Dienstag, 18. September 2018
Bagatelle 323 - Lebendige Grabsteine (II)
Vorab: Für ein besseres Verständnis lohnt es sich auch die vorherige Bagatelle 322 gelesen zu haben.


Wo waren wir geblieben? Richtig, auf dem Friedhof hinter der Grabkapelle, wo die frühere Fürsten von Schloss Anholt ihre letzte Ruhestätte fanden. Wir sahen einen Grabstein dessen Aufschrift uns verriet dass hier – alleine und etwas zur Seite – eine Erzherzogin begraben war.

Isabelle Marie heißt sie. Die Frau mit dem wunderschönen Namen ist, so lesen wir auf dem Grabstein, nicht nur Erzherzogin von Österreich, sondern auch Prinzessin von Ungarn. Geboren im Jahre 1888 in was damals Preßburg und jetzt Bratislava heißt. Heute also in der Slowakei. Die Frage drängt sich auf: warum liegt sie hier so alleine? Und was ist ihre Beziehung zu der fürstlichen Adelsfamilie auf Schloss Anholt? Wer war diese Isabelle überhaupt?

Im Internet-Zeitalter lässt sich, nach einigem Suchen allerdings, vieles herausfinden. Die Geburt der jungen Prinzessin 1888 war laut Presseberichten ein großes Fest. Vier Tage nach ihrer Geburt wurde die Isabelle im weißen Saal des herzoglichen Palastes zu Preßburg feierlich getauft.
Die wichtigste Nachricht stammt aus 1912. Dann heiratete die Isabelle Marie einen Enkel des großen Kaisers Franz Josef. Der Enkel hieß Prinz Georg. Das Fest fand statt im Wiener Schloss Schönbrunn. Anscheinend eine richtige high-society Hochzeit. Die Presse meldete, dass der Kaiser den ganzen Tag anwesend gewesen sei, und das wollte, auch damals, was heißen.

Doch was schreibt die Wiener Presse ein Jahr später? Nicht auf der Frontpagina zwar, aber unübersehbar auf Seite so-und-soviel und kleingedruckt? Die Ehe zwischen Erbprinz Georg und der Prinzessin Isabelle Marie sei offiziell, laut Gesetz und auch laut kirchlichem Recht, für Null und Nichtig erklärt worden. Die Ehe war niemals um sozusagen in praxis vollzogen worden, und dann wissen wir schon was eigentlich gemeint ist. Der Prinz Georg wurde später Priester, zog in den Vatikan und wurde dort Bibliothekar und Domherr von Sankt Peter.

Die Isabelle Marie blieb ihr ganzes Leben unverheiratet und kinderlos. Man schreibt, dass sie Krankenpflegerin wurde und verwundete Soldaten im ersten Weltkrieg betreute. Dort scheint sie für eine kurze Zeit mit einem Oberarzt verlobt gewesen zu sein; nur war dieser kommende Gatte dem Kaiser nicht gut genug, worauf er (der Kaiser) die Verbindung ablehnte. Im Alter von 85 Jahren verstarb die Isabelle Marie irgendwo in der Schweiz. Ihr letzter Wunsch war in der Nähe ihrer Schwester Marie Christina, die mit dem Fürsten zu Salm-Salm verheiratet war, in Anholt beigesetzt zu werden.

Außerhalb der Krypta an der Regniet kann man also die Gräber sehen und die Aufschriften auf den Grabsteinen lesen. Die beiden Schwestern sind beide dort begraben. Nicht neben einander: die Marie Christina neben ihrem Gatten, dem Fürsten Emmanuel Alfred zu Salm-Salm, 1916 gefallen im ersten Weltkrieg; die Schwester Isabelle Marie, zehn Meter davon entfernt, alleine.

R.I.P. steht am Ende: requiescat in pace. Mögen sie in Frieden ruhen








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Mittwoch, 12. September 2018
Bagatelle 322 - Lebendige Grabsteine (I)
Wie Sie vielleicht wissen, wohne und lebe ich an der Grenze. Gerade an der holländischen Seite. Weil die staatliche Trennung in Form einer offizielle Grenze heute im vereinten Europa keine Rolle mehr spielt, ist es kein Wunder, dass ich bei einer Radtour leicht in die Bundesrepublik gerate. So überrascht es auch nicht, dass ich unlängst die Regniet erreichte, ein Flecken auf der Landkarte nahe der grünen Grenze. Dort steht eine Grabkapelle wo die Mitglieder der hochadligen Familie zu Salm-Salm, wohnhaft in Anholt, beigesetzt werden.

Normal ist die Kapelle hermetisch abgeschlossen. Aber wie ich da vorbei radelte stand das Tor offen. ꞌWegen Putzarbeiten und sonstigen Arbeiten,ꞌ sagte mir der diensthabende Vorarbeiter der mir erlaubte rundum die Kapelle zu gehen und einige Bilder zu machen. Wie gerne hätte ich auch das Innere gesehen, was mir aber freundlicherweise verweigert wurde. Wegen Regeln der privacy versteht sich, und selbstverständlich habe ich mich daran gehalten.

Friedhöfe im Allgemeinen und auch solche rundum eine Grabkapelle sind Orte wo ich, komisch genug, gerne verweile. Nirgends wo anders singen die Vögel schöner und nirgends anders blühen die Feldblumen schöner. Auch und vor allem in der Stadt sind Friedhöfe stille Orte wo man angenehm zur Besinnung kommt.

