der Gesamtschulen in Ost-Bayern in Ehren gehalten. Und das ist nur der Anfang. Das Wort zum Sonntag wurde unlängst um eine ganze halbe Minute gekürzt zugunsten der Schokoladenwerbung. Das Wort “Ehrfurcht” wird nur noch in den wenigsten Fällen großgeschrieben. Und bei Boxveranstaltungen wird die deutsche Nationalhymne von einem aus lauter weiblichen Musikerinnen bestehendem Streichquartett gefiedelt, weil ein komplettes Polizeiregimentsorchester den Budget für musikalische Personalkosten sprengen würde.

Der vorläufige Tiefpunkt dieses Werteabfalls bildet die aufkommende öffentliche Neigung die figurative bildende Kunst hierzulande lächerlich machen zu wollen. Alles was uns in dieser Angelegenheit lieb und teuer ist, verschwindet in dunklen und düsteren Ecken des hiesigen städtischen Museums. Unwahr und Unsinn, sagen Sie? Ich werde es mit einem (aus tausenden möglichen) Beispiel illustrieren.

Wir alle kennen das berühmte Gemälde Le déjeuner sur l’herbe (übersetzt auf neudeutsch: Grasbrunch) welches uns der Maler Edouard Manet Ende des 19. Jahrhunderts geschenkt hat. Es mißt präzise 208 mal 265 Zentimeter, so daß es oberhalb ihrer Wohnzimmercouch nicht passen würde.
Was sehen wir? Eine Szene aus dem Bois de Boulogne. Die wichtigste Person ist eine frisch und fröhliche junge Dame, die uns zeigt, daß die neulich wieder eingetretene Sommerzeit an ihrem Körper keine nachhaltigen Spuren hinterlassen hat. Dann gibt es noch zwei ältere Herren die sich um den Wert der Daimler-Benz Aktien streiten. Links vorne eine allegorische Vorstellung mit Eßutensilien. Hinten ein Mädchen das virtuell Pilze sammelt, in Wirklichkeit aber das Gespräch genauestens verfolgt.
Mit Freuden zeige ich Ihnen das Gemälde. In reproduktiver Form zwar, aber wenn Sie sich nach der Quay d’Orsay begeben, zweihundert Meter weiter als das Polizeipräsidium, können Sie das Original bestaunen.



Zweifelsfrei ein Höhepunkt französischer Malerei des neunzehnten Jahrhunderts. Und eine wohlbekömmliche Illustration vom Leben auf französischer Art. Da hat der Herr Manet in der Tat ein glückliches und fachmännisches Händchen angelegt. Das Bild ist leicht reizend, aber in keiner Weise oder auf das geringste anstößig.

Was aber geschieht, wenn andersdenkende auf einer unzulässigen und groben Art sich dieser ländlichen Idylle bedienen, zeige ich Ihnen an Hand dreier Beispiele. Beim ersten, einem Bildversuch eines gewissen Pablo Picasso, möchten wir Sie bitten in diesem Fall Gnaden für Recht gelten zu lassen. Denn man kann nicht verneinen, daß dieser Picasso Manets Vorstellung in ein neues Licht erscheinen läßt. Immerhin, das ist doch was, möchte man meinen.



Die Folgen, wenn aber eine Popgruppe, die sich Bow Wow Wow nennen läßt, sich des Bildes annimmt, sehen wir am nächsten Beispiel. Gut, daß die Musik dieser Gruppe wenig genießbar, jedoch einigermaßen hörbar ist, sonst hätten wir vorgeschlagen sofort die städtische Reinigung anzurufen.



Der Gipfel der Dekadenz tut sich hervor wenn das geachtete Zeichentrickgilde sich des Subjekts bemächtigt. Sehen Sie nur! Hier werden Manets Ideen mit Füßen getreten und mit dem Boden gleichgemacht. Eine Schande! Wie wagt man es zu versuchen in dieser infamen Weise für den Verkauf von ekologischem Spinat zu werben! Dem Popeye kann man wenig vorwerfen: es sind seine Schöpfer die alles besser wissen wollen.



Laßt uns für einen Moment Besinnlichkeit betrachten und uns befragen wie es alles so weit hat kommen können. Seien wir ehrlich zu uns selber. Beantworten Sie bitte mit mir diese eine Frage: was habe ICH getan um diesen Zeitgeist vorzubeugen?

