Dienstag, 2. März 2010
Bagatelle XLV - Rückwärts lebend


Gibt es ein Leben rückwärts? Und wenn es so etwas gibt, wie sollen wir es uns vorstellen? Adam Langenberg, Schulmeister im niederländischen Städtchen Rijssen, hat eine Antwort. Er spricht zum Thema während eines Gottesdienstes, wo er den Pfarrer, der sich wie üblich verspätet hat, vertritt. An diesem Sonntag im Jahre 1840 hört eine überfüllte Kirche seine bizarre Geschichte und versucht sie wenigstens einigermaßen zu verstehen.

Adam Langenberg belehrt uns über den Lauf der Zeit. Er benützt als eine Art Metapher die Sanduhr die vor ihm steht. Der obere Teil, sagt Langenberg, beherbergt die anstehende Zeit, die Zukunft; der untere Teil die Vergangenheit. Inmitten, dort wo die Sanduhr nur einzelne Sandkörner sukzessive passieren lässt, spielt sich das hier und heute, die Gegenwart, ab. Wenn die Zeit so weit fortgeschritten ist dass der untere Teil der Sanduhr voll und der obere leer ist, wird die Uhr umgekehrt. Es ist noch nicht so weit, sagt Adam, aber einmal wird man es erleben. Tempus fugit rückwärts, wir werden es am eigenen Leibe spüren und es wird uns als etwas völlig normales vorkommen. L’histoire se retourne. Die Vergangenheit kehrt zurück: alles Geschehene geschieht noch einmal, nun in umgekehrter Reihenfolge.

Wie sollen wir uns das praktisch vorstellen? fragen sich die Menschen dort unter der Kanzel. Adam Langenberg gibt eine Serie faszinierender Beispiele, welche die Menge in zunehmender Verwirrung versetzt.

- Meine Worte werden in ihren Ohren klingen wie eine Fremdsprache und dennoch ist es unsere Muttersprache. Sie entspringt in ihren Ohren und kommt in Form von Schallwellen zu mir zurück. Ich öffne meinen Mund um sie zu empfangen.
- Nachher, beim nach Hause gehen, werden Sie ihr Pferd wie üblich vor den Wagen spannen. Dieser wird aber aus eigener Kraft rückwärts nach Hause rollen, wobei das Pferd sich vergebens bemüht ihn aufzuhalten.
- Unterwegs wird sich das Wasser sammeln in Pfützen und Wagenspuren. Hieraus werden sich Tropfen erheben die sich mit viel Kraft und Krawall empor bewegen. Hoch im Himmel werden sie sich vereinen zu Wolken, welche sich weiter bewegen am Firmament wobei Sätze zu hören sind wie: “Es kommt ein Regen”.
- Zu Hause werden sie sich alle um den Tisch scharen und dort, immer kauend, Nahrung aus dem Mund holen und die mit Hilfe von Messer und Gabel auf den Teller legen. Sie werden damit fortfahren bis Sie schließlich Hunger bekommen.
- Die Bauern unter ihnen werden ihre Kühe oberhalb voller Milcheimer plazieren und durch das Ziehen und Drücken ihrer Finger wird sich die Milch aus dem Eimer empor bewegen und werden sich die Euter füllen.

- So wird das gesamte Leben ablaufen: Maurer werden die Fachwerkhäuser abreißen, die Einzelhändler werden sich ihre Wahre von Ihnen zurückkaufen, die Asche aus ihren Öfen wird in Form von Kohle von den Kumpels in den Bergwerken gelagert, Jäger fangen Kugel auf in ihren gerichteten Gewehren und schießen auf diese Weise angeschossene Hirsche wieder gesund, die Metzger bauen Koteletts und Beefsteaks zusammen zu kompletten Schweinen, wonach sie diesen mit einem Messerstich das Leben wiedergeben.
-Columbus wirft einen letzen Blick auf Amerika, bevor er die Seereise nach dem fernen, unbekannten Europa sucht, Pompeji und Herculanum werden sich von ihrer Aschelast befreien und weiter leben als wäre nichts geschehen. Die Menschen werden immer jünger und kehren schließlich alle in den Mutterschoß zurück. Was für jeden das definitive Ende bedeutet.

So sprach Adam Langenberg. Als er ausgesprochen war, verließ er die Kirche und einige Monate später auch seine Stadt. Wir können die ganze fantastisch fenomenale Geschichte lesen in Luchtspiegelingen, einem Buch des niederländischen Autors Belcampo (Pseudonym für H.P. Schönfeld Wichers 1902-1990.) Voraussetzung ist nur dass Sie vorwärtsgerichtetes Niederländisch lesen können.

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Ihre Geschichte erinnert mich ein bißchen an den tschechischen Kinderfilm "Die Märchenbraut". Dort gibt es irgendwo ein Land, in dem die Menschen alt geboren werden und dann im Laufe ihres Lebens immer jünger werden. Infolgedessen wird die Politik auch von Kindern gemacht. Im Kindergarten befinden sich nur Greise. Ich war Teenager, als ich den Film (eine Serie) sah, und fand die Idee sehr lustig.

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Andersrum
Herzlichen Dank für Ihr Kommentar. Ich kenne den tsjechischen Kinderfilm nicht, aber ich könnte mir vorstellen dass die "Pointe" der Geschichte, nämlich das zeitliche Umkehrprinzip, auch von anderen (Autoren, Filmemacher, Theaterleute) aufgegriffen ist. Irgendwo macht mich Belcampos Geschichte auch ein bisschen an Lewis Carolls Alice in Wunderland denken.
Gruß, T.

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