Gerne sehe ich mir die alten Grabsteine an. Auch solche wo der Zahn der Zeit kaum Lesbares hinterlassen hat. Heute lese ich, wenn ich denn kann, die Namen und bei den Grabsteinen hinter der Grabkapelle die ich besuchte, waren diese alle versehen von prächtigen Beschreibungen und Titel. Die früher auf Schloss Anholt wohnhafte deutsche Hochadel wiederspiegelte sich in Stein geschnittenen Titel wie ꞌSeine Durchlaut Erbprinz zu So und Soꞌ, oder ꞌK. und K. Erzherzogin von Hier und Daꞌ.

Von einem dieser hochadligen Namen den ich auf einem Grabstein las, möchte ich Ihnen berichten. Es handelt sich um Isabelle Marie. Hier unten sehen Sie sie, ihn meine ich natürlich, den Grabstein. Die Geschichte dahinter ist so überraschend interessant dass ich dafür die nächste Bagatelle benutzen werde. So habe ich inzwischen Zeit mich zu beraten wie ich Ihnen das alles erzähle.





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Donnerstag, 23. August 2018
Bagatelle 321 - Niedersächsisch
Unlängst verstarb mein Buch-Freund Jan Navis. Er wohnte auf einem Bauernhof in unserer Nachbarschaft. Wir kannten uns vor allem wegen der Bücher. Jan sammelte und liebte das Buch, vor allem wenn es Prosa in der Volkssprache betraf. Nach seinem Tode fragte mich einer seiner Söhne ob ich etwas aus seiner großen Büchersammlung haben möchte. Natürlich mochte ich: ich wählte u.a. die gesammelten Werke in einem Band von Ernst Reuter. Das heißt: die erste Übersetzung in der niederländischen Sprache aus dem Jahre 1891.

Ich merkte sofort dass die plattdeutsche Sprache aus Mecklenburg um 1848, zu lesen auf Internet, und mein Dialekt aus 2018 immer noch viel Ähnlichkeit besitzen. Beide zwar Varianten der niedersächsischen Volkssprache, aber sehr entfernt durch Zeit und Raum. Als Beispiel der Anfang des ersten Kapitels in das Platt-düütsche von Reuter und meine Übersetzung in die niederländische ꞌnedersaksischeꞌ Fassung anno 2018. Wie sich die Gedanken und Worte gleichen!


Wo ok en starken Mann an 'ne Aukschon un en Gräfniß binah tau Grunn' gahn kann; un dat de Hunn' aewer 'n siden Tun springen. Dat en ihrlich Mann sin Letzt hengiwwt un nich vertwifelt, wenn hei sin Kind up den Arm nimmt un mit en Witten Stock in de Welt geiht.

Hoe ook een starken man an een boelhuus en an een begreffenisse bi-jnao te gronde kann gaon; en dat de hunde aover d’n laege hegge springt. Hoe een eerleken man ꞌt letste wat e hef weggef en niet vertwiefelt at e zien kind op d’n arm nemt en met een witten stok (baedelstaf) de welt intrök.

Dat was in dat Johr 1829 up den Jehann'sdag, dunn satt en Mann in de deipste Trurigkeit in 'ne Eschenlauw' in en ganz verkamenen Goren. Dat Gaud, wotau de Goren hürte, was en Pachtgaud un lagg an de Peen tüschen Anclam un Demmin, un de Mann, de in den käuhlen Schatten von de Lauw' satt, was de Pächter – dat heit, hei was 't bet dorhen west; denn nu was hei afmeiert, un up sine Haw'städ' was hüt Aukschon, un sin Haw' un Gaud gung in alle vir Winn'.

ꞌt Was op d’n 24sten juni 1829, op Sint Jan, toen een man in de diepste treuregheid in een prieeltjen van essenloof in een gans verkommen häöfken zat. ꞌt Landgoed waor ꞌt häöfken bi-j heuren was een pachtgoed en lag an de Peene tussen Anclam en Demmin. De man den in de koele schemme van ꞌt prieeltjen zat was de pachter – dat heit: hie was ꞌt tut now toe ewest – want hie was now failliet en op ziene boerderi-je was vandage boedeldag en zien have en goed ging now alle vier windrichtingen op.


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Sonntag, 19. August 2018
Bagatelle 320 - G-Rituale
Dann und wann, so hab’ ich mir sagen lassen, bricht im Berliner Bundeskanzleramt die Rage aus. Wohlverstanden: die G-Rage. Einer oder eine, meistens aus Brüssel, hat verordnet dass es wieder Zeit für ein G-Treffen, für ein G-Ritual, sei. Wenn drei oder mehr Weltmächte sich zusammen tun, spricht man von einem G-Treffen. Vor solch einem Treffen ist es meist unklar wie viele und welche Länder/Staaten sich zusammen tun; immer spricht man aber von einem G-Treffen. Die anschließende Zahl, so hofft man, verdeutlicht wie viele Länder sich an diesem Treffen beteiligen werden. Sind es drei, so kommt ein G-3, sind es acht dann ein G-8, sind es fünfundzwanzig, dann nennt sich das Treffen halt eine G-25.

Solch ein G-Treffen verursacht überall die gleichen Rituale und Bei-erscheinungen. Ob in Berlin, Moskau, Washington oder Paris. Wegen der kommenden Brexit sind die Erscheinungen in London etwas milder, so erklärt die Mrs. May. In Den Haag ist es sehr stille: der Erste Minister Mark Rutte wartet zwei Tage um danach zu erfahren dass er wiederum nicht eingeladen ist.

Anfangs gab es nur eine G-6. Das waren die Länder der Kohlen- und Stahlgemeinschaft: Deutschland, Frankreich, Italien und die drei Benelux Staaten. Jetzt aber, wo alle sich respektierende Länder um Eintritt bitten, gibt es eine G-12, eine G-20 und sogar eine G-37. Nächstes Jahr, so ist die allgemeine Erwartung, entsteht de NVB, der Neue Völker Bund. Mit Sitz in Genf (Genève sagen wir).