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Dienstag, 2. März 2010
Bagatelle XLV - Rückwärts lebend


Gibt es ein Leben rückwärts? Und wenn es so etwas gibt, wie sollen wir es uns vorstellen? Adam Langenberg, Schulmeister im niederländischen Städtchen Rijssen, hat eine Antwort. Er spricht zum Thema während eines Gottesdienstes, wo er den Pfarrer, der sich wie üblich verspätet hat, vertritt. An diesem Sonntag im Jahre 1840 hört eine überfüllte Kirche seine bizarre Geschichte und versucht sie wenigstens einigermaßen zu verstehen.

Adam Langenberg belehrt uns über den Lauf der Zeit. Er benützt als eine Art Metapher die Sanduhr die vor ihm steht. Der obere Teil, sagt Langenberg, beherbergt die anstehende Zeit, die Zukunft; der untere Teil die Vergangenheit. Inmitten, dort wo die Sanduhr nur einzelne Sandkörner sukzessive passieren lässt, spielt sich das hier und heute, die Gegenwart, ab. Wenn die Zeit so weit fortgeschritten ist dass der untere Teil der Sanduhr voll und der obere leer ist, wird die Uhr umgekehrt. Es ist noch nicht so weit, sagt Adam, aber einmal wird man es erleben. Tempus fugit rückwärts, wir werden es am eigenen Leibe spüren und es wird uns als etwas völlig normales vorkommen. L’histoire se retourne. Die Vergangenheit kehrt zurück: alles Geschehene geschieht noch einmal, nun in umgekehrter Reihenfolge.

Wie sollen wir uns das praktisch vorstellen? fragen sich die Menschen dort unter der Kanzel. Adam Langenberg gibt eine Serie faszinierender Beispiele, welche die Menge in zunehmender Verwirrung versetzt.

- Meine Worte werden in ihren Ohren klingen wie eine Fremdsprache und dennoch ist es unsere Muttersprache. Sie entspringt in ihren Ohren und kommt in Form von Schallwellen zu mir zurück. Ich öffne meinen Mund um sie zu empfangen.
- Nachher, beim nach Hause gehen, werden Sie ihr Pferd wie üblich vor den Wagen spannen. Dieser wird aber aus eigener Kraft rückwärts nach Hause rollen, wobei das Pferd sich vergebens bemüht ihn aufzuhalten.
- Unterwegs wird sich das Wasser sammeln in Pfützen und Wagenspuren. Hieraus werden sich Tropfen erheben die sich mit viel Kraft und Krawall empor bewegen. Hoch im Himmel werden sie sich vereinen zu Wolken, welche sich weiter bewegen am Firmament wobei Sätze zu hören sind wie: “Es kommt ein Regen”.
- Zu Hause werden sie sich alle um den Tisch scharen und dort, immer kauend, Nahrung aus dem Mund holen und die mit Hilfe von Messer und Gabel auf den Teller legen. Sie werden damit fortfahren bis Sie schließlich Hunger bekommen.
- Die Bauern unter ihnen werden ihre Kühe oberhalb voller Milcheimer plazieren und durch das Ziehen und Drücken ihrer Finger wird sich die Milch aus dem Eimer empor bewegen und werden sich die Euter füllen.

- So wird das gesamte Leben ablaufen: Maurer werden die Fachwerkhäuser abreißen, die Einzelhändler werden sich ihre Wahre von Ihnen zurückkaufen, die Asche aus ihren Öfen wird in Form von Kohle von den Kumpels in den Bergwerken gelagert, Jäger fangen Kugel auf in ihren gerichteten Gewehren und schießen auf diese Weise angeschossene Hirsche wieder gesund, die Metzger bauen Koteletts und Beefsteaks zusammen zu kompletten Schweinen, wonach sie diesen mit einem Messerstich das Leben wiedergeben.
-Columbus wirft einen letzen Blick auf Amerika, bevor er die Seereise nach dem fernen, unbekannten Europa sucht, Pompeji und Herculanum werden sich von ihrer Aschelast befreien und weiter leben als wäre nichts geschehen. Die Menschen werden immer jünger und kehren schließlich alle in den Mutterschoß zurück. Was für jeden das definitive Ende bedeutet.

So sprach Adam Langenberg. Als er ausgesprochen war, verließ er die Kirche und einige Monate später auch seine Stadt. Wir können die ganze fantastisch fenomenale Geschichte lesen in Luchtspiegelingen, einem Buch des niederländischen Autors Belcampo (Pseudonym für H.P. Schönfeld Wichers 1902-1990.) Voraussetzung ist nur dass Sie vorwärtsgerichtetes Niederländisch lesen können.