Doch, am schönsten sind die Rituale beim traditionellen Fototermin am Ende der Begegnung. (Von den abschließenden Trink- und Essgelagen wo die Zeche bezahlt werden muss, wird hier wegen Zeit- und Platzmangels abgesehen.) Wir sehen unsere Landesvertreter/innen in den Foto Saal kommen, wo ein Zeremonienmeister die größte Mühe hat sie in drei Reihen auf dem Podest einzureihen. Jeder möchte auf der ersten Reihe stehen, selbstverständlich. Findet auch die österreichische Außenministerin Klara Vonsinnen die sich einen Platz neben Monsieur Macron und vor Genosse Poetin erobert hat. Auf der zweiten und dritten Reihe stehen die minderen Götter und Minister. Man muss eben seinen Platze wissen und kennen.

Dann ergreift der Zeremonienmeister das Wort. In Esperanto (damit alle ihn verstehen) bittet er um Ruhe und um ein Minimum an Bewegung. Damit die versammelte Pressefotografen ihre Arbeit tun können. Es folgt ein vehementes Geblitzte, sei es ohne Donnerhall. Nach drei Wochen, wenn die Fotos fertig sind und auf die diversen Botschaften verteilt, wird in allen Amtswohnungen und Regierungsvierteln das neue G-Foto der Reihe bestehenden G-Fotos hinzugefügt. Die oder der Gatte/Gattin des Landesvertreters hängt, nach dem Staub abnehmen, vorsichtig die Bilder noch eben gerade. Recht muss sein.

Hier unten sehen Sie die Regierungsvertreter wie sie sich vereinigt zeigen auf der letzten G-13 in Bern (CH). Als Zugabe eine zufällige Begegnung der respektive Ministerpräsidenten aus dem Vereinigten Königreich (UK) und Austria (A).





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Mittwoch, 1. August 2018
Bagatelle 319 - Verkühlung
Was soll man machen? In dieser jetzt schon so lange anhaltender Dauerhitze? Tagsüber mehr als dreißig Grad im Schatten und auch nachts bleiben die Temperaturen deutlich über zwanzig. Grad Celsius, versteht sich. Nicht dass Sie denken: ich meinte Fahrenheit. Bei Ihnen in Deutschland, meldet mir die ARD, sei es noch schlimmer.

Die Bewegungen werden immer langsamer. Man kommt zu nichts mehr. Nachts werden Türen und Fenster geöffnet damit der sparsame Wind einiges an Verkühlung bringt. Am Radio (WDR 3) singt Haydns Jahreszeitentenor wie schön doch der Sommer wohl sei, aber von einer Hitzewelle hört man nichts.

Doch, alles wird einem zu viel, auch der geringste Aufwand. Sogar das Schreiben einer simpelen Bagatelle wird einem zu viel. Was zu tun?

Jetzt, das heißt vorgestern, habe ich die Lösung gefunden. Und zwar folgendermaßen. (Sie werden aufgemerkt haben, dass wegen der Hitze auch die Sätze kürzer werden.)

Ich suchte aus meiner ausgebreiteten digitalen Fotosammlung das kälteste Foto das ich finden konnte. (Das Suchen kostete mir fast zu viele Schweißtropfen.) Dieses Bild wird von nun an ständig auf meinem Monitor projiziert. So groß und deutlich wie nur möglich. Dann setze ich mich hin, zwei Meter vom Schirm entfernt und schaue gebannt zu.

Nach einer Viertelstunde geschieht es. Dann überfällt mir ein herrliches, laukühles Gefühl: es fängt im Nacken an, irgendwo nahe dem Kleinhirn wo das Temperaturempfinden seinen Platz hat, und breitet sich über den Rücken langsam nach unten aus. Unglaublich! Und unwiderstehlich!

Hier unten sehen Sie mein Kältefoto. Ich zeige es Ihnen damit Sie es verwenden können. Wenn Sie denn mögen. Vielleicht hilft es Ihnen auch. Aber, bitte, seien Sie vorsichtig und verkühlen Sie sich nicht!








Nachrede: Das Bild zeigt eine Winterlandschaft (unser Bauernhof im Hintergrund) wo ein eisiger Frost herrscht und der Holzwall im Vordergrund von einer schützenden Schneedecke bedeckt wird.

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Freitag, 20. Juli 2018
Bagatelle 318 - Hitze und Durst
Ganz Europa leidet jetzt unter der trocknenden Hitze. Und das schon so lange! Was schlimmer ist: das Ende, sagen die allwissenden Meteorologen, ist noch nicht in Sicht.


Wir denken schon an den heißen und dürren Sommer 1976. Sie wissen es vielleicht noch: Wochen lange konnten unsere beiden Söhne, damals noch jung und unbesorgt, unbekleidet rundum unseren Bauernhof umher laufen und spielen was das Zeug hielt. Und die Wetterfahne drehte sich erst als die Schulferien zu Ende waren.


Heute sieht’s ähnlich aus. Die Natur rings herum smachtet nach Wasser (so singt Haydns Jahreszeiten Tenor), die Wiesen verdürren zunehmend, der Mais versäumt zu wachsen, die Kartoffel- und Rübenernte droht zu misslingen, die Kühe kehren am liebsten zurück in den Schatten bringenden Stall, wo sie von ihren Landwirten mit Futter versorgt werden das eigentlich für den Winter gedacht war.


Aber es sind nicht alles Bekümmernisse und Qualen. Die Urlauber und Schwimmbadbetreiber freuen sich übers Wetter und Recht haben sie. Aber für uns zurückgebliebene Nicht-urlauber, die wir zu Hause vergebens eine kühles Plätzchen suchen, bleibt die Frage und Bitte: wie lange dauert das alles noch? Wir freuen uns schon auf den ersten Regentag der bestimmt kommt und hoffen zugleich dass es dann auch nicht wieder zu viel vom Guten ist.


Bis es so weit ist, müssen wir uns mit Worten und gutem Rat helfen. Wir können uns natürlich zurückziehen in die nahe gelegenen schattigen Laubwälder. Wir können auch, was ich uns raten würde, uns hinsetzen und eine verkühlende Bagatelle schreiben. Zusammen mit Bildern von Wasserfluten Babylons welche von Wasserkanonen abgefeuert werden. Wir schauen so lange hin bis wir uns verkühlt haben.



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Dienstag, 26. Juni 2018
Bagatelle 317 - Hochspannung
Günther, der Vorarbeiter, auch wohl neudeutsch Boss genannt, bittet seinen Kollegen Hans in den Hochspannungsmast in Anbau zu klettern um dort oben notwendige Arbeiten zu verrichten. So soll er dort oben die Daumenschrauben anziehen und mittels einigen Blätter Sandpapier einige jetzt schon sichtbaren Rostfleckchen entfernen. Sein Kollege und Kumpel Bernd wird ihm dabei begleitend unterstützen.

Beide Männer setzen ihre Sicherheitshelme gerade, gürten sich den Sicherheitsgurt um und schnallen sich mit der Sicherheitsleine fest. Nein, Sicherheit geht vor allem.
Dann klettern sie hinauf und auf vierzig Meter Höhe entspinnt sich der folgende Dialog.


Hans: "Bernd, bring mir bitte mal deinen Kreuzschlitzschraubenzieher. Meinen hab‘ ich unten liegen lassen."

Bernd: "Wie oft soll ich es dir sagen: denk an dein wichtigstes Instrumentarium; vergiss es nicht! Die Wasserpumpenzange hast sicherlich auch vergessen! Das sieht dir ähnlich!"

Hans: "Das musst du mir sagen! Du bist selber zu blöd daran zu denken! Mach mal tüchtig voran mit deiner scheisse Schleiferei. Ich möchte heute früh nach Hause."

Bernd: "Man hat dich wohl befohlen auf dem Heimweg zuerst bei der Lidl Einkäufe zu machen? Erdnüsse und Spaghetti vielleicht?"

Hans: "Heut Abend auf der WM spielt die Mannschaft wieder. Diesmal gegen Albanien, glaub ich. Oder gegen die Shetland Insel, aber auch da bin ich mir nicht sicher. Jedenfalls will ich die Fahne draußen aufhängen. Nein, ich möchte das Spiel nicht verpassen, wir heben keine Zeit zu verlieren. Mach mal voran mit deinem Schleifgetue."

Bernd: "Da geb ich dir recht. Nichts schöneres als so ein Tor in der vierten Spielminute der Nachspielzeit! Mensch, was haben wir uns gefreut! Jetzt also gegen Albanien. Und dann schließlich am Schluss die Finale gegen die Holländer. Ich freue mich schon im Voraus!
Doch, wir werden Flagge zeigen. Wenn nichts anderes vorhanden: wo nötig nehmen wir die alte Kriegsfahne! Doch, das wird schon klappen!"




Dieser Dialog wurde von mir gehört, gesehen, ausgezeichnet aufgezeichnet, notiert und interpretiert. Zu Isselburg (NRW) bei der Hochspannungsleitung i. A. (im Anbau) am 27. Juni 2018 gegen 16.30 Uhr.


Nachschrift: Einen Tag später schied die Mannschaft in der Vorrunde ruhmlos aus. Das hat man davon.








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Montag, 28. Mai 2018
Bagatelle 316 - Wasserohr (mit nur éinem r)
Als kleiner, fünfjähriger Junge wird man (ich jedenfalls) oft mit Ausdrücken und Wörtern konfrontiert deren Bedeutung ganz und gar unklar bleibt. Entweder weil man (der erwachsene Sprecher) nicht so freundlich ist sie dir zu erklären, oder weil man selber so dumm und ungeschickt ist das nicht zu fragen. Folge: bis Lebensende läuft man mit Gefühlen von Bedauern, Verdruss, Leid und Ärger umher. Manchmal erwacht man (ich jedenfalls wiederum) mitten in der Nacht weil einem die Frage quält: was, um Himmelwillen, ist ein PLARK?

Wasserohr (mit éinem r) ist auch solch ein Fall. Das kommt so:
Mein Vater hatte seit Lebens immer Schwierigkeiten mit den Beinen. Sie taten ihm weh und er mochte auch nicht gerne über die Straße gehen. Nachts konnte er oft nicht schlafen und der befreundete Arzt sagte dass es eine Form von Thrombose sei. Was das Problem jedoch auch nicht löste. Bis ein ebenfalls befreundeter Bekannter eines Tages zu ihm sagte: Es ist ein Wasserohr, dás ist es! Ehrlich, ich stand daneben und hörte es ihm sagen, aber mir fehlte der Mut um zu fragen: was, bitte schön, ist ein Wasserohr? Weil niemand antwortete fuhr der Bekannte weiter: Weißt du, was hilft? Ich weiß es. Es ist ein Kästchen, eine Art pappkartonfarbige geschossene Kiste, welches du unter deinem Bett schiebst. Du wirst sehen: nach einigen Wochen ist das Problem aufgehoben und sind die Qualen und Schmerzen vorbei.

So gesagt, so überlegt, so getan. "Hilft’s nicht," sagte der Vater, "schaden tut’s auch nicht. Wir probieren ’s mal aus." Ein geheimnisvolles Kistchen kam unters eheliche Bett. Nach vier Wochen in denen die Schmerzen keineswegs minderten, nahm mein Vater das Kistchen, brachte es dem Bekannten zurück. "Erzähl mir bitte keine Märchen. Das Ding ist zu nichts Gute imstande."