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Freitag, 12. Februar 2010
Bagatelle XLI - Tatort


- Höchste Zeit den Ort des Geschehens kennenzulernen, mein lieber Doktor Watson, sprach der große Detektiv, während er die letzten Reste scrumbled eggs mit einer Serviette von seiner elegant geschneiderten Kinnlinie entfernte.
- Gewiss, Holmes, antwortete der Angesprochene, gehen wir zu Fuß oder gönnen wir uns diesmal eine Pferdetaxe?
- Selbstverständlich nehmen wir die Karosse. Die Kosten werde ich wie üblich bei der anstehenden Steuerklärung verrechnen. Das Aufbewahren der Belege überlasse ich Ihnen. Und bitte Lieber W., sorgen Sie inzwischen wie üblich auch dafür, dass meine Reisetasche ein Instrumentarium enthält das gestandene Mörder, Einbrecher, Hausfriedensbrüchige und Ehebrecher davon abhält sich ins öffentliche Leben zu begeben.

Watson begab sich darauf ins Nebenzimmer mit der großen Apothekerschranke welche die gänzliche Nordseite des Zimmers beschlagnahmte, nahm eine Inventarliste, und legte die Utensilien mit größter Vorsicht in die kalbslederne Tasche seines Freundes. Dieser stopfte inzwischen seine erste Pfeife, Marke Eigenanbau 1880, zündete sie an und ließ sich den Rauch und die damit verbundenen Nicotinaromas genüglich über die Zunge gehen. Dabei hörte er mit Interesse auf Watsons Aufzählung:

1 Lupe (extra strong)
7 Pinzetten (in Größe aufsteigend von SSS nach XXL)
2 Paar seidene Handschuhe (zum Anfassen besonderer Tatbestände)
1 silberner Zollstab – Länge 1.50 M – mit Füßen getreten
1 Umrechnungstabelle: “Von Meter zu Fuß – und umgekehrt“
1 Büchlein (Autor: der Hon. S. Holmes Esq.) “Für alle Fälle”
1 Uhr (stopwatch) neben Greenwich Time auch Düsseldorfer Zeit
1 Gradbogen (nach Sachlage wechselweise 180 oder 360 Grad)
1 Handbuch der Fysiologie (Erste, unveränderte Auflage)
2 violettfarbige Tafel Schokolade (Marke Melka)

Am Tatort angekommen tat unser Herr Sherlock alles was man in diesen Umständen von solch einem weltberühmten Detektiv erwarten kann. Er genoss die Aussicht, schenkte sich selber (und seinem Freund Watson) in der Nachbarskneipe einen guten Whiskey ein, befragte die bildhübsche Nachbarinstochter (ob sie denn gar nichts besonderes gesehen hätte) und verwendete viel Zeit auf eine gründliche Spurenuntersuchung: seine Spezialität. Er schaute, nahm Maß, sah sich noch mal um, prüfte die Windrichtung, nahm wiederum Maß und nickte.
Danach diktierte er dem Dr. Watson seinen Befund:

- der in der frisch gefallenen Schnee gefundene Fußabdruck kann zweifelsfrei identifiziert worden als gehörend zu dem höchstwahrscheinlichen Verdächtigen. Vielleicht stammt er sogar vom Täter oder dessen Alter Ego
- die Länge des Fußabdrucks ist 34 Zentimeter oder 13,4 Inch und ein kleines bisschen
- die Gehrichtung ist von links nach rechts; es ist des Täters rechter Fuß
- es sind keine Spuren von weder Blut noch sonstiges DNA-Mundschleim aufgefunden worden
- die Oberfläche der Fußspur ist völlig glatt; die Sohle zeigt kein einziges Profil
- der vermutliche Täter wiegt laut genauer Schätzung 78 Kilo, ging hier seinen Weg exakt um Viertel nach neun, Freitag den 12. Februari Anno 2010, gerade rechtzeitig bevor der Schnee wegen des eingetretenen Tauwetters drohte zu verschwinden.

Nach dieser feinen Analyse, die wie gebräuchlich von Prozessen der Induktion, Reduktion, Deduktion und Reflektion gefolgt wurden, setzte sich der berühmte Detektiv in Stellung, wandte sich zu seinem treuen Freund Watson (und indirekt zu uns die wir ihm zuhören) und sprach die historisch gewordenen Worte:
„Hier lief ein gewisser Herr Terra, auch manchmal Terra40 genannt. Er war mit Morgennahrung unterwegs zu seinen fünf Hühnern. (Ich fand eine verloren gegangenes Weizenkörnchen.) Er ging wie immer auf Holzschuhen, die wegen des frequenten Gebrauchs an der Unterseite glatt abgeschliffen sind. Die Länge des Fußabdruckes ist 34 Zentimeter, das ist Holzschuhmaß 28½, was dem genannten Herrn genau passt. Zusammenfassend und ergo: Terra ist der Täter.