Viel später, nach vielen Jahren, habe ich endlich zwei Sachen entdeckt. Erstens die Bedeutung des rätselhaftes Wortes. Jemand erläuterte mir: gemeint wird nicht ein Ohr (zum Hören also) voller Wasser (oder so etwas), sondern eine Wasserader. Ein Wasserstrom, ein Bach, ein Fluss, so etwas. Ader wie Blutader. In diesem Fall mit Wasser gefüllt. Es gäbe tiefe, unterirdische Wasserströme, umgeben von magnetischen Strahlungen welche manchmal an die Erdoberfläche auftauchen und dort ihren Einfluss ausüben. Zum Beispiel in der Form von Beinschmerzen.
Zweitens weiß ich nun auch warum der Schwiegervater, wenn auf dem Hof, irgendwo im Gemüsegarten zum Beispiel, eine neue Wasserpumpe geschlagen werden sollte, immer einen Wechselrutenläufer kommen ließ, der mit einem gebogenen Weidenzweig rund ums Haus lief um zu erfahren wo sich Wasser unter der Erde befindet, und wo nicht.

Doch, es gibt einiges auf der Erde was wir nicht verstehen. Obwohl uns die Bedeutung des Wortes endlich klar ist.


Nachschrift 1: In unserem Dialekt wird das niederländische Wort ader immer gesprochen und geschrieben als oor. (Auf Deutsch klingt das wie ohr).
Nachschrift 2: der Plark, von dem hier oben die Rede war, ist ein fürchterliches, niemals gesehenes, Ungeheuer, das sich im Wasser aufhält um Kinder davon abzuhalten zu nahe am Wasser zu kommen.
Nachschrift 3: Das pappkartonfarbiges Kistchen enthielt laut mehreren Aussagen nur eine Rolle Draht. Sonst nichts als Luft.


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Donnerstag, 10. Mai 2018
Bagatelle 315 - Montagmorgen Vers
Jede Religion braucht ihre Rituale; ohne die kommt man offenbar nicht aus. Ich meine nicht nur die offiziellen kirchlichen Rituale und Sakramente wie die Eucharistie oder die Taufe, entweder Kindes- oder Erwachsene, ich meine auch die weniger oder mehr christlichen häuslichen Gewohn- und Gepflogenheiten. Wie zum Beispiel die Tradition bei uns früher im Elternhaus um bei jeder Mahlzeit, welcher von allen Mitgliedern der Familie beigewohnt wurde, vor und nach dem Essen ein Gebet zu sprechen.

Das nun machte bei uns meistens der Vater. Der sprach ein selbst angefertigtes passendes kurzes (etwa eine halbe Minute dauerndes) Gebet das er schnell, halblaut und ziemlich unverständlich aussprach. Das war überhaupt nicht schlimm, denn wir übrige, Mutter und Geschwister, kannten das Gebet schon. Auch jetzt, nach so vielen Jahren, könnte ich Ihnen Teile meines Vaters Gebet laut aufsagen. Die Worte sind feste in meinem Gedächtnis verankert.

Wenn alle das Essen beendet hatten, satt waren und sogar méin Teller beinahe leer war, wurde gelesen aus dem Buch der Bücher, aus der Bibel. Wir hatten zwei davon: der Vater benutzte ein dünneres Exemplar (nur das Neue Testament) und las eine spannende Kurzgeschichte von Jesus der auf dem Wasser lief. Wenn die Mutter las, nahm sie vorzugsweise den alten, dicken Bibel und las mit ihrer sanften Stimme einen Psalm von David, zum Beispiel den 23. Psalm. Von dem Herrn der mein Hirte ist. (Siehe unten.) Ich schließe die Augen und höre gleichsam ihre Worte. Auch jetzt noch kenne ich den Wortlaut.

Manchmal, an Sonntagabenden nach dem Essen, fragte die Mama mich ob ich denn wohl den Vers für Morgen kannte. Sie meinte den Gesang Vers aus dem kirchlichen Liederbuch. Jede Woche ließ uns der gnädige Herr Dorfschullehrer einen Vers aus dem Liederbuch auswendig lernen. "Etwas auswendig lernen," sagte er munter, "sei nichts verkehrtes. Es schärft das Gedächtnis und hilft auch bei anderen Schularbeiten." Sagte er.

So kam es, dass ich, ein zehnjähriger Knabe aus der vierten Grundschulklasse, dazu dringend aufgefordert vom Lehrer, mit lauter Stimme, und weit weg von jedem Verständnis, monoton aber laut, Ihnen den folgenden Montagmorgen Vers anbiete, das, in einer selbstgemachten Übersetzung, da lautet:


Ruhet meine Seele, dein Gott ist König,
die ganze Welt ist Sein Gebiet;
Alles ändert sich wenn Er’s befiehlt,
aber selber ändert Er sich nicht.

Gesang 179 (Altes Liederbuch)

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Mittwoch, 25. April 2018
Bagatelle 314 - Anholter Bruchbuchen
Früher, ich meine jetzt die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts, fuhr ich gerne mit dem Rad durch den Anholter Bruch. Ein Waldgebiet, das zwar in den Niederlanden liegt und deshalb für uns das "Anholtse Broek" ist, aber noch immer im Besitz des Fürsten zu Salm-Salm, dessen Sitz sich noch immer auf der Wasserburg zu Anholt befindet.

Wie damals ist heute während so einer Radtour immer die Kamera dabei. Vorigen Sommer, nach meiner Umsiedlung vom Bauernhof ins Dorf, machte ich wieder solch eine Tour durch den Anholter Bruch um nachzusehen wie alles sich geändert hat. War das übrigens so? Vergleichen Sie selbst.