Unglaublich, sprach Dr. Watson voller Bewunderung. Wieder ein Fall für die Ewigkeit.

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Montag, 8. Februar 2010
Bagatelle XL - Brilleputseklud
Nehmen wir an – for the sake of the story – dass sich neulich eine etwas düstere Person an meine Hintertür meldete und um Eintritt bat. Und lasst uns ebenfalls der Hypothese trauen, dass es sich bei dieser Person um die berühmtberüchtigte Journalistin Karin Lassmichbitte von der Zeitung ‘Der morgige Tag’ handelte. Sie wolle etwas wissen über mein Sehvermögen, sagte sie. Weil ich nicht immer die Rolle des großen Verweigerers spielen will, stimmte ich zu. Und so können Sie im folgenden etwas lesen über entscheidende Augenblicke aus meiner Brillengeschichte.



Seit Jahr und Tag tragen Sie eine Brille? Wieso eigentlich?
(Wenn ich so etwas höre, habe ich die unwiderstehliche Neigung zu sagen dass dies wieder eine dieser fantastischen, grenzüberschreitenden Anfangsfragen ist. Nachher frägt sie mich vielleicht auch noch wie es denn fühle, eine Brille zu tragen.)
Aber zuerst die nackten Tatsachen. Als ich zehn Jahre alt wurde, bekam ich meine erste Brille. So eine, mit runden, in Metall gefassten Gläser. Hinter den Ohren flexible, eiserne Haken welche auf die Dauer schlimm weh taten.
Ein vermindertes Sehvermögen gehört übrigens bei uns zur Familie. Mein Vater war so kurzsichtig, dass er eine Brille tragen musste mit erstaunlich dicken Gläser, die beim geringsten Husten fast aus dem Rahmen fielen. Auch meine Schwester hatte ein solches Sehgerät auf ihrer hübschen Nase, das sie aber verabscheute als schadete es ihrer Schönheit (was nicht der Fall war).
Auch mich ekelte die Brille an. Sie hinderte ja sehr beim Fußball und bei allerhand sonstigem Unfug. Ich musste sie vor allem in der Schule tragen, weil ich sonst die Aufgaben welche mir der Schulmeister auf der Tafel anbot, nicht lesen konnte und deshalb falsch löste. Und das traf mich, einen der sonst eine Eins Plus bekam für’s Buchlesen und Geschichtenschreiben. Die Folge war schon, dass meine Brille mehr in ihrem Häuschen verblieb als auf meiner Nase. Das war aber nicht klug, sagte ein befreundeter Bauer der im Frühling bei uns den Garten besorgte, zu mir. Er habe einen Bekannten gehabt der auch die Brille nicht tragen wollte und der jetzt das Gebot des Hausarztes auszuführen hatte vierzehn Tage mit seinen Augen auf dem Stuhl sitzen zu müssen. Ich erschrak sehr und seitdem hat die Brille meine Nasenbrücke nicht mehr verlassen.

Wenn Sie schon solch einen Widerwillen gegen die Brille hatten, warum, könnte man fragen, trugen Sie keine Linsen?
Natürlich werde ich der geschätzten Journalistin Lassmichbitte mein Alter nicht verraten, sonst könnte sie wissen dass es damals, als die Geschichte spielte, noch gar keine Linsen gab. Aber, sagte ich ihr, hätte es die gegeben, dann hätte ich keine Linsenfeuchtigkeitsfüllungen gebraucht. Weil ich nämlich von Hause aus ein Heulpeter erster Güte bin. Damals und noch heute. Beim Geringsten – eine Katze die bei Rot die Ampelwarnung ignorierend die Straße überquert – tropfen die Tränen. Nein, wenn schon Linsen, denn in der Suppe. Übrigens, ich werde ihnen meine Brillensammlung zeigen. Urteilen Sie selbst.