Die schwarz/weiß Bilder stammen aus etwa 1965; die Farbbilder aus 2017. Sie sind an genau dergleichen Stelle gemacht worden. Nein, vieles hat sich nicht geändert: alles wunderschön wie immer.








Etwas weiter Richtung Grenze standen früher am Rande große Buchen. Wie Torwächter. Vom weiten sehe ich sie. Einige sind offensichtlich abgeholzt worden; die beiden Großen am sogenannten Schwarzen Bach begrüßen mich auf das herzlichste. Sie erkennen mich sofort wieder. So ist das mit Bäumen (insbesondere Buchen): sie vergessen nicht und nichts.




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Dienstag, 20. März 2018
Bagatelle 313 - Willem weiß wo Retto wohnt
höchste zeit für eine kindergeschichte, finden Sie nicht auch?
eine geschichte zum lesen, oder zum vorlesen
eine geschichte für jeden der das lesen liebt
auch für die allerjüngsten die gerade lesen können
und auch für die stock und steinalten die schwer lesen
für jedermann also.





das hier ist Willem
er sucht seinen freund Retto
Willem und Retto haben sich noch nie gesehen
man schreibt sich lange briefe
wer man ist, wo man wohnt, was man so tut
und was man später mal werden wird
besuch mich mal, schreibt Retto
ich lebe in westfalen
an einem see
in einem wald
in einem westfalener Waldsee



Willem macht sich auf die reise
mit seinem rucksack und seinem angel
sein fernglas ist auch dabei
auf die suche nach dem see
dem westfalener waldsee
gehe ostwärts, sagt Ignaz der Igel
und frag’ nach Makke der Maulwurf
der kennt die gegend
er kennt jedes tier, jeden fisch und jeden vogel
und jeden baum und jede pflanze
Makke weiß auch wohl wo Retto wohnt



Ich bin der Makke
offiziell Macke
Aber keiner sagt das zu mir
ich bin Makke der maulwurf
biologe, forscher, fremdenführer
und berater in sachen natur
mein pelz ist samt und weich
ich grabe gräben
ich schaufele sand zur seite
ich baue maulwurfshügel
manchmal maulwurfsberge
mit meinen breiten händen
ich kann gut riechen
ich kann gut fühlen
ich kann gut hören
ich kann nicht gut sehen
nicht schlimm
unter der erde ist es je immer dunkel

Willem trifft Makke
du bist Makke der fremdenführer sagt Willem
du weißt bescheid
du weißt auch wo Retto wohnt
sicher





Makke führt Willem an den see
den westfalener waldsee
hier irgendwo muß es sein
was steht auf dem schild?
Willem liest: OTTER
Makke sagt: du musst andersrum lesen
nicht von vorne, von hinten
von der anderen seite
die hinterseite
von hinten nach vorne
was steht hier?
Willem liest: RETTO

GEFUNDEN!

Hier also wohnt Retto der Otter
Willems schreibfreund
jetzt auch sein sprechfreund
auf wiedersehen Makke, sagt Willem
danke für deine hilfe
gerne, sagt Makke









Quelle: Wie ben jij? Leselernmethode: De Leessleutel, deel A, thema 3.
Original niederländischer Text: Heidi Smits; Zeichnungen: Erik van Schaaik.
Verlag: Malmberg, ꞌs-Hertogenbosch.

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Samstag, 3. März 2018
Bagatelle 312 - Falsche Töne - Teil II
Wie versprochen folgt jetzt der zweite Teil der Vocalise-Geschichte. Den ersten Teil konnten Sie vorige Woche lesen.


Wenn geredet wird – sei es in der örtlichen Presse, sei es unter Fachleuten - über Vocalise, dieses imposante, weltberühmte Männergesangsquartett, so dringt sich jetzt die Frage auf: wàs wird gesungen und vor allem wíe wird gesungen?

Nun, Vocalise hat ein weites und breites Repertoire. Man singt sowohl Madrigale aus der Bayerischen Renaissance als auch Chorwerke von Robert und Clara Schumann. (Und wenn es überhaupt nicht anders geht und Sie darauf beharren sogar Liebesliedchen von einem gewissen Johannes Brahms.)
Auch das moderne Quartettrepertoire wird nicht gescheut. So sang man neulich in Tübingen sowie in Launen an der Ruhre eine Komposition des ungarischen Minimalisten Sandor Höchstselten. Wobei aufgemerkt werden soll, dass der Bariton Evergrijs in nur 15 von den 385 Takten einen Laut von sich geben konnte. Eine Klage deswegen beim Komponisten wurde abgelehnt, weil alle Klagen laut Protokoll schriftlich und in Vielfalt angemeldet werden müssen.

Um Ihnen einen Eindruck zu vermitteln wie das Quartett singt, fehlt mir jede Superlative. Wundervoll, faszinierend, entzückend, meisterhaft: alles ist wahr und trotzdem ist es nicht genug. Schon wenn das Quartett beim Anfang des Konzertes das Podium betritt, der Herr Freiholz, der Begleiter also, seinen Klaviersessel auf die passende Höhe geschraubt hat, und die Partiturseitenumschlägerin Frau Antje ihren Platz eingenommen hat, steigt aus dem Saal ein gewisses Fluidum empor. Und wann der erste Tenor Kowalski seine herrliche Stimme erhebt, geht ein solches Zittern durch die Reihen das einem gleichsam das Atmen vergeht und dessen Intensität (das Zittern meine ich) während des Konzertes nur noch wächst. Ich sollte lieber nicht versuchen diese Erfahrungen in Worten auszudrücken, denn es ist unbeschreiblich.