Kann es sein dass ich bei einer Ihrer Brillen ein eingebautes gläsernes Lesestückchen sehe?
Sie sehen also mehr als ich vermute. Aber, bitte, sie haben recht. In der Tat habe ich einmal den Fehler gemacht mir eine solche Brille zu besorgen, mit der man, laut Gebrauchsanweisung, sowohl fern als auch kurz sehen konnte. Und zwar mittels eines eingeschliffenen Lesepartikelchen. Einsicht wurde nicht garantiert. Eine Brille für das weitliche Panorama also und zugleich eine Lesehilfe. Ich benutzte diese Brille nicht nur um meine geliebte Gattin tief in die Augen zu sehen, sondern auch um meine eigenen Bagatellschriften lesen zu können. Bifokal, geschweige denn multifokal, waren damals unbekannte Größen. Und schwer waren diese doppelzielgerichteten Brillen! Nein, ungeeignet für mich und alle anderen die sonst in ihrem Leben schon so vieles zu tragen hatten.



Was, bitte, ist der letzte Stand der Dinge Ihrer Sehenskraft betreffend? Gibt es günstige Voraussichten? Und was, ich komme zum Schluss, könnten Sie uns diesbezüglich auf unseren Lebensweg mitgeben?
Anders als Sie vielleicht denken mögen, geht es bei mir mit den Jahren mit dem Sehvermögen aufwärts. Vieles, zum Beispiel Sätze, Wörter und Bilder auf dem Komputerbildschirm kann ich ohne Brille ausgezeichnet sehen, lesen und bewundern. Für Sachen die eine Weit- und Fernsicht erfordern, bediene ich mich einer Leichtgewichtbrille die ich zierlich auf und ab setze. Eine Lesebrille ist nicht nötig. Ich lese alles was Hand und Fuß hat, und das alles ohne Brille. Und wenn Sie mit aller Gewalt auf eine Sehberatung beharren, so kann ich nur sagen: wenn Sie versuchen zu sehen: öffne die Augen. Weit offen, unbeschwert und unvoreingenommen. Nicht sehen, sondern wahrnehmen. Trauen Sie Ihren Augen. Aber glauben Sie nicht alles was Sie sehen. Und freuen Sie sich jeden Tag über alles Schöne was es zu sehen gibt.

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Montag, 16. November 2009
Bagatelle XXVIII - Engelsgeduld
Bis auf den heutigen Tag werfe ich meinen Erziehern vor, dass sie mir über éine Wesensgattung völlig ungenügend aufgeklärt haben. Ich meine hier die Lebewesen die wir Engel nennen. Es gilt nicht nur meinen Eltern zu Hause, sondern auch dem Lehrer in der Schule, dem Pfarrer in der Kirche und dem guten Nachbar der meinte mir alles weis machen zu können.



Natürlich ist mir bekannt dass ein Engel ein mehr oder weniger (halb)göttliches Wesen ist, das sich gehend und fliegend durch das Weltall bewegt. Es gibt normale und abnormale: Engel und Erzengel. Es gibt welche die uns 24 Stunden pro Tag schützend den Flügel über den Kopf halten. Es gibt auch Engel die uns bestrafend den Zutritt ins Paradies verwehren. Das alles wissen wir, vieles liegt jedoch immer noch im Verborgenem. Zum Beispiel:
* Engel: Mann oder Frau, oder beides, oder keines?
* Engel können fliegen aber was ist die mittlere Spannweite ihrer Flügel?
* Wie er hieß, wissen wir, aber wie alt war dieser Engel als er Maria die Geburt Jesu ankündigte?
* Ist es wirklich wahr dass Engel viel Geduld haben?
Fragen über Fragen.



Untersuchen und klären wir die Unsicherheit was die noch immer geheimnisvolle Engelsgeduld betrifft. Ist es tatsächlich wahr, dass Engel ohne zu murren drei Stunden auf den Omnibus nach Wolfenbüttel warten, während ein normaler Mensch seine Geduld schon nach zwanzig Minuten verloren hat? Gibt es sie wirklich, die Engelsgeduld?

Die folgende Parabel hilft uns weiter.



Seht ihr dort den hohen Berg am Horizont? Seht ihr seine steinige Spitze? Einmal in hundert Jahren kommt ein kleiner Vogel geflogen (ein Rotkehlchen höchstwahrscheinlich) der seinen Schnabel an der Spitze schleift. Ein kleines bisschen Steinstaub löst sich von der Bergspitze und weht weit weg im Wind. Auf die Dauer ist der ganze Berg weggeschleift und verschwunden. Wenn dás der Fall ist, ist genau eine Sekunde der Ewigkeit vorbei und so lange kann ein Engel warten.

Wirklich wahr. Engel sagen auch oft: ich warte schon eine Ewigkeit. Engel haben in der Tat Engelsgeduld. Keine Frage.

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