Zur Illustration ein Beispiel. Unlängst trat das Quartett – anlässlich der 400 Jahre Erinnerung an die Drohung das Belfort könnte einstürzen - in Leuven (B) auf. Der Saal war proppenvoll. Viele Besucher gerieten während des Konzertes so von ihren Gefühlen und Emotionen überwältigt, dass sie von liebevollen Rote Kreuz Helfern behandelt werden mussten. Es wurde auch erzählt, dass eine Generalswitwe aus der dritten Reihe so in Ekstase geriet, dass sie von einem spontanen Orgasmus befallen wurde. (Letzteres habe ich nur von Hörensagen.) Wenn ich wollte könnte ich zahllose andere Beispiele nennen.

Um mich über den wirklichen Zustand des Quartetts zu erkundigen, hatte ich beim Impresario von Vocalise, der Wiener Taschenfüller Berthold Schikaneder, um ein Interview gebeten. Darauf wurde ich in die Vocalise-Residenz in Luzern eingeladen. Ich werde Ihnen genauestens den Ablauf der Ereignisse schildern.

Sofort beim Eintreten in die geräumige Villa spürte ich eine bedrückte Stimmung. Der Begleiter Freiholz, der sich auch jetzt wieder zu Unrecht als Sprechrohr des Quartetts aufwarf, sagte dass etwas mit der physischen Verfassung des ersten Tenors nicht in Ordnung sei. Weil ich mich in derartigen Sachen auskenne, sagte er, bat er mich mich um die Sache zu kümmern.
Man begleitete mir in ein separates Zimmer wo der Tenor Kowalski sich aufhielt. Der war sichtlich ermuntert als er mich sah. "Boris“," sprach ich, "Würden Sie bitte schön so freundlich sein und ihren Mund öffnen?" Der Kowalski öffnete dann sein berühmtes Sprachorgan von woraus sonst die herrlichsten Klänge hervortraten. Ich legte mein elfenbeinernes Stäbchen - das ich immer bei mir trage – auf seine Zunge und sagte: "Boris, sagen Sie jetzt bitte ein A auf Russisch.". Ich brauchte seine Reaktion nicht einmal abzuwarten, denn schon wusste ich die Ursache. Meine Diagnose kannte keinen Zweifel: der Boris Kowalski hatte endlich nach 43 Jahren seinen Stimmwechsel. Oder wie wir sagen: er hatte jetzt einen Bart in seiner Kehle.

Post Scriptum:

Der Herr Franz Keine-Ahnung, ehemaliger Musikrezenzent bei den Launischen Ruhrnachrichten, hat mich, aufmerksam wie er ist, gebeten zu melden, dass in der Partitur der Toffe Jungens Laudatio (Siehe Teil I) zu Unrecht die Bezeichnung ff (Fortissimo) fehlt.

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Dienstag, 27. Februar 2018
Bagatelle 311 - Falsche Töne, Teil I
Heute der erste Teil, in einer Woche der abschließende und alles erklärende zweite Teil. Ein Bericht aus erster Hand. Auf den ersten Blick ziemlich unwahrscheinlich, aber dennoch bis auf das Letzte passend informativ. Eine Geschichte für klassisch-musikalische Kenner und Liebhaber.


Aus der gesamten West-europäischen Musikwelt hört man sonderbare Berichte über Vocalise. Sie wissen was ich meine: doch, es handelt sich über das weltberühmte Mannergesangsquartett. Bevor ich Ihnen das Wesentliche der ganzen Geschichte – ich war immer dabei und bin vollends auf der Höhe – erzähle, stelle ich Ihnen noch einmal die Mitglieder des Ensembles vor.

• Was denn wäre Vocalise ohne seinen Ersten Tenor Boris Kowalski? Er besitzt eine meisterhafte, stentorartige Stimme, die mühelos auch die entfernsteten Ecken eines Konzertsaales erreicht. Lange bevor der kleine Oskar Mathzerath in der Blechtrommel versuchte mit seiner Stimme die Fensterscheiben zu brechen und die Gläser zu entsorgen, hatte der Boris dies schon längst bewiesen. Aber der Kowalski war und ist ein zu großer Künstler um darauf zu pochen. Boris kann nicht nur laut seine Stimme erheben, sein delikates Pianissimo zum Beispiel in Schuberts Ständchen ist von einer unwirklichen Schönheit. Wir alle kennen den merkwürdigen Sound der italienischen Kastraten. Kowalski übertrifft sie alle. Was seine Stimme an Höhe, Tiefgang, Reinheit und Schönheit beinhaltet, ist von nichts zu übertreffen. Es scheint als sei der Stimmbruch an ihm vorbeigegangen.

• Greg Stein (UK) ist der zweite Tenor. Er stammt aus der englische Sängertradition und hatte seine Ausbildung an der School-of-Simple-Music in Orchestrashare. (An der E-345, bei Lofton gerade aus, dann zwei Mal links und Sie sind wo Sie hin wollten.) Greg singt wie es einem zweiten Tenor passt: er singt immer zu Diensten des Anderen. Zu Diensten des ersten Tenors und mehr noch zu Diensten des ganzen Quartetts. Merkwürdig scheint es uns, dass er seinen leichten Sprachfehler (er lispelt einigermaßen) vergisst beim Singen von englischen Madrigalen und sonstigen Schumann-Liedern.

• Der einzige Niederländer in der Runde ist der Bariton Harmen Evergrijs. Er wurde am Amsterdamer Konservatorium ausgebildet von der früher so berühmten Sopranin Annie Klopstock, welche ihn beschrieb als eine Mischung aus Kaufmann und Fischer-Dieskau. (Was uns überigens sehr übertrieben vorkommt.) Der Evergreis ist der versöhnende Faktor im Quartett. Er gleicht aufkommende und passierende Unbequemlichkeiten zwischen Mitgliedern aus. Durch sein taktvolles Benehmen ist gerade er der Gerufene für alle PR-Aktivitäten. Nebenbei vermerkt: er zweifelt immer noch ob er doch lieber Tenor als vielleicht besser Bass singen soll, aber das ist wohl die Qual aller Baritone.

• Schließlich der Bass Pjotr Levius. Bekannt und berühmt von wegen seiner immens tiefen Stimme. Weil dieser vehement weigerte seine Privacy umsonst her zu geben, begnügen wir uns mit der Mittelung dass er gerne mit alten russischen Volga-autos handelt. Das muss er natürlich selber wissen. Es wird uns nicht weiter stören.

• Als fünftes Rad am Wagen muss William Freiholz genannt werden, der ständige Begleiter der Vocalise-Quartettmänner. Auf seiner Steinway spielt er die meist fantastischen Vor- und Nachspiele. Aber auch seine innere Begleitung kann sich hören lassen. Schade allerdings dass er unseres Erachtens zu viel eine Rolle spielt als Sprecher und Vertreter. Eine Rolle die ihm als Begleiter nicht zusteht.

• Der Vollständigkeit wegen nennen wir auch noch Frau Antje Sorgenfalter. Sie hilft dem Pianisten Freiholz wenn der zuviel zu tun hat beim Begleiten indem sie für ihn die Partitur Seiten wenn es dann so weit ist umschlägt.

So weit, so gut. Zum krönenden Abschluss jetzt noch ein Bild des Pianisten Freiholz (fehlendes Copyright verhindert mir das Abbilden der Quartett Mitglieder). Als Zugabe eine Kopie der Toffe Jungens Laudatio, vom nord-dänischen Komponisten Alex von Fütters, das Vocalise gerne und vielmals singt.





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Sonntag, 28. Januar 2018
Bagatelle 310 - Höhere Mathematik
Neulich, beim Durchstöbern einer meiner Büchersammlungen, hielt ich vors erste Mal nach vielen Jahren wieder einmal ein altes Mathematikbuch in der Hand. Gleich kamen mir die alten Geschichten und Begebenheiten ins Gedächtnis. Was war der Fall?

Um 1975 etwa beschloss ich eine Studie der Psychologie anzufangen. Und zwar an der Uni zu Nimwegen. Man erlaubte mir Eintritt, obschon ich keinen Abschluss mit Abitur besaß, sondern schon ein Studium an einer Pädagogischen Hochschule erfolgreich abgeschlossen hatte. Nur die Fakultät der Sozialen Wissenschaften (Psychologie, Soziologie und Pädagogik) kam in Frage.



"Bedenk, bitte, welche Schwierigkeiten dir auf deinem Studienweg begegnen werden!" sagte man mir. Und zwar so oft und so dringend, dass es man es schon für wahr halten musste. "Weißt du, um nur éine Schwierigkeit zu nennen, dass das Fach Statistik als Form der Höheren Mathematik – innerhalb der Psychologie offenbar unentbehrlich - für viele Studenten ein echter Stolperstein bedeutet?" Das sagte auch ein freundlicher Professor während des ersten Hörkolleg dem ich zusammen mit 220 Studenten – Frau und Mann - beiwohnte. "Für Studenten mit einer unzureichender Mathematikvorbildung gibt es allerdings sogenannte Auffrischkurse" sagte er auch noch. "Das ist etwas für mich!" dachte ich.

"Was hast du überhaupt an Mathematik gelernt während deiner früheren Ausbildung?" fragte mich der Student-Assistent der von dem Mathematikprofessor beauftragt war für zwanzig Studenten einen Auffrischkurs zu organisieren. Munter antwortete ich dass ich ungefähr wusste was ꞌZerlegen in Faktorenꞌ heisse und was eine Gleichung sei. Ebenso munter erwiderte der Kursleiter dann: "Herr Terra, ich gebe Ihnen einen guten Rat: bitte, fangen Sie nicht mit diesem Studium an. Denn das wird nix. Ich bedauere das sehr, und ich teile Ihre Enttäuschung, aber so ist es halt eben."

Diesen Nachmittag, unterwegs nach Hause in meiner treuen Ente (ein Citroën 2CV wie Sie wissen,) überlegte ich was zu tun. "Das wäre doch gelacht," hielt ich mir selber vor, "wie viele Studenten gibt es nicht, die diese mathematischen Anforderungen ohne Schwierigkeit erfüllen? Warum sollte ich nicht einer derjenigen sein?" Das sagte ich auch meiner Frau, als ich zu Hause war. Aber das Unbehagen blieb.



Bitte, fragen Sie mich nicht wie ich in diesem ersten Universitätsjahr die statistischen Mathematikprüfungen bestanden habe. Sehen Sie nur auf die Blut- und Schweißflecken auf dem Teppichboden meines Arbeitszimmer. Aber das Schlussexamen Statistik nach einem Jahr Psychologiestudium bestand ich mit der Note: ꞌgenügendꞌ. Der Student-Assistent zugleich Auffrischkursleiter Mathematik war sehr erstaunt. Er gratulierte jedoch von Herzen.

Später habe ich die Angst vor der mathematischen Psychologie verloren. Im Gegenteil, ich bekam Freude daran. Nicht wegen der Zahlenspielerei oder um die Anwendung mathematischer Formel. Sondern wegen der Möglichkeit menschliches Verhalten kreativ zu analysieren. Denn, wie der Mathematikprofessor in seiner ersten Vorlesung in etwa sagte: es geht in der Psychologie um menschliches Verhalten, um Gefühle und Gedanken, nicht um Mathematik.

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